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Ausgabe:

1918 Nr. 1

Spalte:

15-17

Autor/Hrsg.:

Cohn, Georg

Titel/Untertitel:

Ethik und Soziologie 1918

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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15 Theologifche Literaturzeitung 1918 Nr. 1. 16

tismus' bekannt geworden ift. Kurz wird Lebensweife
und Werdegang der Mrs Eddy gefchildert, darnach die
Lehre derfelben nach ihrem Hauptwerke: ,Science and
health', und die Gründung der neuen Gemeinfchaft und
die Gründe ihres Wachstumes, endlich von S. 27—31
eine Bewertung gegeben, die kein abfchließendes theolo-
gifches Urteil fein aber bedeutfame Gefichtspunkte hervorkehren
will. — Zu einem vollen Verftändniffe der Bewegung
würde erforderlich fein, das Nachwirken des
Wunder- und Heil-Glaubens im amerikanifchen Sektenleben
einerfeits, dann die mannigfaltigen Formen der
Lehre von der Macht des Geiftigen über das Körperliche,
wie fie fich teils in hochfpekulativer, idealiftifcher, ,neu-
hegelifcher', teils in ganz populärer, naiver aber eindringlicher
Geftalt im amerikanifchen Geiftesleben finden, auf-
zufpüren. Die ganze, zunächft fo befremdliche Erfchei-
nung verliert dann viel von ihrem Befremdlichen und
rückt ein in eine ganze Reihe ähnlicher Richtungen, Vor-
ftellungen und Praktiken, denen fie nur der überlegenere
und glücklichere Konkurrent war. Dazu war der Rahmen
der Arbeit wohl zu enge. Trefflich und richtig ift der
Abweis der plumpen Angriffe Mark Twain's. Daß Science
and health das Werk diefer Frau ift, einer Frau mäßiger
konfufer Bildung, fehr mangelhafter Logik, noch mangelhafterer
Theorie, und ,Philofophie' leidet gar keinen
Zweifel. Und ebenfowenig, daß hier allgemeinere Motive
ihrer Umwelt mit ungewöhnlicher Kraft des Erlebens
und Weiterwirkens zufammengefaßt, originell geftaltet
und zu ftarken geiftigen Kräften gefteigert find. Und
keineswegs zu Kräften bloßer Suggeftion. Holl hätte den
Gedanken vielleicht noch ftärker betonen können, daß
es denn doch zum Wefensbeftande des Chriftentumes
felber gehört, an den Glauben zu glauben, d. h. zu glauben
, daß das religiöfe Grundfaktum, wenn es wirklich
befeffen wird, ,Charismen' realer Überwindung von Welt
ünd Übel verleiht, die mehr find als eine bloße duldende
,Umwertung'. Auch feine Verteidigung hinfichtlich des
Vorwurfes des ,Pantheismus' (S. 28) trifft das Richtige.
Diefe Vorwürfe hängen immer ab von der allgemeinen, ganz
falfchen Verwechfelung von Pantheismus und Theo-pan-
ismus, und von der mangelnden Einficht, daß der letztere
im fchärfften Gegenfatze fteht zum erfteren und
den Theismus überfteigert. Myftik ift nicht pantheiftifch,
fondern theopaniftifch. Und fo auch diefe Eddy-Lehre,
die im Grunde eine ftarke Myftik birgt, wenn auch in
Karrikatur und in der Form von fehr unmyftifchem
,bufiness'.

Marburg. R. Otto.

Cohn, Georg: Ethik und Soziologie. (IX, 316 S.) gr. 8°.

Leipzig, J. A. Barth 1916. M. 10 —

Das vorliegende Buch ift von der Univerfität Kopenhagen
, und das heißt wohl unter dem Einfluß Höffdings,
mit der goldenen Medaille preisgekrönt. Es arbeitet
dementfprechend auch wefentlich mit englifcher und
franzöfifcher Philofophie und zieht von der deutfchen nur
die ftark evolutioniftifch gefärbten Lehren von Wundt und
Simmel heran. Der alles erklärende, auf die Soziologie
angewendete und dabei freilich mannigfach modifizierte
Darwinismus ift feine fefte wiffenfchaftliche Vorausfetzung,
oder beffer gefagt eine naturaliftifch-kaufale Entwicklungstheorie
, die für alle ethifchen Phänomene zunächft keine
andere Aufgabe kennt als die der entwicklungsgefchicht-
lichen Erklärung und mit dem größten Teil der franzö-
fifchen foziologifch-evolutioniftifciien Schule jene zunächft
wefentlich als antiegoiftifcheErfcheinungen aus den Wandlungen
der Gefellfchaft erklärt. Da ift dann die Frage
felbftverftändlich, ob neben einer derartig kaufal erklärten
Ethik die übliche praktifche Betrachtung des Ethifchen
als gültigen und allgemeinen Wertes zur bloßen Illufion
herabfinkt oder ob ihm ein felbftändiger Sinn verbleibt.
Die Antwort wird durch eine Kritik der bisherigen
Theorien unterbaut, die auf der einen Seite von Sokrates

