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Ausgabe:

1917

Spalte:

133-135

Titel/Untertitel:

Zwingliana. Mitteilungen zur Geschichte Zwinglis und der Reformation. 1916. (Bd. III, Nr. 7 u. 8.) 1917

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 6/7.

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vor und während der Reformation geltend gemacht find.
Es handelt fich jedoch keineswegs um eine nüchterne
Zufammenftellung und um Darbietung ftatiftifchen Materials
. Auch hat der Verfaffer nicht beabfichtigt, die
ftädtifchen Gravamina etwa als grundlos dahinzuftellen.
Ich möchte ihm aber in feiner Auseinanderfetzung über
die Ablaßlehre beiftimmen. Es fteht nach den neueren
Forfchungen einwandfrei feft, daß die Ablaßlehre erft
viel fpäter beanftandet ift als die Form der Ablaßerteilung.
Es ift auch darauf zu achten, daß die Städte oft gegen
die Predigt eines Ablaffes nichts einzuwenden hatten,
wenn fte am finanziellen Ergebnis beteiligt find. Die
kirchliche Lehre hat immer an dem Ablaß a poena und
nicht a culpa feftgehalten und betont, daß die Geldabgabe
nur Vorausfetzung, nicht aber Grund und Bedingung
von Sündennachlaflung fein darf. Seit 1517 freilich ift
der Glaube an die kirchliche Lehre wankend geworden,
nachdem bereits vorher die Form nicht mehr ganz einwandfrei
gewefen war.

Bei der Beurteilung der Difziplin des Klerus und
der zahlreichen Vorwürfe gegen die Sittenlofigkeit der
Geiftlichkeit verfucht St. in keiner Weife eine Ehrenrettung
. Richtig aber ift es, wenn er darauf hinweift, daß
aus der ganz fubjektiven Pamphletliteratur nur ein ganz
einfeitiges Bild gewonnen würde. Es ift darum zweckmäßig
, die geiftlichen Gerichtsprotokolle und andre derartige
objektive Zeugen zu vernehmen. Ferner ift es
klar, daß alle Schandtaten und alle Beanftandungen dick
aufgetragen in das Buch der chronilque scandaleuse verzeichnet
find, alle treue Pflichterfülung aber und aller
ehrbare Wandel bleibt als felbftverftändlich unberück-
fichtigt. Trotzdem ift feftzuhalten, daß der fittliche Zuftand
des Klerus im 15. u. 16. Jahrhundert in mancher Hinficht
und in manchen Gegenden, und manchmal hier und dort
ftärker, fehr zu wünfchen übrig gelaffen hat; die großen
Klaffengegenfätze, das Überwiegen des Adels, die Mängel
in der geiftlichen Stellenbefetzung und vor allem die
mangelhafte Ausbildung der Geiftlichen werden als Gründe
zu gelten haben.

St. verwendet für feine Darftellung in erfter Linie
ein ungeheures Quellenmaterial, die vielen lokalen Ur-
kundenbücher find außerordentlich gründlich durc hforfcht.
Sodann aber hat die rechtsgefchichtliche und kirchliche
Literatur völlige Berückfichtigung gefunden. Befonders
erfreulich ferner ift die reiche Benutzung der zeitgenöffifchen
Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts. Dadurch wird
die Darfteilung nicht nur lebhafter, fondern auch kulturgeschichtlich
vertieft. Sowohl Theologen wie Satiriker
kommen zu Worte und auch fcharfen Kämpfern wie
Hutten hat fich St. nicht verfchioffen. — Nachzutragen wäre
etwa bei Behandlung der Stolgebühren und Oblation
(S. 51 f. 56 f.) die neue Arbeit von G. Schreiber; Untersuchungen
zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen
Oblationenwefens, Wörishofen 1913. Für die Behandlung
des unbeweglichen Kirchenvermögens (S. 97 fr.) ift zumal
bei den von St. häufig gegebenen Hinweifen auf Köln
lehr wichtig die ausgezeichnete Arbeit von G. Kühn, die
Immunität der Abtei Groß St. Martin zu Köln, Münfter
1913. Zu dem Kapitel der Sendgerichte (S. 204) erwähne
ich die Differtation von L. Frohn, das Sendgericht zu
Aachen, Aachen 1913. Für die fehr wertvolle Arbeit
haben wir allen Grund, St. Dank zu fagen.

Leipzig. Otto Lerche.

Zwingliana. Mitteilungen zur Gefchichte Zwingiis u. der
Reformation. Hrsg. vom Zwingliverein in Zürich. 1916-
(Bd. III.) (S. 197—260) gr. 8°. Zürich, Zürcher & Furrer.

