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Ausgabe:

1918

Spalte:

37-39

Autor/Hrsg.:

Kerler, Dietr. Heinr.

Titel/Untertitel:

Die Fichte-Schelling‘sche Wissenschaftslehre 1918

Rezensent:

Jordan, Bruno

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Kurilen (VI, 44 0- — Daß Streckers Leiftung trotz diefer
Ausftände ihren Wert befitzt, fei zum Schluß noch einmal
ausdrücklich betont. Und vor allem wollen wir ihm
auch dankbar fein, für die Entfchiedenheit, mit der er überall
den utopiftifchen Charakter der Fichte'fchen Ideen herausarbeitet
und ihnen gegenüber hinweift auf das gute
Recht von Volkstum und Gefchichte.
. Bonn. Mi rieh.

Kerler, Dr. Dietr. Hein».: Die Fichte-Schelling'Iche Wilfen-

lehaitslehre. Erläuterung U. Kritik. (XX, 602 S.) gr. g«
Ulm, H. Kerler 1917. M. 20 —

Die vorliegende umfangreiche Erläuterung und Kritik
der Wiffenfchaftslehre Fichtes (und Sendlings) will in
erfter Linie eine Kritik der transcendentalen Erkenntnis
fein, die Fichte in feinem Syftem begründet zu haben
glaubte, unter bewußter Fortlaffung der religiöfen oder
überhaupt emotionalen Erlebniffe, die etwa die logifche
Begründung, als ihren .Reflex' erzeugen und als ihr Fundament
tragen. In der Tat ift eine formale Kritik nur fo
niöglich, daß man Fichtes Behauptung, er befitze ein
transcendentales Wiffen über Gott und die Welt von ab~
lbluter Evidenz, aus dem Ich entfpringe die gefamte Fülle
des Weltinhaltes, als ein logifch begründetes und zufammen-
hängendes Syftem, als eine Verkettung von Deduktionen
barftellt und unterfucht. Der Verfaffer ift fich auch völlig
klar darüber, daß fein Werk keine Interpretation der
Genefis des Fichtefchen Syftems, auch keine Begründung
und erfchöpfende Darftellung feiner Lehre im ftreng hiftori-
fchen Sinn bedeutet, er will lediglich eine kritifche Aus-
tinanderfetzung mit den Grundlehren Fichtes (und Sendlings
, foweit er die Wiffenfchaftslehre vertritt) bieten. In
Wirklichkeit freilich leiftet naturgemäß die Kritik außerordentlich
Bedeutfames und Wertvolles auch für die Vertiefung
des hiftorifchen Verftändniffes; fie kann ftrecken-
weife. als ein hiftorifch kritifcher Kommentar zur Wiffen-
ichaftslehre betrachtet werden.

Kerler prüft zunächft Fichtes und Schellings Ver-
fuche, einen Weg zum Abfoluten zu gewinnen und zdgt,
daß das Bedingte zwar auf ein Unbedingtes führt, aber
das Unbedingte damit weder ein Bedingendes noch gar
ein Unendliches, ebenfowenig ein Abfolutes fei. Die
Gleichfetzung von Abfolutem und Ich folge aus der zu
Unrecht erfolgten Identifizierung von Ding und Objekt
und fei deshalb nicht haltbar. Ein Abfolutes als freies,
objektlofes, abfolutes Ich kann nicht aufgewiefen werden.
Das Dritte zu Bedingung und Bedingten braucht keineswegs
eine Tätigkeit zu fein. Richtet fich die Kritik bislang
hauptfächlich gegen Schelling, fo wendet fich der
Verfaffer nunmehr befonders gegen Fichte. Sein Ver-
fuch, vom ethifchen Erlebnis her das Abfolute zu gewinnen
, wird kurz geftreift, ebenfo, an diefer Stelle, fein
Ausgang vom Evidenzerlebnis im Wiffen. Eine fcharfe
Zurückweifung erfährt fodann Fichtes Verfuch, durch
Brenge Scheidung von Wahrnehmen und Erkennen fein
Ziel zu erreichen. Während Fichte in der gefamten Beweisführung
lediglich von mathematifchen Objekten und
Sachverhalten ausgeht und handelt, behauptet er impli-
cite ein fraglofes Wiffen von metaphyfifchen Objekten
mit. In ähnlicher Weife unterfucht Kerler dann das Abfolute
felber. Er fucht vor allem zu erweifen, daß das
Abfolute, felbft wenn es Ichheit wäre, keineswegs Identität
von Objektiven und Subjektiven fein kann. Aber
auch als für Fichte das Abfolute nicht mehr Ichheit,
fpndern auf dem Wege zur Beftimmungslofigkeit ift, kann
er es nicht .prädikatlos' denken, ja je fpäter defto mehr
Prädikate fchleichen fich wieder ein. Iiiergegen richtet
Kerler eine herbe, nicht völlig von Gereiztheit freie Kritik
(S. 48!). Auch der Fichtefche Begriff vom Wiffen
erfährt eine fcharfe Interpretation. Auch hier ift der
Grundfehler Fichtes, das logifch deduzierte ,Wiffen' ins
Metaphyfifche transponiert zu haben. Auf der Grundlage
diefer Kritik wird dann insbefondere Fichtes An-

