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Ausgabe:

1919 Nr. 1

Spalte:

139

Autor/Hrsg.:

Rittelmeyer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Das Vaterunser. Zehn Kanzelreden 1919

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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139

Theologifche Literaturzeitung 1919 Nr. 11/12.

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fehler der chriftlichen Sozialiften fei, daß man nur an Veränderung
der fozialen Zuftände, nicht an die Erneuerung
der Menfchen denkt, an die Notwendigkeit einer Veränderung
der Selbftfucht.

Die beiden letzten Kapitel behandeln praktifche Fragen
der fozialiftifchen Weltanfchauung, geben auch wieder
intereffante Äußerungen holländifcher Sozialiften und ver-
fuchen eine Kritik des Sozialismus, die oft treffend, nicht
immer in die Tiefe geht. Die eigenen chriftlichen fozialen
Pofitionen hätten m. E. lebhafter vertreten werden follen,
die Polemik gegen unfoziale Einrichtungen und Gefinnungen
in Staat und in Kirche hätte breiter gefaßt und mit etwas
mehr Pathos und Schärfe vorgetragen werden follen.
Leiden. Hans Windifch.

Rittelmeyer, Pfr. Lic. Dr. Friedrich: Das Vaterunler. Zehn
Kanzelreden. (VI, 128 S.) 8°. München, Chr. Kaifer
1918. M. 2.65; geb. M. 4.10

Es will fcheinen, als habe R. in diefen Predigten
einen Höhepunkt erreicht, von dem er nun nicht mehr
hinunter gehen darf. Alle Vorzüge feiner Weife find hier
auf dem Gipfel, manche frühere Schwäche ift überwunden
. Wie angefichts des Textes nicht anders zu erwarten
ift, klingts in diefen Zeugniffen ganz tief aus dem
Innerften der Seele voll und rein herauf; es muß jeder
Hörer empfunden haben und jeder Lefer empfinden, was
diefem Prediger Gott und Chriftus und die ewige Welt
der Kraft und des Friedens bedeuten. Nach feiner alten
Weife, mit der er famt Geyer die Predigtarbeit vieler |
beeinflußt hat, läßt er von feinem reichen Wiffen und
dem ihm vertrauten Gebiet der Kultur vieles in diefe
Zeugniffe inneren Lebens einftrömen; fo werden die Predigten
intereffanter als bloße Gedankenausführungen.
Aber es find nicht nur mehr Zitate, fondern umfaffen-
dere Ausführungen apologetifcher Natur, auf den großen
Kreis der Gebildeten berechnet, die R. zu feinen Hörern
und Lefern zählen darf. Wiederum fehlt es auch nicht
an ganz praktifchen Anweifungen aus dem Alltagsleben
(Verhalten am Fernfprecher und in der Bahn), mit denen
er zeigt, wie die Höhe des Ideals nicht nur zum Preifen
da ift. Vor allem aber fällt auf, wie er ftärker als fonft,
den Aufbau der Predigt durch Anlehnung ihrer Teile an
bedeutfame Worte, Bilder oder Geftalten markiert.

So vermag er, wenn er auch oft mehr Reflexionen
über die Worte der Bitten als Anweifungen zum Beten
gibt, feine anfchaulich eindrucksvollen Gedanken fo feft
an das Gebet des Herrn zu ketten, daß fie dem Beter
ftets wieder einfallen müffen.

Heidelberg. F. Niebergall.

Rolffs, Paft. Lic. Kruft: Das kirchliche Leben der evan-
gelifchen Kirchen in Niedarlachfen. In Verbindg. m.
Superint. D. Johs. Belle, Paft. Karl Büttner, Paft.
Herrn. Heidkämper, OberKR. Heinr. Iben, Gen.-
Superint. D. Herrn. Müller dargeftellt. Mit e. Karte
über den Stand der kirchl. Sitte in Hannover, Braun-
fchweig, Bremen, Oldenburg u. Schaumburg-Lippe.
(Ev. Kirchenkde. 6. Tl.) (XXII, 650 S.) gr. 8°. Tübingen
, J. C. B. Mohr 1917. M. 11.50; M. 13 —
Der neuefte Band der von P. Drews begründeten,
von M. Schian weiter herausgegebenen deutfchen Evan-
gelifchen Kirchenkunde ftellt eine hoch erfreuliche Leiftung
dar. Man braucht den Band nur mit feinem Vorläufer,
der die thüringifchen Landeskirchen behandelnden trefflichen
Arbeit Paul Glaues, zu vergleichen, um mit Genugtuung
feftftellen zu können, daß die kirchenkundliche
Forfchung ihre Aufgabe immer klarer erfaßt und die
Methode zur wiffenfchaftlichen Löfung diefer Aufgabe
immer gefchickter handhaben lernt. Die beiden Bände
find zu einem Vergleich deshalb befonders geeignet, weil
fie beide nicht bloß eine einzelne Landeskirche, fondern

