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Ausgabe:

1918 Nr. 1

Spalte:

259-260

Autor/Hrsg.:

Vinet, Alexandre

Titel/Untertitel:

Études sur la literrature française au XIXe siècle. Tome XII: Lamartine et Victor Hugo 1918

Rezensent:

Lobstein, Paul

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259

Theologifche Literaturzeitung 1918 Nr. 19/20.

260

gerade wiffenfchaftlich nicht faßbares praktifches Poftulat.
Demgegenüber ift für Hegel die Philofophie die Frage
nach der ftreng einheitlichen und darum deduktiven Er-
faffung der letzten Einheit und Allheit des Seins, aus der fo-
wohl die logifchen Kategorien als auch das Gegebene des
irrationalen Lebens felbft wiffenfchaftlich hergeleitet werden
müffen. In dem Begriff diefes Seins felber fetzt er den
Kantifchen Gedanken der allein im Denken zu gewinnenden
Realität fort, macht aber darum das Abfolute felbft
zum Denken, das logifch notwendig fowohl die bloß gegebene
Realität als die fie durchleuchtenden Begriffe
aus fich hervortreibt. Der Widerfpruch und die Antinomien
werden eben darum in die logifche Notwendigkeit
diefes abfoluten Denkens felbft aufgenommen. Statt
wie bei Kant am Rand liegen zu bleiben, werden die
Antinomien und die Dialektik der Kern der Logik, die
aus dem Denken das Sein, die Bewegung und die Rea-
lifation des teleologifchenWirklichkeitsgehaltes eben gerade
dadurch hervorbringt.

Von diefem Punkte aus werden die einzelnen Gegen-
fätze entwickelt. Bei Kant abftrakte Reflexionsphilofophie
der logifchen Begrün lungund Reinigung unterer Begriffe, bei
Hegel Philofophie der konkreten und abfoluten Logik, die
aus dem Begriff die Ganzheit des Konkreten als logifch
notwendig und logifch bewegt hervorbringt. Bei Kant fub-
jektiver Idealismus, der alles vom Denken des menfchlich-
endlichen Subjekts aus erfaßt; bei Hegel objektiver Idealismus
, der Gott als Idee faßt und vom Standpunkt
diefer Idee aus das konkrete Wirkliche durchdringt. Bei

les documents originaux et precede d une preface par
prof. Paul Sirven. (Oeuvres d'Alexandre Vinet. lle serie :
Critique litteraire. V. Tome second.) (XXIII, 462 S.)
8°. Laufanne, G. Bridel & Co. — Paris, Libr. Fifch-
bacher (1915)- fr. 6 —

Der zwölfte Band der großen kritifchen Ausgabe der
Gefamtwerke Vinets umfaßt den zweiten Teil der Studien
zur franzöfifchen Literatur des XIX. Jahrhunderts. Wie
der Band über Frau von Stael und Chateaubriand (Theol.
Litztg. 1913, Nr. 17) ift auch diefer durch den für diefe
Arbeit vorzüglich ausgerüfteten Profeffor an der Laufanner
Univerfität P. Sirven mit einem ausgezeichneten kritifchen
Apparat verfehen worden, der aus Vinets Tagebuch und
Briefen alles mitteilt, was zum Verftändnis des hier dargebotenen
Materials beitragen kann. Das Buch befteht
aus 30 Artikeln, die der im Jahr 1831 gegründeten Zeit-
fchrift Le Semeur entnommen find und aus den Jahren
1832—1845 flammen; es bringt auch vier Artikel, die in
den Ausgaben von 1848 und 1856 fehlen. — Daß das
Intereffe, das Vinet leitet, kein rein literar- oder kritifch-
hiftorifches ift, verfteht fich bei dem Verf. von felbft.
Die Anwendung fittlich-religiöfer Maßftäbe auf Dichter,
die felbft den Anfpruch erheben, vor einem folchen Forum
zu erfcheinen, rechtfertigt in weitem Maße die vom geift-
vollen Kritiker gehandhabte Methode. Während Lamartine
mit Vorliebe religiöfe Gedanken und Stimmungen
zum Ausdruck bringt, verkündigt V. Hugo mit fteigen-
dem Pathos den fozialen Beruf des Dichters, dem die
Führung der Seelen anvertraut fei: ,le poete a charge
Kant Philofophie der Relativität, infofern die Relation ! d'ämes'. In der engeren von ihm gewählten Sphäre ent

des Denkens auf die Erfahrung, die Relation der logifchen
Prinzipien auf einander und die bloß relative Annäherung
an die Totalität im Erkennen wie im Sollen alles
zerteilt, verendlicht und relativiert bis auf die einzige

wickelt Vinet einebewunderungswürdige Virtuofität pfycho-
logifcher Analyfe und wirft wertvolle Streiflichter auf das
fittliche und religiöfe Gebiet. Daß der Sänger Jocelyns
fich vom romantifchen Katholizismus der Richtung Cha-