fpruch, auf transcendentalem Wege ein Wiffen vom Da-
fein des Abfoluten erlangt zu haben, einer eingehenden
Prüfung unterzogen. Gott ift ein reiner Begriff, der der
ideellen Sphäre angehört, wie die Fichtefche Deduktion
zeigt, und fein ,Dafein' ift daher keineswegs erwiefen.
Dazu kommt, daß Fichte den Erfahrungsbegriff unverändert
in die Metaphyfik mithinüber nimmt. Mithin bleibt
er auch dort an diefelben Gefetze und Beftimmungen gebunden
, alfo vor allem an die Vorausfetzung pfychifcher
Daten. In der Frage nach dem Sinn des Lebens zeigt
fich nach Kerler am deutlichften das Grundgebrechen
der Fichtefchen Philofophie: der Mangel an Schärfe in
der Begriffsbildung. Seinsweite und Geiftige Werte,
Sollen und Sein werden unterfchiedslos miteinander verquickt
. Befonders autfällig ift die überragende Betonung
des Eudämonismus, die mangelnde Anerkennung und
der daneben wirkfame Rigorismus des Hingabewerts.
Im folgenden geht Kerler in eingehender Kritik die einzelnen
Werke Fichtes und Schellings zur Wiffenfchaftslehre
durch. Er zeigt z. B., daß aus der Evidenz nur
Phänomenologifches, nicht Metaphyfifch.es folge. Er
weift die Unmöglichkeit der Spaltung einer Einheit in
Teile nach. Im Transcendenten ift nur reale, nicht ideale
Sichl<onftruktion, alfo nicht Ichheit nachgewiefen. Das
Abfolute ift nur inneres Wefen ohne Freiheit. Die Gleichheit
von Poftuliertem und Poftulierendem ift keineswegs
eine Identität von Wiffendem und Gewußtem, von realer
und idealer Sichkonftruktion (S. 186). Vor allem bemüht
fich Kerler, die Unmöglichkeit einer Fichtefchen Etffchei-
nungslehre darzutun. Ein dritter Teil unterfucht dann
eingehend den erkenntnistheoretifchen Monismus des
Syftems. Hier ift es insbefondere die Aquivokation des
Ausdrucks .Setzen' einmal im Sinne des Setzens einer
Realität, dann einer Phänomenalität, was der ganzen
! Wiffenfchaftslehre von 1794, die hier zugrunde liegt, den
Boden entzieht. Die Theorie vom Nichtich ift ohne Heranziehung
einer Außenwelt undenkbar. Es gelingt Pichte
nicht, das Nichtich als phänomenale Gegebenheit auf-
zuweifen. Ein .objektlofes' Vorftellen ift unmöglich, ebenfowenig
ein Nichtich im Sinne des Objekts, des Außendinges
als eigenes Produkt des Ichs. Überall fucht Fichte
! Irreales, Phänomenales, Ideen, Wirklichkeitsfremdes als
: reell, wirklich, metaphyfifch umzudeuten. Er macht ein
gedachtes, notwendiges Objekt, ein Gedankending zu
einem Ding an fich, zu einer notwendigen Urfache. In
j ähnlicher Weife unterfucht Kerler dann die fpäteren Darftellungen
der Wiffenfchaftslehre und fchließt mit einer
| Kritik von Schellings Syftem des transcendentalen Idealismus
.

Die fcharffinnige Kritik Kerlers, die ich hier nur in
I Einzelheiten andeutete, ift charakterifiert durch zwei Mo-
' mente. Sie erfolgt einmal vom Standpunkt der formalen
Logik. Man wird fich im allgemeinen diefer immanenten
Kritik, die fich bemüht, logifche Gebrechen aller Art in
Fichtes Syftem aufzudecken, anfchließen können, wenngleich
auch hier Kerler die formellen Gefichtspunkte faft
ftets einer Kritik der prinzipiellen Grundlagen des Syftems
unterordnet. Ein anderes aber ift die transeunte Kritik,
j die etwa vom Standpunkte Mainongs (und z. T. Hufferls)
! aus erfolgt. Hier hätte man ftatt der zerfplitternden
Einzelkritik, fo fördernd fie an fich ift, lieber zufammen-
faffende, grundlegende Erörterungen der wefentlichen
Differenzpunkte gefehen. So durchfichtig die einzelnen
Punkte der Kritik find, fo fchmerzlich vermißt man eine
grundfätzliche Auseinanderfetzung mit dem Kern und
Prinzip der Fichtefchen Lehre. Vielleicht daß diefe kri-
tifchen Materialien das PTindament abgeben, auf dem
der Verfaffer feine prinzipiellen Überzeugungen iu prä-
zifer Grundlegung erörtert. Auf eine Kritik im einzelnen
! einzugehen ift unmöglich. Gegen das Ganze habe ich
folgende Bedenken. E ine Kritik vom Standpunkt des
modernen Phänomenalismus aus legt an Fichte einen fal-
1 fchen, weil viel zu engen Maßftab. Dazu kommt, daß