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Ausgabe:

1919 Nr. 1

Spalte:

234

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Religion unserer Erzieher 1919

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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233

Theologifche Literaturzeitung 1919 Nr. 19/20.

234

und als in ihrer Art mufterhaft bezeichnet werden
dürfen. Freilich das Ideal eines kurzgefaßten Quellenbuchs
, das in energifcher Auswahl nur die für die Einführung
in die großen Syfteme und deren Verftändnis
erforderlichen Stellen von eminenter Bedeutung mit verbindendem
Text enthielte, ift nirgends erftrebt. Es find
mit Abficht charakteriftifche Proben aus den Werken der
Denker geboten, die ein Bild ihrer Denkart und Schriftweife
geben und eine erfte Vorftellung ihrer Lehren vermitteln
. Sie wenden fich an weitefte Kreife und wollen
irgendwie populär fein. Diefe Abficht hat augenfcheinlich
auch der Herausgeber der vorliegenden Anthologie gehabt
, nur daß er in diefer populären Tendenz noch weiter
geht. Er hat überdies den Rahmen der Auswahl viel
weiter gefpannt als es fonft üblich ift; wir finden auch
Rouffeau, Condillac, Holbach u. a. vertreten. Abgefehen
von Baco, der eine Auswahl kaum zuläßt, find Abfchnitte
aus den Werken aller Klaffiker gewählt, wir lefen Stellen
aus Hobbes, Locke, Berkeley, Hume ebenfowohl als aus
Descartes, Spinoza, Leibniz und Kant; während Sendling
feltfamer Weife fehlt, lefen wir Auszüge aus Fichte,
Hegel und Herbart; daß auch Lotze, felbft Comte und
Mill vertreten find, ift anzuerkennen. Es ift kein Wunder,
daß der reichlich bedachte Schopenhauer und daßNietzfche
den Reigen befchließen. Ift es doch der jüngft ver-
ftorbene Deuffen, auf den wohl auch die Auswahl und
Anlage des Ganzen zurückgeht, der eine formell glänzende
Einleitung dazu gefchrieben hat, die leider nur etwas recht
knapp ausgefallen ift. Man muß freilich Deuffens Standpunkt
kennen, um ihm auch hier gerecht zu werden.
Immerhin wird man felbft dann feine falfche Beurteilung
Berkeleys, feine Mißdeutung Kants und der Nachfolger
Kants mit Ausfchluß Schopenhauers, in den freilich auch
zu viel hineingelegt wird, u. a. mit Bedauern lefen und
zurückweifen müffen. Auch die Auswahl felbft wird man
nicht überall billigen können.

Von Hobbes ift das i. Kapitel de cive gewählt. Das mag angehen
; weshalb aber nicht einfach, die verbefierte Überfetzung von Frifch-
eifen-Köhler benutzt ift, erfcheint unerfindlich. So fehr ich anerkenne,
daß der aus Descartes gewählte Abfchnitt über die Prinzipien der menfeh-
lichen Erkenntnis die Summe der Methode kurz angibt, fo hätte doch
eine Auswahl aus den Meditationen den Ruf größerer Frifche und Lebhaftigkeit
gehabt. Aus der Ethik Spinozas lefen wir in der Überfetzung
von Stern (Reclam) den ganzen erden Abfchnitt de deo mit Ausnahme
des Anhangs, aber im übrigen alles unverkürzt. Wie aber Spinoza1 behandelt
werden muß, hat richtig Liebert in feinem vorzüglichen Brevier
gezeigt. Locke ift durch das am wenigften bedeutfame Kapitel feines
Ed'ay, die Polemik gegen die angeborenen Ideen, recht unglücklich vertreten
. Gegen die Auswahl aus Berkeley und Hume wäre an fich nichts
einzuwenden, doch wäre es ficher bei Hume richtiger gewefen, in dem
Gebotenen zu kürzen und dafür auch aus dem fünften Abfchnitt etwas
zu bringen. So fehlt bei ihm grade die Hauptfache. Aus Leibniz lefen
wir aus den kleineren philofophifchen Schriften in der Überfetzung von
Habs (Reclam) das Neue Syftem und die Monadologie. Von Kant ift
außer der transcendentalen Äfthetik (was aus verfchiedenen Gründen zu
beanftanden ift) je ein Abfchnitt aus der Metaphyfik der Sitten und der
Kritik der praktifchen Vernunft geboten, außerdem aus der Kritik der
Urteilskraft die ganze Analytik des Schönen und nur fie. Von Fichte
lefen wir etwas über die Beftimmung des Menfchen, von Hegel die erfte
Hälfte (Abfchnitt I und 2) der Einleitung der Vorlefungen über die
Philofophie der Gefchichte und fonft nichts. Von Comte bringt die
Anthologie das erfte Kapitel des Cours de philosophie positive und
zwar in einer Verkürzung des Textes, die auf die Auswahl von Rig
zurückgeht. Daß Mill durch einen Abfchnitt über das Nützlichkeitsprinzip
vertreten ift, fcheint billigenswert, doch ift bei Deffoir-Menzer
der betreffende Abfatz glücklicher gewählt. Anerkennen wird man,
daß aus Lotzes Mikrokosmus der Abfchnitt über den Zufammenhang
von Leib und Seele herausgenommen ift; gegen die aus Rouffeau und
Herbart gewählten pädagogifchen Abfchnitte ift als folche nichts einzuwenden
, nur gehören fie nicht in eine philofophifche Anthologie.
Schopenhauer und Nietzfche find durch mehrere umfangreiche Abfchnitte
aus verfchiedenen Schriften verhältnismäßig reichlich vertreten,
zufammen 125 Seiten, davon Schopenhauer allein 100, während für alle
anderen (17 an der Zahl) nur 426 Seiten zur Verfügung flehen.

