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Ausgabe:

1918

Spalte:

3-4

Autor/Hrsg.:

Coffmann, W.

Titel/Untertitel:

Die Entwicklung des Gerichtsgedankens bei den alttestamentlichen Propheten 1918

Rezensent:

Gressmann, Hugo

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Coffmann, Gymn.-Oberlehr. Die. W.: Die Entwicklung
des Gerichtsgedankens bei den altteltamentlichen Propheten
. (29. Beiheft zur Zeitfchrift f. die altteft. Wiff.)
(VIII, 231 S.) gr.8°. Gießen, A.Töpelmann 1915. M.7 —
Der Verfaffer hat das Verftändnis feiner Ausführungen
fehr erichwert und oft unmöglich gemacht durch die
abftrakte Art feiner Darftellungen und durch einen fon-
derbaren Begriffsapparat, der den Propheten fremd ift und
daher auch notwendig ihrer Vorftellungswelt nicht gerecht
werden kann. Der zweite Teil feines Buches ift
mir trotz faft zweijähriger, oft wiederholter Anftrengungen
wie mit heben Siegeln verfchloffen geblieben; hin und
wieder glaube ich Einzelnes verftanden zu haben, nachdem
ich es ins Deutfche überfetzt hatte, —■ aber lieber
will ich Pindar lefen.

Was Coffmann will, fagt er felbft in den einleitenden
Worten, die ich zugleich als Probe feiner Darftellungsart
zitiere: ,Der Gerichtsbegriff enthält zwei Elemente, da
er ein Reaktionsbegriff ift. Er fetzt erftlich die Verletzung
einer verpflichtenden Norm durch Menfchen voraus und
zu zweit die Reaktion diefer Norm refp. des Normgebers
gegen die Verletzung durch ein Urteil oder Handeln.
Aber nicht im allgemeinften Sinne befchäftigt uns hier
diefer Begriff, da wir z. B. vom Privatrecht und ftaatlichen
Kriminalrecht abfehen. Wir machen ihn nur in feiner
Auswirkung auf religiöfem Gebiete zum Objekt unferer
Unterfuchung, d. h. infofern als die verpflichtende Norm
eine religiöfe, alfo gottgebene oder wenigftens gottgebilligte
ift und die Reaktion von feiten Gottes durch
fein Urteil oder Handeln erfolgt. Die Entwicklung des
fo beftimmten Begriffes will die folgende Arbeit darftellen,
d. h. die Weiterbildung der jenem Begriff eignenden Elemente
durch Ausfcheidung, Erweiterung und innere Umbildung
auf Grund gewiffer äußerer und innerer Faktoren'.

Im erften Teil behandelt C. die Propheten analytifch
(S. 3—148), in chronologifcher Reihenfolge von Arnos
bis auf Daniel; vorangeftellt find zwei Kapitel über die
,Zeit vor Arnos' und ,Elia'. Als durchgängige Unterabteilungen
begegnen uns bei jedem Propheten a),die Quelle',
d. h. kurze literarkritifche Bemerkungen über unechte Be-
ftandteile, b) ,die Gerichtsanfchauungen'. Der zweite Teil
faßt die Refultate der Analyfe zu einer .gefchichtlichen
Entwicklung des prophetifchen Gerichtsbegriffes' zufammen
(S. 149—231). Die vorexilifche Zeit unferer Schriftpropheten
gliedert fich in die Kapitel: Die Gerichtsbegründung;
der Gerichtsumfang; das Gerichtsziel; Gerichtszeit und
-art. Dann folgt die exilifche Zeit: Der Sieg des Gerichtsgedankens
und feine Krife; die einzelnen Gedankenkreife
im Verhältnis zu den vorexilifchen Ideen, a) das .Eigenvolksgericht
', b) das .Fremdvölkergericht'; Individualismus
und Eschatologie im exilifchen Gerichtsbegriff. Endlich die
nachexilifche Zeit: ,Das Eigenvolksgericht'; ,die Völkergerichte
'.

Nach meinem Urteil hat der Verfaffer die Propheten
mit feiner unglücklichen Terminologie vergewaltigt und
ihr Verftändnis verhindert ftatt gefördert. Ich habe vergebens
nach einer Ausführung darüber gefucht, wo die
Propheten das Bild oder den Gedanken des Gerichts verwenden
, und doch wäre dies nicht nur ein fehr intereffantes
Thema gewefen, fondern wohl auch eine notwendige Vorfrage
für den, der über den ,Gerichtsgedanken' bei den
Propheten fchreiben will. Statt von den Propheten auszugehen
, wie es die Interpretation verlangt, ift der Verfaffer
von fich ausgegangen und hat fich einen Gerichts-
gedanken konftruiert, der bei den Propheten gar nicht exi-
ftiert und den überdies auch der normale Sprachgebrauch
des Deutfchen nicht kennt. Zu einem Gericht gehören
Richter, Staatsanwalt, Angeklagter, Henker, Poliziften.
Die erfte Frage müßte daher fein: Wo wird in den Pro-
phetenfehriften ein folches Gericht gefchildert? Wo finden
fich Szenen oder Reden, die man als Gerichtsfzenen oder
Gerichtsieden bezeichnen muß? Wie weit wird das Bild
des Gerichtes ausgemalt? Hätte C. diefe Frage aufgewor- I

fen, fo würde er durch die Antwort doch wohl überrafcht
fein; denn mit ganz verfchwindenden Ausnahmen fehlt
die Vorftellung des Gerichts bei den Propheten überhaupt
. Die erfte wirkliche Gerichtsfzene fchildert Daniel,
der nicht mehr zu den Propheten gehört; dagegen begegnen
uns ,Gerichtsreden' vereinzelt bei den Propheten
(und Pfalmiften). Die Propheten fchildern den ,Tag
Jahwes' nicht als Gericht, fondern als naturhaft-politifche
Kataftrophe.

