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Ausgabe:

1918 Nr. 14

Spalte:

183-184

Autor/Hrsg.:

Zinßer, Wilh.

Titel/Untertitel:

Leipziger Erinnerungen 1918

Rezensent:

Naumann, Gottfried

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Seite 1

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183 Theologifche Literaturzeitung 1918 Nr. 14. 184

tifierung, in dem Großbetrieb auf allen Gebieten mit dem
Anfpruch, fich auszuleben. Teutfch hofft aber, fein Volk
wird wie bisher allen Gewalten zum Trotz fich erhalten.

2. Dem fiebenbürgifchen Fünften Bocskay, der den
.Wiener Frieden' mit der etwas verklaufelten Religionsfreiheit
errang, hat der ev. Kirchenhiftoriker an der kürzlich
mit einer ev.-theologifchen Fakultät errichteten Uni-
verfität Debreczen, nach mehr als ein Jahrzehnt fich hinziehenden
Vorarbeiten, ein fehr fleißiges, nicht nur mit
deutfchem und magyarifchem Schrifttum, (ondern auch
archivalifch unterbautes Buch gewidmet, deffen Sprache
trotz mancher Unebenheiten Achtung abnötigt. Er hat
die fremde Sprache gewählt aus inniger Liebe zum un-
garifchen Proteftantismus, deffen glorreiche Vergangenheit
in deutfchen Kreifen noch zu wenig bekannt fei;
(man muß dasfelbe leider auch von dem Zisleithaniens
lagen). Da der Wiener Friede für die heutige ftaatsrecht-
liche Behandlung grundlegend ift, hat er feine Entftehung
und Wirkung in den Mittelpunkt gerückt. Ferner
fchien ihm der jetzige Weltkrieg ein fchwaches Abbild
in Bocskays Aufftand zu haben, in dem der ungarifche
Proteftantismus fein Dafeinsrecht erftritt. ,Schon damals
kam das Deutfche Reich diefer national-religiöfen Bewegung
freundlich zu Hilfe und hat fich damit in Ungarn
dauernde Sympathien erworben' — die freilich oft fchwer
zu erkennen waren. Ihm ift Bocskay ein Mann genialer
Gedanken, ohne Eigennutz, ein gläubiger aber nicht engherziger
Chrift, ein guter Reformierter, der um die Freiheit
der Konfeffionen kämpfte und dafür wahrfcheinlich
an langfam tötendem Gift ftarb. Lencz fchließt mit dem
Wunfche, daß der Aufftand und der Wiener Frieden für
alle Zeiten ein Zeichen fei, daß Deutfchtum und Ungar-
tum, Kalvinismus und Luthertum einander nach göttlichem
Willen ergänzen, Uneinigkeit unter ihnen die Gefahr
der Herrfchalt fremder Völker heraufbefchwören und
die römifche Sache ftärken würde, während ihr Bündnis
in Mitteleuropa den Sieg der Ideen des Proteftantismus
anbahnen werde.

3. In den Gebirgen Siebenbürgens ftand die Wiege des
rumänifchen Volkes. Der Wert von Cändeas forgfamen,
wenn auch trockenen Unterfuchungen befteht nicht zuletzt
in der Herbeiziehung der deutfchen Gelehrten meift
unzugänglichen fremdfprachigen Quellen. Sie ergänzen
fehr glücklich das letzte Buch über Rumänien von
O. v. Dungern (1916), das den kirchlichen Verhältniffen
nur einen kurzen Abfchnitt widmet. Ihr Ergebnis: Als
freie Kirche kann und konnte fich immer die römifche
Kirche unter den Rumänen betätigen, aber nicht als
allein feiig machende.

Georg Loefche.

Zinflerf, Kirchenr. Wilh.: Leipziger Erinnerungen. Ein Beitrag
zur Gefchichte der inneren Miffion im Königr.
Sachfen (S.-A. a. d. Vierteljahrsfchrift f. innere Miffion.)
(129S.) gr.8°. Gütersloh,C.Bertelsmann 1917. M.3 —
Der geifitliche Leiter der Inneren Miffion Leipzigs in
den Jahren 1877—91 berichtet in chronologifcher Folge
über feine Arbeit, Erfahrungen und Erlebniffe während
feiner Leipziger Wirkfamkeit. Er hat dadurch einen
wichtigen Beitrag zur Gefchichte der inneren Miffion im
Königreich Sachfen und zugleich zur Gefchichte des
kirchlichen Lebens in Leipzig gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts gegeben. Aber mehr als dies! Der Wert
leiner Aufzeichnungen geht über den lokalen Rahmen
weit hinaus. Wir fehen aus ihnen, wie fich die Arbeit
der Inneren Miffion auf allen ihren Gebieten in einer
Großftadt aus den Anfängen mit innerer Notwendigkeit
zu einem umfaffenden Werke chriftlicher Liebe entwickelt,
und zwar unter der Leitung eines Mannes, der von ftreng
lutherifchem Geift erfüllt, mit ftarker kirchlicher Zielfetzung
alle leelenlofe Organifation mit Akten und Beamten ablehnend
, vor allem der Kraft überzeugter chriftlicher
Perfönlichkeiten vertraut. In feinen Berichten finden fich

außer erhebenden Tatfachen prinzipielle Ausführungen
von erquickender Klarheit und weitem Blick über das Verhältnis
von Innerer Miffion einerfeits und Kirche wie
Univerfität andererfeits, die die Lektüre in befonderem
Maße gewinnreich geftalten.

