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Ausgabe:

1918

Spalte:

39

Autor/Hrsg.:

Eucken, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die geistigen Forderungen der Gegenwart 1918

Rezensent:

Jordan, Bruno

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39

Theoiogifche Literaturzeitung 1918 Nr. 2/3,

40

Fichte nur von Kant her zu begreifen und von der Grundlage
der kantifchen Philofophie aus zu prüfen ift, bevor
eine transeunte Kritik feiner Lehre verfucht werden kann.
Ift es z. B. richtig zu fagen, Fichte unternehme eine trans-
cendentale Erkenntnis trotz Kant, oder liegt Fichtes Syftem
nicht vielmehr in einer Fortfetzung der Linie, die von
der Kr. d. r. V. zur Kr. d. U. führt? Dann aber ift
feiner Metaphyfik mit rein logifchen und erkenntnistheo-
retifchen Maßftäben nicht beizukommen. Kerler hat diefe
Frage garnicht berührt. Es ift auch kaum richtig, daß
Fichte überall rein Phänomenales ins Metaphyfifche umdeutet
. So gewiß der Transcendentalismus von feinen
ethifch-religiöfen Wurzeln losgelöft zu prüfen ift, fo darf
doch während der Kritik nicht überfehen werden, daß
überall Ethifch-Religiöfes oder Metaphyfifches als fundamentale
Elemente in die erkenntnistheoretifchen Deduktionen
eingegangen find und darin immer aufs Neue wirk-
fam werden. Man darf alfo diefe ,Wurzelelemente' nicht
ebenfo kritifieren wie die Ableitungen des Transcendentalismus
felber.

Trotz diefer methodifchen Bedenken halte ich das
gedankenreiche Buch Kerlers für eine erfreuliche Bereicherung
der Fichteliteratur und hoffe, daß es Ausgangspunkt
fruchtbarer Diskuffionen und Forfchungen werde.
Bremen. B. Jordan.

Euoken, Rudolf: Die geiftigen Forderungen der Gegenwart.(Relchl's
deut. Schriften. 1. Heft.) (36 S.) 8». Berlin, O. Reichl 1917.

M. 1 —

Als erlies Heft in Reichls Deutfchen Schriften hat Rudolf
Eucken eine programmatifche Abhandlung über die geiftigen
Forderungen der Gegenwart veröffentlicht, in der der begeifternde
Prophet einer neuen Lebensanfchauung, deffen unermüdliche
Schaffenskraft wir ebenfo bewundern müden wie feinen wachfen-
den Idealismus, es unternimmt, die Bedeutung des Weltkriegs für
unfer feelifches Leben und untere geiftige Arbeit zu analyüeren.
Die Grundforderungen Euckens lind bekannt und im Begriff,
Allgemeingut weiterer Kreife zu werden; es erübrigt fich, auf fle
einzugehen. Bedeutfam erfcheint mir aber, daß drei Gedanken
Euckens immer Itärker in feinen jüngften Darlegungen hervortreten
, die berufen find, feine Grundlehren vertiefend fortzubilden.
Statt des alten Dualismus von Natur und Geilt wird mehr und
mehr die ungleich tiefere Spannung im Geiftesleben felber betont,
die Teleologie in weitem Umfange in das Seelifche eingeführt; es
wird ftärker ,die Forderung einer fchärferen Scheidung der Stufen
und Werte' erhoben. Damit im Zufammenhang fteht die erhöhte
Bedeutung der Perfönlichkeit, des feltenen Menfchen, des orga-
nifchen Aufbaus auch im Geiftesleben. In der Perfönlichkeit
will Eucken ,die Stätte aller Uroffenbarung geiftigen Lebens' ehren.
,Das Auffuchen, Anerkennen, Aneignen der geiftigen Forderung,
welche die weltgerchichtliche Lage an die Gegenwart bringt, ift
die dringendste aller Forderungen'. Die Aktivität der Perfönlichkeit
gewinnt gegenüber dem kosmifchen Alleben des Geiftes erhöhten
Wert. Hieraus wiederum ergibt lieh als drittes die stärkere
Hervorkehrung des Kraft- und Spannuhgscharakters. Das Aufbieten
feelifcher Kräfte wird mehr im Nationalen und Sittlichen
fundiert, die geforderten Energien wurzeln mehr in den Wirklichkeiten
der Kultur und des politifchen, fittlichen Dafeins. Kurz,
Werthöhe, Perfönlichkeitstiefe, Wirklichkeitskräfte treten mehr
und mehr in den Vordergrund. Es ift bewundernswert, wie diefe
tief lebendige Philofophie wächst und wirkt.
Bremen. B. J ordan.

