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Ausgabe:

1918

Spalte:

106-107

Autor/Hrsg.:

Finke, Heinrich

Titel/Untertitel:

Weltimperialismus und nationale Regungen im späteren Mittelalter. Rede 1918

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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Theologifche Literaturzeitung 1918 Nr. 8/9.

106

fetzung des um 400 verfaßten Werkes tkqI <piacojg äv&Qomov. ' kirche von St. Riquier, gibt er eine vorzügliche neue

Die minder vollftändige und auf einer ziemlich fehlechten Gabe mit bedeutfamften, in der Hauptfache m. E. ab-

Handfchrift beruhende von Holzinger ift durch dtefc amiquiert. fchueßenden Ereebniffen. Sie find zweierlei Art, fpezieller

Den ganzen Nemesius hat Alfanus freilich nicht uberfetzt, 7 K-apitel genereller Art

Die erfteren betreffen den Angilbertbau als folchen.

Für ihn führt E. den Nachweis, daß i) die Kirche in ihrem örtlichen,
dem Richarius geweihten Teile eine dreifchiffige, ausgefprochen kreuzfehlen
in allen Codices, auch an der Reihenfolge hat er geändert.
Sein Hauptwert liegt in dem Material, das er zur Konftitution
bzw. Sicherung des Urtextes liefert; in der Regel ift aus dem
lateinifchen Wortlaut der feiner griechifchen Vorlage fleher zu

erkennen. Für den Theologen und Hiltoriker kommt hinzu, daß j förmige Anlage war (mit Querhaus, Langchor, Glockenturm über der
eine Geftalt aus dem hohen italifchen Klerus der Zeit Gregors VII Vierung und zwei feitwärts zwifchen Vorchor und Querflügeln angein
diefem philoiophifch Mark intereffierten und eine ziemlich ordneten Treppentürmen); 2) der dem Salvator geweihte Wertteil als
feine Kultur der Form zeigenden Bifchof von Salerno vor uns ( Weftwerk geftaltet war (mit Untergefchoß-.Krypta', durch Emporen
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lebendig wird, — nicht bloß in dem charakteriltifchen Prolog
die das Bild des 11. Jahrhunderts willkommen bereichert.
Marburg. Ad. Ju 1 icher.

Effmann, Wilh.: Centula St. Riquier. Eine Unterfuchg.
zur Gefchichte der kirchl. Baukunft in der Karolingerzeit
. (Forlchungen und Funde. Hrsg. v. Frz. Joffes.
Bd. II, Heft 5-) (VII, 175 S.) gr. 8». Münfter i. W.,
Afchendorff. M. 6 —

In dem alten Centula (auch Centulum) bei Ab-
beville in der Picardie erbaute der hl. Richarius, nach
dem der Ort den Namen St. Riquier erhielt, auf dem
elterlichen Gute ein Klofter, in dem er 645 ftarb und
begraben wurde. Sein fechfter Nachfolger, Karls d. Gr.
vertrauter Freund und Schwiegerfohn, der auch als Dichter
(.Homerus') bekannte Angilbert, ließ unmittelbar nach
feinem Eintritt in die Abtswürde, die er von 790 bis zu
feinem Tode 814 bekleidete, die alten Kloftergebäude
niederlegen, um fie mit den großen ihm zu Gebote flehenden
Mitteln und mit der umfaffendften Unterffützung
feines kaiferlichen Herrn und Schwiegervaters neu und
fo ftolz wie möglich wieder aufzubauen. An Stelle der
alten, von Richarius erbauten und der Maria gewidmeten
Kirche erftand unter fteter perfönlicher Teilnahme des
Kaifers, der die erfahrenften Künftler in Holz, Stein, Glas
und Marmor zur Verfügung Hellte, Säulen und Marmor
aus Rom in großen Mengen heranfehaffen und allenthalben
Gefandte nach Reliquien für die Kirche fuchen ließ, ein
Doppelbau, der bereits nach nur 8—gjähriger Bauzeit
vollendet war und 799 in feinem Oftteil dem hl. Richarius
, in feinem Weltteil dem hl. Salvator geweiht wurde.
Zwei kleinere gefonderte Kirchlein, die, der hl. Maria und
dem hl. Benedikt geweiht, im Zuge des Kreuzgangportikus
füdlich der Hauptkirche angeordnet waren, wurden
gleichfalls 799 in gottesdienftlichen Gebrauch genommen,
während die drei den Erzengeln Michael, Gabriel und
Raphael geweiten Oratorien über den Toreingängen des
im Wellen der Hauptkirche vorgelegten Paradiefes (Atriums
) im nächften Jahre folgten. ,Die glänzendfte und her-
vorragendfte Kirche ihrer Zeit' — fulgentissima ecclesia om-
nibusque illius temporis ecclesiis praestantissima — rühmt
fie der Chronifl, Hariulf, gegen Ende des 11. Jahrhunderts.

