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Ausgabe:

1918

Spalte:

18

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Burdach, Konrad

Titel/Untertitel:

Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künstlerische Bildung 1918

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Seite 1

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18

Subjektivismus nicht mehr, den doch keine Wiffenfchaft
zu beheben weiß und der in der Praxis felbftverftändlich
ift. Will man eine wiffenlchaftliche Ethik, fo fei man an
eine entwicklungsgefchichtliche Soziologie reftlos gewiefen,
die alles kaufal erklärt.

Es ift klar, daß bei alledem das entfcheidende Dogma
die alles erklärende, kaufale Seinswiffenfchaft ift, neben
der tür die Gefetzgebung durch fchöpf'erifche rreiheit
kein Raum zu gewinnen ift. Das was der Verf. an ihrer
Stelle übrig gelaffen hat, ift zwar mehr als die reinen
Soziologen und Entwickelungstheoretiker im allgemeinen
übrig laffen, die nur die bewußte Ergreifung der ohnedies
kaufal notwendigen Entwicklungstendenz anzuerkennen
pflegen. Man kennt das aus den Verhandlungen
des Marxismus über das Naturgefetz der Entwickelung
und den revolutionären Willen zur Durchfetzung der
Entwickelung. Der Verfaffer will der Eigentümlichkeit
und Selbftändigkeit der ethifchen Welt wirklich gerecht
werden und erreicht das durch Abfperrung gegen die
erklärende Seinsbetrachtung und Einfperrung in die ihren
momentanen Zuftand beziehungslos bejahende Subjektivität
, die eben deshalb kein Mittel hat zur Feftftellung
irgend eines vergleichenden und beziehenden Maßftabes.
Das wäre nur möglich, wenn diefer Subjektivität ein meta- j
phyfifcher Zufammenhang gegeben würde, aus dem fie
ftammt, und wenn diefer Zufammenhang dann feinerfeits
auf den objektivierenden Seinszufanimenhang metaphyfich j
bezogen wäre, alfo wenn der Gedanke in das religiös-
metaphyfifche Gebiet verfolgt würde. Der Verf. wagt das
aber nur in fehr dunklen Wendungen: ,Diefes ethifche Wag-
nis ift wie jedes Wagnis nur möglich in dem unbeftimmten j
aber dennoch überwiegenden Vertrauen, daß das Unbekannte
und Vorausfetzbare fich dem Bekannten und
Beabfichtigten anpaffen werde'. Eine für diefen
grundfätzlichen Naturalismus fehr charakteriftifche, fchüch-
terne Bemerkung, für die der Verf. fich auf Schleiermachers
Abhängigkeitsgefühl beruft. Die feelifche Welt
des religiöfen Ethos und befonders des chriftlichen ift
ihm denn auch in der Tat fo gut wie unbekannt Das
ift ihm eine V. elt der Wirrfale, die die Soziologie erft
noch aufklären muß.

Das Ganze ift in feinen wiffenfchaftlichen Voraus-
fetzungen ziemlich fchwankend und fchillernd, halb dog-
matifch-abfolutiftifch, halb pragmatifch-evolutioniftifch.
Der Begriff der Soziologie felbft bleibt ziemlich ungeklärt
und ift mit entwicklungsgefchichtlicher Erklärung des
Geiftes identifch, obwohl dann wieder viele Bedenken
dagegen geltend gemacht werden. Der Begriff des
Ethifchen wird zerfchlagen in die kaufal-objektive und
die kaufalitätslos-fubjektive Seite. In alledem ift das Ganze
recht bezeichnend für die Verwirrung, in die der alles
erklärende ,Evolutionismus'hineinführt, und charakteriftifch
für die überwiegende Maffe modernen Denkens über Ethik.
Es ift die Selbftauflöfung aller Ethik, reich an kritifchem
Geift, aber arm an Vertrauen zu der produktiven Kraft
des Geiftes. Überdies ift das Buch fehr charakteriftifch
für den Unterfchied diefer ganzen wefentlich biologiftifch-
relativiftifchen Philofophie gegen den Grundcharakter
der deutfchen Philofophie, den gerade in den hier in-
tereffierenden Punkten ein Auffatz des Schweizers Häber-
lin über ,die deutfche Philofophie' (Preuß. Jahrbl.
Bd. 169, Heft 11, Auguft 1917) treffend fchildert.

Berlin. Troeltfch.

Bildungsziele.

Von den vier vorliegenden Schriften über Bildungsund
Erziehungsziele1 ift die von Baumgarten die um-

1 Baumgarten, Otto: Erziehungsaufgaben des Neuen Deutfch-
land. (IV, 213 S.) 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1917. M. 3 — ; geb.
M. 4.50

faffendfte, da fie alle Seiten der Volkserziehung und
nicht bloß das Sonderproblem des Bildungsideals der
höheren Knabenfchulen umfaßt. Ich beginne deshalb mit
Baumgarten, Helle aber die Punkte, die fich mit dem Problem
der drei anderen Schriften berühren, vorläufig zurück.