dem Relativismus entzogene Größe, die kritifch begrün- j teaubriands bis zur ivresse du naturalisme, zur extase
deten Vernunftformen und Urteile felbft; bei Hegel Philofo- | pantheistique, dem Gott und Univerfum zufammenfließen
pffo des Abfoluten, die gerade die Zerteilungen, Wider- I (186. 190), fortreißen ließ, findet V. darin begründet, daß
fprüche und Unterfchiede aus der Einheit der logifchen I von Anfang an der fittliche Faktor durch den äflhetifchen
Idee und ihrer Bewegung felbft konftruiert und daher im ; zurückgedrängt, zuweilen geradezu aufgehoben war. Mit
Denken wie im Handeln immer Ausdruck des Abfoluten j V. Hugo hat es eine ähnliche Bewandnis. Das Vorherrund
in der Mitte des Abfoluten felbft ift. Bei Kant eine fchen fittlich-religiöfer Kategorien läßt das formale Ge-

im unendlichen Sollen gipfelnde, außerwiffenfchaftliche
Religion und Metaphyfik der mittelbaren Poftulate, bei
Hegel eine in der erkannten Notwendigkeit des Prozeffes
wurzelnde, unmittelbare Erkenntnis und Auswirkungdes Abfoluten
. Beide fuchen das Metaphyfifche und Äbfolute;
Kant unter der Vorausfetzung des Pluralismus und daher
lediglich in den verfchiedenen Vernunftformen der
Geftaltung des Gegebenen; Hegel unter der Vorausfetzung
des Monismus und daher im Zufammenfall von
Denken, Sein und Bewegung. Dazu kommt ein letzter
Gegenfatz, den der Verf. m. E. nicht fcharf genug betont:
Bei Kant ein ftarrer Eleatismus der logifch formalen Ge-
genftändlichkeit und des ftarren naturrechtlich-moralifchen
Endziels: bei Hegel eine wirklich innere Aufnahme des
gefchichtlichen Werdens und der Veränderung in das
Syftem, ein logifch durchleuchteter und darum von jeder
bloßen Relativität befreiter Heraklitismus, der Hegel zu
einem hiftorifchen Denken befähigte, das für Kant und
Neukantianer trotz oder wegen aller Gefchichtslogik unerreichbar
ift.

Zu diefem letzteren Punkte wäre noch fehr viel zu
fagen. Doch ich muß abbrechen und kann das Büchlein
nur lebhaft empfehlen. Man wird von diefem Thema

fchäft der Kritik bei Vinet nicht zu kurz kommen; diefes
wird vielmehr durch die ethifche Betrachtung gefördert
und geadelt. ,La pensee et la forme sont intimement
unies, et sont en principe une mcme chose . .. Le respect
de la langue de tous peut etre classe parmi les devoirs mo-
raux' (25. 26). Im Lichte diefes Gedankens vertieft fich
die pedantifche Aufgabe des Silbenftechers und Wortklaubers
(epluchage 209) zu einer fittlichen Funktion, die
fich bis auf die fcheinbar geringfügigften Einzelheiten er-
ftreckt. ,Les chevilles, soit en prose, soit en vers, de-
vraient etre justiciables de la morale' (227). —Den Herausgebern
diefes neuen Bandes der vorzüglichen Vinetausgabe
gebührt der Dank der immer wachfenden Schar der Verehrer
des Laufanner Meifters. Daß auf dem Titelblatt
aller bisher erfchienenen Bände die Angabe des Jahres der
Veröffentlichung fehlt, ift recht fchade; dürfte es doch
fpäter nicht unintereflant fein feftzuftellen, in welcher
Reihenfolge die auf 30 Bände berechnete Gefamtausgabe
zu ftande gekommen ift.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Weidel, Dr. Karl: Weltkrieg und Kirchenglaube. Zur Ver-
ftändigg. über den Bekenntnischarakter der Kirche,
vermutlich noch vieles hören. Die vier Punkte, in denen (64 S.) 8°. Magdeburg, C. E. Klotz 1916. M. 1.20

der Verf. S. 91 das Bleibende an Hegel formuliert, Der Verfaffer behandelt: 1) unfere Weltanfchauung;

find nicht fehr fcharf gefaßt und ficher nicht fein 2) unfere Gottesvorftellung; 3) unfere Frömmigkeit;

4) unfer Kirchentum. Ich habe diefen Verfuch, auf Grund
der Kriegseindrücke für eine moderne idealiftifch-natura-
liftifche Religiofität Recht und Raum in der Kirche nachletztes
Wort.

Berlin. Troeltfch.

Vinet, Alexandre: Etudes Sur la litterature frangaise au ; zuweifen, mit Spannung und vielfach mit Zuftimmung
XIX" siede. Tome XII: Lamartine et Victor Hugo. Texte ; gelefen, freilich zugleich nicht ohne mancherlei Fragen
de l'edition posthumede 1848, revu et completc d'apres j und Vorbehalte. Völlig klar ift mir die Anfchauung des