Arnos benutzt einmal (4,6ff.) das bekannte Stilgefetz
einer allmählichen Steigerung, um das abfchließende Finale
möglichft ftark hervorzuheben. Ich habe in meiner Eschatologie
(S. i68ff.) darauf hingewiefen und zugleich bemerkt
, daß unter dem Zwange diefer Stilform die wirklichen
Tatfachen ,fchematifiert' oder ftilifiert würden. Coffmann
behauptet (S. 9f.), damit werde dem Arnos ein
unerträglicher Schematismus, ja faft Unwahrhaftigkeit'
vorgeworfen. Nach meiner Meinung war Arnos von bei-
dem himmelweit entfernt; aber vor allem begreife ich
nicht, wie die Stilifierung der Tatfachen, die unter äfthe-
tifchen Gerichtspunkten eine Notwendigkeit und ein Ver-
dienft des Arnos bedeutet, als Unwahrhaftigkeit aufgefaßt
werden kann. Wenn ich richtig urteile, enthält Cofl-
manns Buch einen ,unerträglichen Schematismus', da die
Anfchauungswelt der Propheten wie in einem ftark gekrümmten
Spiegel verzerrt und ftilifiert wird; aber trotzdem
denke ich nicht daran, ihn der Unwahrhaftigkeit
zu zeihen, fo wenig wie den Arnos. Unwahrhaftigkeit
ift ein fittliches Manko; bei Coffmann aber beruht die
Stilifierung der Tatfachen auf einem fpröden Denken,
das unfähig ift, fich dem Geifte Anderer anzufchmiegen
und fich in deren Seele einzufühlen; er fpannt alle Propheten
auf die Folter feines Schemas. Ihm fehlt offenbar
die Gabe, die gerade für die Propheten charakteri-
ftifch ift: fich die Dinge konkret vorzuftellen. So behauptet
er (S. 9) im Gegenfatz zu Jef. 28,14!!.: ,Eine Über-
fchwemmung, aus derjerufalem gerettet wird, braucht noch
keine Weltflut zu fein'. Wenn Jerufalem vom Waffer ernft-
lich bedroht werden follte, müßten das Mittelländifche
oder das Tote Meer rund um icoo Meter fteigen; und
das follte keine Sintflut fein?

Auch rein methodifch erfcheint mir Coffmanns Unterfuchung
anfechtbar. Er erhebt (S. 10) zum Prinzip: ,Wenn
fich gewiffe Stellen aus dem Zufammenhang der Örter
und dem Gefamtgedankenkreis der Propheten herausheben
, fo liegt doch auch die Annahme nahe, daß wir
Interpolationen oder Überarbeitungen einer fpäteren,
efchatologifch fortgebildeteren Zeit vor uns haben können
'. Mit der Möglichkeit der Interpolation ift gewiß
zu rechnen, aber der Zufammenhang des Einzelnen kann
nicht entfeheiden, ob ein Spruch Zufatz ift oder nicht; denn
felbftändige Sprüche haben überhaupt keinen Zufammenhang
mit einander. Und ferner, ob etwas in den Gefamtgedankenkreis
der Propheten hineinpaßt oder nicht, kann
nicht die Literarkritik entfeheiden, fondern nur die Interpretation
oder Religionsgefchichte, die fich von vorgefaßten
Dogmen auch der modernften Art fernhalten follte.
Um ein Beifpiel anzuführen; Coffmann fragt im nächften
Satz: .Warum reden denn Arnos, Hofea und Micha nicht
von einer Weltkataftrophe?' Sie reden ja ausfchließlich
davonl Was ift denn der ,Tag Jahwes' oder das ,Ende
der Welt' anders als die Weltkataftrophe, in die auch
Israel mit hineingezogen wird? Wenn man freilich, von
Dogmen ausgehend, den Ausdruck .Ende der Tage' lite-
rarkritilch befeitigt, muß man natürlich auch den Ausdruck
,Tag Jahwes' mißverftehen und den Gefamtgedankenkreis
der Propheten falfch rekonftruieren.

Das Verdienft des vorliegenden Buches, deffen Fleiß
gern anerkannt werden Poll, fehe ich darin, daß es die
übliche Anfchauung von der .Gerichtsverkündigung' der
Propheten durch die Überfpannung des abftrakten Gerichtsgedankens
ad absurdum führt.

Schlachtenfee. H. Greßmanu.