Baumgarten gibt akademifche Vorlefungen aus dem
Winterfemefter 16/17 wieder; er behandelt nach der .Einführung
' in 14 weiteren Vorlefungen die Erziehung zum
bevölkerungsftarken, wehrkräftigen (auch Frauendienft-
pflicht), gefchlechtlich gefunden, wirtfehaftlich ftarken
und intellektuell ftarken Volk (Problem der Einheitsfchule,
ftarken Höchftbildung, ftarken Elementarbildung), weiter
zu einem einmütigen, zum Staats- und Weltvolk, zum
Familienvolk (Frauenfrage), zum Willensvolk, Gemütsvolk,
zum Phantafie- und Kunftvolk und endlich zum meta-
phyfifch (nicht bloß religiös) ftarken Volk. So läuft alfo
nach der breiten körperlichen und wirtfehaftlichen Grundlegung
am Ende die .Erziehuug des neuen Deutfchland
zurück in die Bahnen des alten deutfchen und chriftlichen
Idealismus, der allein der tieffte Halt feiner realen Macht
bleiben wird'.

Durch dreierlei ift dies Erziehungsprogramm in feiner
Ausführung gekennzeichnet. Zuerft und zumeift durch
einen entfchloffenen, herben Realismus. Der zeigt fich
nicht nur in der breiten Grundlegung der körperlichen,
wirtfehaftlichen und technifchen Erziehung, fondern auch
immer wieder in der Einzelausfuhrung. So rechnet Baumgarten
bei der gefchiechtlichten Erziehung in unver-
fchleierter Aufrichtigkeit mit der Macht, ja mit der durch-
fchnittlichen Allmacht des Triebes: fo gewiß er daher
gefchlechtliche Erziehung wünfeht (auch verftändige Aufklärung
) durch Haus und Schule, fo gewiß fordert er
auch nüchterne gefetzliche und polizeiliche Maßregeln des
Staates, der nicht nach der fittlichen Schuld fragen, fondern
die Verhütung ihrer volksfeindlichen Felgen erftre-
ben foll. So Großes er von der erziehlichen Wirkung
eines edlen Frauenurteils erwartet, fo follen doch ,die zukünftigen
Mütter unferer Kreife fich mit der Einficht durchdringen
, daß das Ideal einer unbefleckten Jugend im
Durchfchnitt oben wie unten nicht verwirklicht werden
kann'. Baumgartens Grundfatz lautet: ,Es muß hier die
fittliche Idealität einen Bund eingehen mit der gewiffen-
hafteften Erwägung des durch'fclinittlich Möglichen und
relativ Günftigften'. Diefer felbe Realismus fuhrt Baumgarten
zur Ablehnung der an fich idealen Einheitsfchule;
dazu würden dem Staat jetzt die Mittel fehlen, und vor
allem: die unentbehrliche Höchftbildung der Führenden
würde unter diefer Hebung der Maffe leiden. Darum
wird auch die akademifche Bildung der Volksfchullehrer
abgelehnt. So verftehen wir auch feine hohe Schätzung
der beruflichen Fachbildung, deren Beginn nicht zu weit
hinausgefchoben werden darf. ,So muß überhaupt in allem
Bildungswefen der utiliftifche fich mit dem idealiftifchen
Gefichtspunkt innig verbinden'.

Als gefunder Realismus darf auch der zweite kennzeichnende
Zug der Baumgarten'fchen Volkserziehung gewertet
werden, die immer wiederkehrende Unterfchei-
dung zwifchen der Maffe und den Einzelnen, den
Führen und den Geführten. Wenn der langjährige Freund
und jetzige Präfident des evangelifch-fozialen Kongreffes
diefe Unterfcheidung immer wieder macht, fo nötigt ihn
dazu nichts als fein ftarker Wirklichkeitsfinn. Wir beobachteten
ihn auf dem Gebiet der intellektuellen und

Burdach, Geh. Reg.-R. Prot. Dr.: Deutfche Renaiflance. Betrachtungen
über uufere künft. Bildg. (102 S.) 8°. Beilin, E. S. Mittler
Sc Sohn 1917. M 1.50

Spranger, Prof. Dr. Eduard: Das humaniftifche und das poli-
tifche Bildungsideal im heutigen Deutfchland. (36 S.) 8". Berlin, E. S.
Mittler & Sohn 1917. M. — 50

Troeltfch, Ernft: Humanismus und Nationalismus in unferm
Bildungswefen. Vortrag, geh. in der Verfammlg. der Vereinigg. der
Freunde des humanift. Gymnafiums in Berlin u. der Prov. Brandenburg
am 28. Novbr. 1916. (42 S.) 8". Berlin, Weidmann 1917. M. 1 —