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Ausgabe:

1917 Nr. 3

Spalte:

65-66

Autor/Hrsg.:

Nelson, Leonhard

Titel/Untertitel:

Ethische Methodenlehre 1917

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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65

Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 3.

66

Nelfon, Leonard: Ethüche Methodenlehre. (VII, 72 S.)
Lex. 8°. Leipzig, Veit & Comp. 1915. M. 4 —

Nelfon gibt als Einleitung feiner Ethik die Methodenlehre
, die den Begriff in dem weiten, nicht bloß ,die
Tugendlehre unferer deutfchen Philofophen', fondern auch
Pädagogik, Rechtslehre und Politik mitumfaffenden Sinne
der Griechen verftehen foll, und aus der die allein vernunftgerechte
Ethik würde hergeftellt werden können,
auch wenn die vollendete Pithik des Verf. nicht ans Licht
treten follte. Diefe weite Begriffsbeftimmung der Ethik
finde ich fehr berechtigt, ja unentbehrlich, nur doch auch
fonft nicht fo feiten bei den deutfchen Philofophen, wenn
man dabei nicht bloß an die Kantianer denkt. Im übrigen
freilich denke ich wefentlich anders aus hier nicht
zu entwickelnden Gründen. Für N. ift der chaotifche
Zuftand der wiffenfchaftlichen Ethik feit Jahrtaufenden
ein Skandal der Vernunft, der befeitigt werden kann
und muß, wenn man weiß, was Wiffenfchaft ift, nämlich
,ein Ganzes, in dem kein Teil willkürlich ift und das daher
nur nach einer eindeutigen, alle Willkür ausfchließen- 1
den Regel zuftande gebracht werden kann'. Es würde j
fich alfo gegenüber der Verworrenheit und Vielfpältig-
keit der Werturteile des Lebens um eine ftreng rationale
Deduktion und Syftematik handeln, auf die auch das
Kulturleben endlich rationell feft begründet werden kann
und wodurch wir von den Wirren der Leidenfchaft und des
Irrtums erlöft werden. Es ift ein ftrenger, dem mathema-
tifchen Erkenntnisideal angenäherter Rationalismus, der
dem Verfaffer bekanntlich auf der neu-Friefifchen Bafis
allein begründet werden zu können fcheint, den auch Kant
gewollt, aber durch fein .erkenntnis-theoretifches Vor- s
urteil' verhindert habe. Nicht die Deduktion aus dem
formalen Wefen der Vernunft, fondern die regreflive Ana- ;
lyfe des tatfächlichen ethifchen Wiffens führe zur Erkennt-
nis des fittlichen Vernunftgefetzes. Auch das Ausgehen
von einem angeblichen Begriff und Wefen der Sache wie
etwa von dem des Staates und der Suveränität als Macht, j
die eben dadurch eine pazififtifche Weltordnung aus- |
fch'öffen, fei ein ganz einfacher logifcher Fehler und ein i
Beifpiel, ,wie von methodifcher Klarheit oder Unklarheit j
ganze Völkerfchickfale abhängen können'. Freilich ift dann j
die Sache doch nicht fo einfach und fehr viel verwickelter I
als in der Mathematik. In der Geometrie kann man von j
Axiomen ausgehen, weil fie unmittelbar evident und in
der Konftruktion verwendbar find, in der Ethik muß man
vom ethifchenWiffen ausgehen, um deffen wiffenfchaftliches
Prinzip erft aus ihm zu konftruieren. Daß es ein folches
,Wiffen' gebe und das ethifche Urteil eine Art des
,Wiffens' fei, wie das mathematifche, ift dabei für den
Verf. unbezweifelte Vorausfetzung. Diefes ethifche Wiffen
ift ein unmittelbares, lediglich aufzuweifendes und
nicht erft zu beweifendes, das einmal in einem Falle erkannt
, für alle übrigen gleichfalls zutrifft. Der Kantifche
Beweis durch Herleitung von der praktifchen Vernunft
beweift nichts, ftatt deffen muß ,der Grundfatz des Selbft-
vertrauens der Vernunft auf die Wahrheit ihrer unmittelbaren
Erkenntnis' flehen. So muß alfo für die Ethik
als Wiffenfchaft ,eine unmittelbare, rationale ethifche
Erkenntnis als tatfachlich beftehend nachgewiefen werden'.
Diefe Erkenntnis kann man haben, ohne fich ihrer als einer
Erkenntnis bewußt zu fein, daher die Möglichkeit der
ethifchen Skepfis, die aber vor jedem ftrengen Beweisverfahren
verfliegen muß. Gewißheit und Evidenz find
zu unterfcheiden, die zweite erft zu gewinnen, was auf
eine ,urfprüngliche dunkle Erkenntnis' oder ,Gefühl' hinweift
, die erft durch Nachdenken ins Bewußtfein erhoben
wird, dann aber auch ohne weiteres als gültig und verpflichtend
anerkannt wird. Wer das nicht tut, ift fich
eben nicht klar geworden, woraus ja immer alles Unheil
flammt Der Aufweis des tatfächlichen Vorhandenfeins
jener dunklen Erkenntnis oder des Gefühls ift daher
fchließlich eine empirifch-pfychologifche Aufgabe. Das