Solovjeff, Wladimir: Die Rechtfertigung des Guten. Eine
Moralphilofophie. Aus dem Ruff. v. Harry Köhler.
(Ausgewählte Werke, 2. Bd.) (LH, 523 S.) 8°. Jena,
E. Diederichs 1916. M. 12 —; geb. M. 14 —

Vor zwei Jahren (40. Jahrgang, 1915 Nr. 16/17) babe
ich den erften Band diefer deutfchen Überfetzung der
Werke Solovjews (unzweifelhaft ift diefe Tranfkription
beffer, als die von Harry Köhler gewählte: eff ift im
Franzöfifchen und Englifchen nicht zu vermeiden, um die
richtige Ausfprache zu erzielen, ew entfpricht dem Ruffi-
fchen direkter und fichert uns im Deutfchen vollkommen
die entfprechende Ausfprache!) eingehend beleuchtet. Ich
fagte damals, es fei ein .glücklicher Grift' der Diederichs'fchen

Buchhandlung, diefen edelen Ruffen und fein feines, vielfach
anregendes Denken bei uns dadurch bekannt zu
machen, daß feine Hauptarbeiten in guter Überfetzung
uns vorgeführt werden. H. Köhler bietet durchaus les-.
bare, in der deutfchen Form kaum als Überfetzung empfundene
Texte von S. Es wird mir geftattet fein, hier
auf das, was ich a. a. O. zur allgemeinen Charakteriftik
S.'s gefagt habe, zu verweifen. Das neue Buch beftätigt,
was ich damals fagte, wenn man es aus einem gewiffen Ab -
ftande betrachtet und in feinem Totaleindruck würdigt.
Es kommt einem dann zum Bewußtfein, zunächft wie
wenig ,abendländifch' diefe Ethik ift trotz Berufungen
auf und Benutzungen von abendländifchen Werken, alsdann
, daß fie infonderheit ruffich gedacht bzw. empfunden
ift. S. ift ein bewußter treuer Sohn feiner Kirche, voll
Ehrerbietung gegen ihre Traditionen, aber er ift das
in großer innerer Freiheit. Man mag fagen, daß er fich
feine Kirche, ihre Dogmen, ihre kultifchen Formen (er
zitiert manchmal kirchliche Gebete und Gefänge, exemplifiziert
auf kirchliche Bräuche etc.) idealifiere, aber das
Bemerkenswerte ift, daß er ihnen doch eigentlich, foweit
ich urteilen kann, keinen fremden Sinn unterlegt. Er
kennt feine Kirche nicht wirklich als .Hiftoriker', aber er
findet in ihrem Gefichte geiftige Züge, die wirklich auch
darin find. Zur Beurteilung eines .Glaubens', eines Kults
gehört nicht nur, was die Maffe daran hat und was die
unmittelbare, empirifche Bedeutung desfelben ift, fondern
; auch, was fich daraus machen läßt, was hohe, bedeutende
Geifter daran .ahnen' lernen. In Rußland ift zweifellos
feit etwa zwei Generationen eine Zeit angebrochen, wo
die .Geifter wach werden'. S. gehört als eine Perfönlichkeit
von Eigentypus mit zum Bilde des erwachenden
Rußlands (er ftarb 1906 mit 47 Jahren). Er ift Philofoph,
oder nennt fich fo, beurteilt fich felbft fo, in Deutfchland
wäre er wohl Theolog gewefen. Denn im Grunde ift er
Philofoph des Chriftentums, und das nicht als einer, der
von außen darüber reflektiert, fondern der mit feinem
Herzen zu ihm fteht und ihm von innen her feine Gedanken
, feine Lebenskräfte, feine .ewige Bedeutung" ab-
laufcht. So ficher und fcharf er analyfiert, fein Denken
ift doch wefentlich intuitiv. Sehr belefen, fchöpft er
überall Anregungen zu einer Gefamtfch au der Dinge.
Ganz anders, viel reifer, klarer inhaltlich als dasjenige
Tolftois, ift S.'s Denken demjenigen diefes feines großen
Landmanns doch in der Art nahe, es ift garnicht ,fchul-
mäßig', eigentlich nicht herleitend, fondern nur behauptend,
auf den entfeheidenden Punkten, ja wie Poll ich fagen?
feherifch! Freilich darum nicht etwa im Tone profeten-
haft oder gar pathetifch. Der Ton ift lebhaft, warm,
Überzeugung atmend, aber doch der der wiffenfehaftlichen
j Abhandlung. In der Anzeige des 1. Bandes berührte ich,
daß A. Zilleffen, der 1908 bereits eine Schrift S.'s zu
befprechen hatte, einen ,antik-hellenifch-orientalifchen'
Zug in feiner Schriftftellerei empfunden und fich an Clemens
von Alexandrien erinnert gefunden habe. In der Tat, S.
übt das .Erkennen' wie diefer, nur nicht fo fprunghaft
und ungleichmäßig im einzelnen. Ähnlich breit, auf .alles'
achtend, oft wahllos von Kleinem auf Großes und umgekehrt
übergehend, ift er fefter von Grundideen geleitet.
Aber dann muß man doch eben betonen, daß es .Ideen'
im Unterfchiede von .Begriffen' find die er vorbringt. Auch
S. ift Gnoftiker, fo wie Clemens die (ity&jjq yvmdiq fich
vorftellte. Sein Denken bewegt fich in geiftigen Formen,
die wie Gefichte des Ideals fich darftellen. Es find
dichterifche Bilder des .Guten', die er in dem Buche bietet,
das ich befprechen foll.

Leben und Todl Das find die beiden Pole, zwifchen
denen S. feinen geiftigen Blick hin und her führt. Er will
zeigen, was Leben ift, wirkliches, echtes, unzerftörbares,
ewig lebenswertes Leben. Und was Tod ,ift'l Das ift echte
orientalifch-kirchliche.S t i m m u n g. Die Natur ift der Tod.
Nämlich wenn man fich felbft in fie bannt, wie das Tier in fie
gebannt ift. Das Tier, das S. doch fo fympathifch anfleht (die