einen Komplex von folchen zu bearbeiten haben. Dabei
find die Abweichungen der im letzten Band angewandten
Methode von der des vorhergehenden wohl zunächft durch
die Verfchiedenheit der zu beobachtenden Objekte be-
ftimmt: der Begriff Niederfachfen bedeutet gerade auch
in kirchlicher Beziehung etwas ganz andersartiges als
Thüringen, fowohl was den Umfang des Gebiets wie was
die ethnographifche und gefchichtliche Sonderart feiner
einzelnen Teile anlangt. Aber was fo zunächft durch
Anpaffung des Forfchers an das veränderte Objekt veranlaßt
ift: die felbftändig in fich gefchloffene Behandlung
der verfchiedenen auf dem Boden Niederfachfens vorhandenen
Landeskirchen, das bedeutet nach meinem Empfinden
einen Fortfchritt der Methode felbft. Die Landeskirchen
find nicht bloß die gegebenen Organisationen
des kirchlichen Lebens und als folche kirchenkundlich
von der größten Wichtigkeit; im einzelnen landeskirchlichen
Rechtsorganismus bringen fich auch ganz be-
ftimmte Tendenzen kirchlicher Entwicklung zur Geltung.
Man verfteht, was Glaue feinerzeit veranlaßt hat, von der
felbftändigen Behandlung der einzelnen thüringifchen Landeskirchen
abzufehen: die einzelnen Gebiete erfchienen dafür
zu klein, und der Überblick über das Ganze fchien fo
ungebührlich erfchwert zu werden. Aber felbft bei diefen
Staatsfplittern wird das kirchliche Leben nur im Zufam-
menhang mit ihrer nun einmal vorhandenen ftaatlichen
Sonderexiftenz wirklich verftändlich, und der Überblick
über das Ganze tritt bei dem defkriptiven Charakter der
Disziplin Kirchenkunde gegenüber der möglichft exakten
Erfaffung und Darfteilung der gegebenen Einzelobjekte
zunächft entfchieden in den Hintergrund. Wie wenig
die das Ganze überfchauende Bewältigung des Stoffes
bei folchem Verfahren Not zu leiden braucht, dafür liefert
das von Rolffs bearbeitete 10. Kapitel (Das religiöfe und
fittliche Leben in Niederfachfen) den vollgültigen Beweis.
Diefe das Werk krönende Überfchau am Schluß gleicht
auch die von R. felbft befürchteten Mängel des bei voll-
ftändiger Behandlung der einzelnen Landeskirchen unvermeidlichen
Verfahrens, die einzelnen landeskirchlichen Gebiete
von verfchiedenen Verfaffern bearbeiten zu laffen und
fie je nach Größe und Eigenart der betr. Landeskirchen
verfchieden zu geftalten, völlig aus. Ich glaube, daß fo-
gar der Tendenz auf Einheit der Bearbeitung noch zu
fehr nachgegeben worden ift; das kirchliche Vereinswefen
und das Verhältnis der Kirche zu Staat und Schule wären
entfchieden auch beffer bei der Darftellung der einzelnen
Landeskirchen miterledigt worden. Auch wäre es zu begrüßen
gewefen, wenn Braunfchweig in ähnlicher Ausführlichkeit
behandelt worden wäre wie Oldenburg und
Bremen — trotz der gefchichtlichen Zufammenhänge
mit den übrigen welfifchen Gebieten. Es ift der Vorzug
folch kleiner landeskirchlicher Verhältniffe, daß bei ihrer
Darftellung mit breitem Pinfel gemalt werden kann, nicht
in gleichem Maße wie bei größeren fchematifiert werden
muß — daß unfere kirchenkundliche Forfchung zunächft
einmal der Einzelheiten ihres Beobachtungsftofles recht
gründlich habhaft werden muß, habe ich ja vorhin fchon
als wünfchenswert erklärt. Hoffentlich geftatten ausreichend
bemeffene Zufchüffe der kirchlichen Behörden bzw.
Synoden, daß die künftigen Bände der Kirchenkunde
diefem Bedürfnis nach forgfältiger Erfaffung des einzelnen
entfprechen können, ohne daß der Preis deshalb
zu hoch getrieben zu werden braucht. Erfreulich ift, daß
der vorliegende Band den Grundfatz, dem Einzelobjekt
gerecht zu werden, auch in der weitgehend felbftändigen
Behandlung der die einzelnen Landeskirchen zufammen-
fetzenden Teilgebiete zur Geltung bringt. Sehr anzuerkennen
ift es auch, daß in fo reichem und umfichtigem
Maß mit ftatiftifchem Material gearbeitet worden ift; namentlich
Rolffs felbft hat in der Beziehung Mufterhaftes
geleiftet Das vorhin fchon erwähnte Schlußkapitel: Das