M. 1.50

Mit derfelben Gründlichkeit und Nüchternheit, mit
der Oskar Farner 1913—15 die Entwicklung Zwingiis
zum Reformator bis 1522 behandelt hat, gibt er jetzt ein
Lebens- und Charakterbild von Zwingiis Gattin Anna

Reinhart, der bildfchönen Wirtstochter zum Rößli, die
Hans Meyer von Knonau hinter dem Rücken feines adels-
ftolzen Vaters ehlichte, wofür er fehr fchweren Vermögensverluft
erlitt. Lieft fich die Gefchichte diefer Jugendhebe,
die mit dem frühen Tod des Gatten 1517 traurig endet,
faft wie ein Roman, fo wird der Lefer erft recht gefpannt
durch ihre Beziehungen zu dem feit 1519 in unmittelbarer
Nachbarfchaft lebenden Züricher Reformator, der
mit ihr eine heimliche Ehe fchloß, die jedenfalls am 21.
Juli 1522, aber vielleicht fchon vor Mai vollzogen war.
Farner verzichtet darauf, ,Dinge die nun einmal peinlich
find und bleiben, befchönigen zu wollen' (S. 206). Mit
Recht darf er geltend machen, ,daß eine heimliche Ehe
nach damaligem Empfinden nichts unter allen Umftänden
verwerfliches war'. Das Papfttum hatte mit feinem Eheverbot
den Geiftlichen einen Kampf mit ihrer eigenen
Natur zugemutet, der meift mit einer Niederlage enden
mußte, wie der Schluß der Gefchichte des Mittelalters
zeigt. Es waren nicht die fchlechteften Männer, die in
heimlicher Ehe lebten, die von der Kirche und dem öffentlichen
Urteil als Konkubinat gebrandmarkt wurde, und
über die auch Luther billig urteilte. Aber wenn Zwingli,
der angehende Reformator, eine folche heimliche Ehe
fchloß und zwei Jahre brauchte, bis er fie öffentlich werden
ließ, weil fie fich mit der nahen Geburt eines Kindes
nicht mehr heimlichhalten ließ, fo ift das etwas anders.
Gewiß hatte Zwingli feine Gründe, ficher hatte er auch
mit Einfprache der Familie Meyer von Knonau für den
Anfang zu rechnen, und war ftets ein kluger Politiker,
der den Zeitverhältniffen Rechnung trug. Aber gerade
hier tritt er gegen Luthers offene Art bei der Ehefchlie-
ßung mit Katharina von Bora mitten in der fcheinbar
ungünftigften Zeit, der Entfremdung der Mafien nach
dem Bauernkrieg, in Schatten. Das größte Rätfei bietet
aber nicht Zwingli, fondern Anna Reinhart, die doch
nahe an vierzig Jahre alt war und drei Kinder hatte, deren
älteftes bereits 17 Jahre alt war. Am eheften wird man
ihr gerecht, wenn man annimmt, daß die Sorge für ihren
Sohn Gerold, der das leichte Blut feines Vaters geerbt
zu haben fcheint, ihr eine Marke männliche Leitung des-
felben erwünfcht erfcheinen ließ, wie denn Zwingli fchon
im Frühling 1521 fich dcsfelben annahm, aber es auch
für ratfam hielt, ihn mit 17 Jahren zu verheiraten. Nur
ein Brief von Zwingli an feine Gattin ift erhalten, der durch
feine Kürze überrafcht, befonders da er 12 Tage nach
der Geburt feines Ulrich gefchrieben ift, die ihm nach
Bern gemeldet war. Auffallend ift, daß er fie über feine
Reife nach Marburg in Unklarheit ließ. Noch auffallender
ift, daß Bullinger, der doch die Witwe mit ihren Kindern
bei fich im Haus behielt, ihren Tod in feinem Diarium
mit keiner Silbe erwähnt. Das Merkwürdigfte aber ift
Konr. Pellikans Schweigen über fie, während er doch bei
feiner Überfiedelung von Bafel nach Zürich 1526 bei
Zwingli ungefähr acht Tage Aufnahme fand. Gerade in
diefer Zeit nahm er Anftoß an der Putzfucht und dem
wenig fittfamen Auftreten der Züricher Frauen und Jungfrauen
, und er erzählt geradezu: Ich befchloß bei mir,
wenigftens nicht eine Züricherin zu heiraten, da mir die
Sitten keiner von ihnen, foweit ich fie kannte, behagen
mochten. (Die Hauschronik Konr. Pellikans. Deutfch von
Vulpius S. 100) Auch er, der große Bewunderer Zwingiis,
hat weder bei deffen Tod ein Wort der Teilnahme für
die Witwe, noch erwähnt er ihren Tod, während er fonft
feinem Sohn von den verfchiedenften Leuten berichtet.
Farner hat das Schweigen Bullingers und Pellikans nicht
beachtet. Die Verherrlichung von Sah Heß in feiner
Biographie 1819 beruht vielfach auf freier Erfindung und
darf künftig nicht mehr als Quelle benützt werden, wie
das z. B. für die chriftlichen Frauenbilder von Merz ge-
fchah. Der Abftand zwifchen Zwingiis und Luthers Ehe,
der Kroker das fchöne Buch .Katharina von Bora' gewidmet
hat, ift unbeftreitbar.

In die Zeit vor Zwingiis Tod führt die Arbeit von Fr. Hegi