Von diefer Kirche Angilberts ift nichts mehr erhalten. Sie wurde
im 16. und 17. Jahrhundert durch einen noch flehenden Neubau fpät-
gotifchen Stiles erfetzt. Was wir von ihr haben, find einzig die fchrift-
lichen Nachrichten, beftehend in erfter Linie in einem von Angilbert
felbft niedergefchriebenen doppelt überlieferten Bericht, dem fog. Libel-
lus Angilberti, fodann in Mitteilungen, die in Chroniken und in einer
Lebensbeschreibung des Angilbert enthalten find, und eine mit dem
Pinfel gemalte, durclvjzwei Kupferftiche vom J. 1612 bew. 1673 auf uns
gekommene Zeichnung der Kirche nebft anliegendem Kreuzgang aus der
1088 abgefchloffenen Chronik des Hariulf, mit der fle 1719 verbrannt ift.

Die alte Richariuskirche — der Name des zweiten Titelheiligen
trat allmählich gänzlich zurück, wie fich auch der Ortsname Centula
(bzw. — um) vor dem Stifter des Klofters verlor — für die
Kunftgefchichte wieder entdeckt zu haben ift das Verdienft Hugo Grafs
(Opus Francigenurn, 1878, S. 103 fr.). Sie in ihrer urfprünglichen Geftalt,
unbefchadet mancher wohl wiflenswerten, aber nicht feftftcllbaren und
für das Ganze weniger wefentlichen Einzelheiten, rekonftruiert und der
Wiffenfchaft wiedergefchenkt zu haben, ift das bleibende Verdienft der
hier leider mit Starker Verfpätung zur Anzeige kommenden Studie. Ift der
Bau, den fle fo erfolgreich in Wort und Bild wieder erflehen läßt, ein
Eckftein in der Gefchichte des Kirchenbaus, fo ift Effmann's Arbeit
ein Eckftein in der Literatur von derfelben.

Effmann hat fich bereits durch fein Werk über die
karolingifch-ottonifchen Bauten zu Werden (I, 1899) als
ausgezeichneter Kirchbauhiftoriker einen Namen gemacht.
Hier, in der Monographie über die karolingifche Klofter-

an drei Seiten bereichertem Obergcfchoß [Kapelle, Oratorium], Glockenturm
[wie im Oden] nebft zwei Treppentürmen zu Seiten einer Eingangshalle
; 3) die Krypta erft im II. Jh. hinter dem Oftchor angebaut,
nicht ihm untergebaut wurde bzw. war; 4) das Atrium (Paradies) als
organischer Bestandteil der Kirche im Wetten vorgelegt war mit den drei
feinem, wahrscheinlich doppelgefchofflgen, Mauerzuge einverleibten Erzengelkapellen
über den Toreingängen. Mag manches unentfehieden
bleiben, wie die Frage, ob das Vierungsquadrat auch fchon in den Seitenflügeln
des Querfchifles fleh wiederholte oder ob, wie E. annehmen
mochte (S. 60), die Kreuzflügel noch nicht fo ftark vor die Seitenfchiffe
vortraten, u. f. f., die allgemein anerkannte Aufstellung Grafs, daß die
Kirche als älteftes bekanntes und ficheres Beifpiel einer doppelchörigen
Anlage im Abendlande anzuflehen fei, ift jedenfalls reftlos widerlegt; fie
hatte vielmehr weder Weftchor noch auch Westquerfchiff, fondern ein
dreigefchoffiges Weftwerk.