bis Kant die Vertreter einer allgemeingiltigen Freiheits-
gefetzgebung und auf der anderen von den Sophiften
bis Marx und Simmel die Vertreter einer bloßen natur-
gefetzlichen d. h. evolutioniftifchen foziologifchen Erklärung
prüft. Die einen konftruieren eine Freiheits-Ge-
fetzgefetzgebung, die anderen eine Erklärung aus Seinsge-
fetzen. Der eigentliche Gegenfatz ift der Begriff der
Freiheit und der Natur, der Schöpfung des Neuen und
der Herleitung aus Gewesenem. Die erftere Theorie verwirft
der Verfaffer rundweg, da die gefuchte Allgemein-
giltigkeit nicht befteht und der vorausgefetzte Begiff einer
aus dem kaufalen Zufammenhang heraus auftauchenden
und in ihn wieder eingreifenden fchöpferifchen Freiheit
unwiffenfchaftlich ift. Die zweiten Theorien find grundfätz-
lich auf dem richtigen Wege, wenn auch die Erweifung
einer wirklich aufgewiefenen Naturgefetzlichkeit hier noch
in vielen Widerfprüchen flecken bleibt und überhaupt
in weitem Felde liegt, daher oft der bloßen Befchreibung
weichen muß! Jedenfalls wäre in diefem Sinne die
Ethik lediglich ein Stück der die Wandlungen der menfch-
lichen Gefellfchaften erklärenden Soziologie. Allein damit
erfcheint dem Verfaffer die Sache nicht zu Ende,
oder wenigftens nur für die ihrem Wefen nach alles
objektivierende und kaufal erklärende Wiffenfchaft zu
Ende. Aber es gibt Dinge, auf die die Wiffenfchaft keine
Anwendung findet und die doch exiftieren: Das ift die
innere Seite des Lebens, die Selbftempfindnng des fub-
jektiven Lebens, in der es feine momentanen Werte nicht
erklärt, fondern ifoliert unbeziehungslos hat, ebendarum
als unbedingt, abfolut, die Perfönlichkeit befriedigend betrachtet
wie z. B. die erotifche Empfindung oder die
künftlerifche Konzeption. Im Falle der Objektivierung
wird alles das erklärbar, bei feiner Subjektivierung aber
befteht kein Intereffe an der Erklärbarkeit, fondern an
der konkreten und momentanen Macht über das Gemüt,
die aber um diefer Gleichgiltigkeit gegen alle Erklärung
willen als Freiheit und als Neues oder Schöpfung betrachtet
wird. .Innerhalb der fubjektiven Seite des Däferns
gibt es die Kategorien von Urfache und Wirkung
gar nicht. Der Wille, die Werte, die Intereffen wie das
Bewußtfein überhaupt erfchaffen fich felbft und vernichten
fich felbft d. h. fie entliehen und vergehen gleichzeitig
damit, daß fie gefühlt und fich felbft bewußt werden.'
S. 308. Wie nun freilich beide Betrachtungsweifen fich
vertragen follen, erfährt man hier fo wenig wie in der
ähnlichen Theorie von Münfterberg, die der Verf. nicht
zu kennen fcheint. Hat man hier zwei real verfchiedene
Wirklichkeitsfeiten, die aber beziehungs- und berührungslos
find, oder ift die fubjektive Seite lediglich eine Folge
der Unkenntnis der Motive, die zu praktifch fehr wichtigen,
aber doch illufionären fubjektiven Zufätzen zum Wirklichen
führt? Der Verfaffer fagt nur: ,Diefe Unkenntnis ist in-
deffen keineswegs etwas Unwefentliches, wie Spinoza
annimmt' S. 306. Was heißt hier keineswegs unwefent-
lich'? Ift es metaphyfifch oder nur praktifch pfycho-
logifch gemeint? Man hat im Ganzen den Eindruck des
erfteren; dann aber ift die gegenfeitige Unberührbarkeit
und Beziehungslofigkeit beider Sphären nicht zu behaupten,
wie fie denn auch der Erfahrung nicht entfpricht. Der
Verf. gibt keine Entfcheidung. Erzieht nur die Folgerung
aus diefer Auffaffung des Ethilchen. Es ift eine jedesmal
individuelle Infpiration, ein jedesmaliges Rifiko der
Entfcheidung bei Unkenntnis der Folgen und Vertrauen
zu der momentanen Wertempfindung, ein radikaler
ethifcher Subjektivismus, der keine Prinzipien und Gruncl-
fätze, fondern nur momentane Wertfetzungen kennt
und keinen Maßftab für die Löfung moraliicher Konflikte
befitzt. Für das praktifche Leben genüge das, da
auch in Wahrheit niemand mehr befitzt und mehr weiß.
Eine Wiffenfchaft von den fittlichen Werten und Maß-
ftäben als Freiheitsgefetzgebung gebe es aber deshalb
nicht, und wenn man nach einer folchen fich das Bedürfnis
abgewöhnt habe, erfchrecke auch der radikale praktifche