Zufammenfaffend kann man alfo fagen, die Ausdehnung
auf die erwähnten Philofophen ift an fich zu
loben, die Auswahl ift mindeftens nicht immer fehr ge-
fchickt, die philologifche Methode angreifbar. Anmerkungen
und nähere Angaben über Quellen ufw., auch

Regifter, fehlen ganz. Das Werk ift alfo nur fehr bedingter
Weife zu empfehlen.

Bremen. Bruno Jordan.

Herrmann, Geh. Konfift.-R. Prof. D. W.: Die Religion
unlerer Erzieher. (47 S.) 8°. Leipzig, Quelle & Meyer
1918. M. 1.20

Plerrman gibt in einem Schriftchen, das ein verleib -
ftändigter Sonderdruck der Schlußabhandlung aus dem
Werke ,Unfere religiöfen Erzieher' zu fein fcheint, den
knappen Abriß feiner Religionsphilofophie und Glaubenslehre
. Religion ift der Konflikt zwifchen unferem Streben
nach wahrhaft perfönlichem Lebensgehalt und unferer
Einficht in unfere Sünde und Schwäche. Der Konflikt
entfteht mit Notwendigkeit aus der Wahrhaftigkeit gegen
uns felbft und wird gelöft durch das Zutrauen zu einer
die Sünden vergebenden und das Vertrauen ftärkenden
abfoluten Macht der Gerechtigkeit und Güte, die uns in
eigenen Erfahrungen oder in fremdem Zufpruch begegnet
und rein durch inneres Wunder fich uns glaubhaft macht,
daher nur erlebt nicht bewiefen werden kann. Religion
gibt es daher überhaupt nur auf der Grundlage des
ethifchen Monotheismus der Propheten und wird vollendet
durch den Zufpruch Chrifti, der mehr als irgend
etwas anderes uns Gottes oder jener Macht abfoluter Güte
und Gerechtigkeit gewiß macht. Die außerchriftlich-
jüdifche Religion ift daher Kultus, aber keine Religion.
Die chriftliche Religion ihrerfeits einigt die Gläubigen
nicht im Kultus, fondern im gegenfeitigen Vertrauen und
Darfteilen der religiöfen Bekehrungserfahrung, weshalb
die großen Bekehrungsperfönlichkeiten Paulus, Auguftin,
Luther auch die ftärkften Erzieher diefer Gemeinfchaft
find. Es find die bekannten Gedanken, eine Art Überfetzung
der pietiftifchen Bekehrungslehre ins Allgemein-
Menfchliche und Undogmatifche, ohne ihren exklufiv-
chriftlichen und ftreng fupranaturalen Charakter aufzuheben
. Ein Schlußkapitel feiert den gegenwärtigen Krieg
als Erzieher.

Berlin. Troeltfch.

Michel, Ernft: Der Weg zum Mythos. Zur Wiedergeburt
der Kunft aus dem Geifte der Religion. (138 S.) 8°.
Jena, E. Diederichs 1919. M. 4.50; geb. M. 6 —

Die Darftellung in dem vorliegenden Buch leidet von
vornherein darunter, daß der Verfaffer mit einem höchft
verfchwommenen Begriff von Mythos operiert und fich
über das Verhältnis von Mythos und Myfterium wenig
klar ift. Daher kommt es zuweilen zu recht anfechtbaren
Anflehten über religiöfe Erfcheinungen, die namentlich
bei der Beurteilung Luthers und des Proteftantismus zu
tage treten. So meint er, ,der Proteftantismus habe das
Myfterium der katholifchen Kirche, die geheimnisvolle
Opferhandlung, verworfen, habe aber kein neues Myfterium
aus fich zu gebären vermocht, fei doch die treibende
religiöfe Kraft, aus der er hervorging und die zum Myfterium
hätte führen können, der Glaube Luthers, gar
nicht die wirkliche Grundlage der proteftantifchen Kirche
geworden'. Ihn befchäftigt die Frage: ,Können wir das
Myfterium retten?' und er fucht eine Antwort darauf in
den geiftig-fchöpferifchen Kräften unferes Kulturlebens.
Namentlich erfcheint ihm Goethe als die Vollendung des
Typus Menfch, da ,in ihm und feinem Wirken fich der
Mythos zum menfehlichen Myfterium ausgeftaltete'. Freilich
fchuf fchon Jefus die Grundlage für folche Überhöhung
und Entbindung der menfehlichen Perfönlichkeif
ift doch in ihm ,zum erften Male der Mythos Menfch
geworden'. Der religiöfe Mythos bildet fonft die Lebens-
fphäre, aus der auch die Kunft immer von neuem wiedergeboren
werden muß. Wenn ihm in Beethoven ,der
Mythos des geiftigen Menfchen' verkörpert erfcheint:
,der Mythos der Logos-Inkarnation, der Mythos des zum
geiftigen Selbft erhöhten Ich-Menfchen, des Gott-Men-
fchen, deffen Erfcheinung wir in Chriftus fehen', fo könnte
man dagegen nicht viel einwenden. Daß er aber die