Straßburg i. E. Gottfried Naumann.

Mein, Dr. Jofef: Heinrich Graetz. Eine wurdigg. des Hiftorikers
und Juden zu feinem 100. Geburtstage 31. Oktober 1917
(21. Chefchwan). 1184 S. m. 1 Bildnis.) gr. 8». Berlin, L. Lamm
1917. M. 4.50; geb. M. 6.50

Mit viel Druckfehlern, von denen die letzte Seite bei weitem
nicht alle verzeichnet, in einem zuweilen abfonderlichen Deutfch,
bei nicht ganz fcharfer Disponierung des Stoffes innerhalb der
! einzelnen Abfchnitte und gelegentlichen eigenartigen Irrtümern
(die Kabbaliften Nachmanides ufw. heißen auf S. 49 ,Rationa-
liften'!), entwirft Verf. ein fachlich gehaltenes Bild von Graetz'
Charakter und Hauptfchriften. Außer Anmerkungen und einer
Graetz-Bibliographie bietet er anhangsweife verfchiedenes aus
G.'s Briefwechfel ufw. Intereffant für unfere Lefer dürfte G.'s
Denkfchrift über die Zuftände der jüdifchen Gemeinden in
Paläftina und befonders in Jerufalem, fowie der geharnifchte
Protei! (hebräifch) der jüdifchen Gemeinden in Jerufalem gegen
diefe Denkfchrift fein (S. 142—156).
Leipzig. Erich Bifchoff.

Frommel, Gafton: La Verite humaine. Un cours d'apo-
logetique. Vol. II u. III. (289 u. 337 S.) 8». Neu-
chatel, Attinger freres 1916. fr. 8 —

Erft fünf volle Jahre nach Veröffentlichung des erften
Bandes der Apologetik Frommeis (Theol. Lit.-Ztg. 1910,
Nr. 17) erfchienen die zwei folgenden Bände aus dem Nachlaß
des zu früh vollendeten Verf. Diefe lange Verzögerung,
die in der Krankheit des Herausgebers ihren Hauptgrund
hatte, beeinträchtigt zwar nicht den bleibenden Wert
mancher Frommelfchen Ausführungen, verrät aber einen
gewiffen Hiatus zwifchen den Intereffen und Bedürf-
niffen der Gegenwart und den Frageftellungen des im
Jahr I906 aus feiner Lehrtätigkeit entriffenen Genfer
Profeffors.

Auf die ,analytifche und kritifche Erforfchung der
menfchlichen Wahrheit' folgt nun zunächft die pofitive
Darfteilung (expose thetique) diefer Wahrheit. Nachdem
Frommel verflicht hatte, ,den Menfchen fich felbft zu erklären
' und in der Formel je dois, donc je suis' die
Antwort auf die aufgeworfene Frage gegeben hatte,
unternimmt er es, die aus der fo gewonnenen Erkenntnis
der menfchlichen Natur fich ergebenden Folgerungen
für die Begründung des Chriftentums zu ziehen und
darzulegen. — Die fittliche Verpflichtung ift eine uns
erfahrungsmäßig gegebene Größe, une donnee experi-
mentale, l'expression d'une experience. Sie läßt fich nicht
einfach aus den Tatfachen und Vorgängen des Bewußt-
feins erklären, fie führt uns in die Sphäre des Unterbewußten
ein, wo fie fich uns mit unmittelbarer Gewalt aufdrängt
und auf einen ihr zu Grunde liegenden objektiven
Faktor zurückgreift; diefer Paktor ift ein perfönlicher, ab-
foluter, heiliger Wille, ift der fich in unferm Inneren
kund gebende Gott: l'obligation de conscience entraine
Ja revelation d'un Dieu moral et spirituel. Das Innewerden
diefer Offenbarung erfchließt dem Menfchen auch das
Geheimnis der Freiheit, die nur eine fittliche Freiheit
fein kann und fich in einem Akt des Gehorfams vollzieht.
! Der Gehorfam gegen den göttlichen Willen macht den
; Menfchen zum Menfchen und vermittelt ihm auch das
| Bewußtfein der wefentlichen Identität von Religion und
i Moral.— In feiner vorzüglichen Befprechung des Frommelfchen
Werkes (Sonntagsblatt der Bafler Nachrichten 1916,
Nr. 19—21) weift Wernle treffend nach, daß der geift-
volle Apologet bei feiner angeblichen Analyfe unferer
menfchlichen Erfahrung feinen Lefern den kühnen Sprung
von der Pfychologie in die Metaphyfik des Tranzendenten
verfchleiert und dem Schickfal aller kraftvollen religiöfen
Naturen erlegen ift, für welche die religiöfe Deutung ihres
Erlebniffes immer mit dem Erlebnis felbft verwechselt
wird. Mit diefer Deutung hängt auch die Einfeitigkeit