tut der Allgemeingültigkeit keinen Eintrag, da ja nicht
diefe bewiefen werden foll durch ein folches Verfahren,
fondern nur ihr Vorhandenfein aufgewiefen werden foll,
mit welchem dann die Gültigkeit als unmittelbares Wiffen
gegeben ift. Die methodifchen Andeutungen weifen
mit Recht auf gewiffe Schwierigkeiten der Kantifchen
Ethik hin, die diefe mit aller Deduktion feiner Kategorien
aus der Einheit der Vernunft gemeinfam hat. Freilich
kann ich wenigftens aus diefen Andeutungen den weiteren
Weg des Verf. nicht konftruieren. Man weiß nur
aus anderen Schriften, daß der Inhalt des dunklen Gefühls
die Anerkennung der Gleichberechtigung des andern
fein foll, und damit die Grundlegung des Naturrechts.
Dazu tritt dann das Vollkommenheitsftreben als feelifche
Richtung auf die Kulturwerte oder objektiven Güter. Aus
beiden zufammen erwächft dann die Ethik in dem weiten
Sinne. Es ift alfo noch nicht viel mehr über das Ganze
zu fagen, als daß es fehr verftandesmäßig, gleichheits-
theoretifch, naturrechtlich und kulturfreudig oder fort-
fchrittlich zu werden verfpricht. Die Welt wird es freilich
fchwerlich von ihren unvernünftigen Subjektivitäten
erlöfen.

Berlin. Troeltfch.

Martenfen-Larlen, Pfr. Lic. H.: Zweifel und Glaube. Er-

lebniffe u. Erfahrgn., den Suchenden gewidmet. Auto-
rifierte Überfetzg. v. Frieda Buhl. Volksausgabe. (VII,
325 S.) gr. 8°. Leipzig, A. Deichert 1916.

M. 2 —; geb. M. 3 —

Der wichtigfte Teil diefes feffelnden Buches ift der
Abfchnitt, in welchem der Verfaffer, ein Enkel des bekannten
dänifchen Bifchofs Martenfen, ausführlich erzählt
, wie er nach zwanzigjährigem Suchen und einer
fich über ein Jahr hinziehenden Krife, die ihn bis an den
Rand der Verzweiflung brachte, die Gewißheit des Glaubens
fand. Vorauf geht eine Darfteilung der verfchie-
denen Anläffe zum Zweifel, allerlei Schlußfolgerungen
und Ratfchläge feelforgerlicher Art reihen fich dem
Hauptteil an. Das Buch darf als ein wertvoller Beitrag
zur religiöfen Bekenntnisliteratur bezeichnet werden. Die
Schilderung ift packend und eindringend und erweckt
den Eindruck unbedingter Glaubwürdigkeit. Sie enthüllt
ein gefühlvolles, lauteres, auf Religion angelegtes, für alle
Anregungen und Anfechtungen der modernen Wiffenfchaft
, von der Naturphilosophie bis zur Bibelkritik,
empfängliches Seelenleben in feinen Schwankungen und
Erfchütterungen. Der Antritt eines paftoralen Amtes in
der dänifchen Hauptftadt mit feinen mancherlei Ent-
täufchungen und ftärkften Anfprüchen an ein Wirken in
der Vollkraft religiöfen Befitzes führt den inneren Zu-
fammenbruch herbei, deffen nervöfe Teilurfachen und
Begleiterfcheinungen gewiffenhaft regiftriert werden. Der
dann allmählich einfetzende Aufftieg erfolgt ruckweife;
eine Stunde, in welcher fehnliches Gebet, Willensan-
ftrengung und Freundeszufpruch (Skovgaard-Peterfen)
zufammenwirken, hebt fich dem Zurückfchauenden als
die des entfcheidenden .Durchbruchs' heraus, worauf
jedoch bald weitere heftige Nöte und Kämpfe folgen,
die fchließlich abebben.

Der Verfaffer ftellt feine Seelenfchilderung gelegentlich
in das Licht der Jamesfchen religionspfychologilchen
Unterfuchungen, S. n6f. Das braucht ihn an der Wahrheit
feiner fo mühfelig erworbenen religiöfen Überzeugungen
nicht irre zu machen. Er betont fo ftark die
Willensfeite des Glaubens — der Glaube ift Tat, Wahl,
Wagnis, Sprung —, daß er an einer Stelle nicht nur die
Möglichkeit einer Selbftfuggeftion zugibt, fondern fogar
eine folche fordert, S. 277. Er dankt der Ritfchlfchen
Theologie, die er aus den Rezenfionen der Theol. Lit-
Ztg. kennen lernte (S. 72), daß fie ihm den Glauben als
perfönliches Verhältnis zu Jefus aufzeigte, doch ward ihm