An Ergebniffen allgemeinerer Art hebe ich folgendes
hervor — Effmann felbft ftellt alles, was hier zu fagen
ift, in dem Abfchnitt ,Ergebniffe' (133—172) aufs belle
zufammen. Erflens: in der Kontroverfe über die Ent-
llehungszeit und das Entftehungsgebiet der kreuzförmigen
Bafilika entfeheidet Centula für Weftfranken (Hugo Graf)
gegen Oftfranken (Dehio). Zweitens: für die Ableitung
der Geftaltung des Grundriffes der Bafilika in der Form
des lateinifchen Kreuzes aus dem Orient (Strzygowski;
Roccella di Squillace), desgl. für die etwaige Annahme
einer orientalifchen Vorlage für die Bildung des Wellwerktypus
fehlt jeglicher Anhalt. ,In den beiden Punkten,
die hier im Vordergrunde geftanden haben', d. h. bezüglich
der Geftaltung der kreuzförmigenBafilika und des Weftwerk -
baus, ,erfcheint das Abendland jedenfalls nicht als ausgeschaltet
' (172). Drittens: ,Auch für die Turmgruppierung
, die in Centula durch die Zufammenfaffung von zwei
Haupttürmen mit je zwei Nebentürmen fchon zur vollen
Entwicklung gebracht ift, fehlt es ganz an Vorbildern,
ihre Gegenftücke findet fie erft in der Blütezeit der ro-
manifchen Kunft' (172).

Ich wüßte nicht, was an der ausgezeichneten, über-
fichtlichft aufgebauten, frifch und klar, dabei ohne jede
kunfthiftorifche Phrafe geschriebenen Studie auszufetzen
wäre, wenn nicht vielleicht ein Namen- und Sachregister
vermißt werden könnte. Die beigegebenen Zeichnungen
, Grundriffe, Schnitte und Abbildungen find gleich
vorzüglich und ordnen fich vortrefflich dem Ganzen ein.

S. 151 A. 4 1. Kiippelbafilika ft. Kreuzluippclbafllika; S. 172 Z.
3 ift das Wort ,Kunft' hinter abendländifche einzufügen.

Berlin. G. Stuhlfauth.

Finke, Geh. Hofrat Prof. Dr. H.: Weltimperialismus und
nationale Regungen im Ipäteren Mittelalter. Rede, geh.
bei der Jahresfeier der Freiburger Wifl. Gefellfchaft am
28. Okt. 1916. (Freiburger Wiff. Gefellfch., Heft 4.)
(64 S.) gr. 8°. Freiburg i. B., Speyer & Kaerner
1916. M. 1.50

Der Weltkrieg hat erneut und Stärker als je die Auf-
merkfamkeit auf die Gedanken von Weltherrfchaft und
Weltkaifertum und ihre Verwirklichung in früheren Zeiten
gelenkt. Für das abendländifche Mittelalter gibt
Finke in Form eines Vortrags einen mit reichen Belegen
aus Quellen und Literatur ausgestatteten lehrreichen und
anziehenden Überblick. (Merkwürdigerweife ift auf das
byzantinifche Kaifertum gar nicht Bezug genommen.)
Mit befonderem Nachdruck wird zwifchen Theorie und
Wirklichkeit unterschieden; aus reicher Kenntnis der eigentlich
erft neuerdings recht erfchloffenen, zum Teil auch
noch ungedruckten Streitliteratur und der rechtlichen
Gutachten des Mittelalters wird mancher neue charakte-

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