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Ausgabe:

1917 Nr. 2

Spalte:

33-34

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Autor/Hrsg.:

Bonus, Artur

Titel/Untertitel:

Für welchen Weltgedanken kämpfen wir? 1917

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 2.

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fafiung von der philofophifchen Entwicklung feit der
Renaiffance wertvoll (man beachte z. B. Darftellung und
Kritik von Spencer, Kant, Nietzfche), gewinnt aber be-
fondern Reiz als Verfuch, die Philofophien als Gefamt-
ausdruck der nationalen Kulturen zu deuten. Italien ift
noch heute fo uneinheitlich, wie es fich in den Charakterköpfen
von Bruno und Galilei zeigt; vollendeter Typus des
franzöfifchen Geithes mit feiner Verbindung von Dogmatismus
und Skepfis ift Descartes, der des englitchen Geithes
J. Locke mit feiner Ausfchaltung der Religion aus der
wiffenfchaftlichen Diskuffion, feinem Realismus und durch
Egoismus geleiteten Utilitarismus. Dem deutfchen, durch
die Reformation entfcheidend beeinflußten Geiftesleben
entfpreche die idealiftifche Philofophie, deren ethifche
Grundrichtung auch Männer wie Schopenhauer, Haeckel,
Nietzfche teilten. Letzterer habe im Grunde den deutfchen
Idealismus in den Problemen der fittlichen Welt-
anfchauung feiner Neugeburt entgegengeführt. Den
Franzofen beherrfche der Trieb nach Auszeichnung, der
zentrifugal vom Ich auf Familie, Vaterftadt, Nation aus-
ftrahle; der Altruismus, zu dem er in entfcheidenden Momenten
überfpringen könne, fei erweitertes Lebensgefühl.
Spezififch englifch fei heute ein zentripetaler Utilitarismus.
Comte's vivre pour l'autrui fleht gegenüber Spencers
Man versus State. Den deutfchen Charakter (im Sinne
des Idealismus d. h. des Pflichtgefühls) zu definieren,
würde ,faft unziemlich' fein, zu tadeln fei feine blinde
Nachahmung des Fremden und, was fchlimmer, feine
Verleugnung des Eigenen. Neben der Ablegung diefer
Fehler werde es in Zukunft darauf ankommen, am .Militarismus
' feilzuhalten, eine für den Notfall unabhängige
Wirtfchaftseinheit anzuftreben und die fozialen Reformen
weiter auszubauen.

Als Gedanken eines Einfamen geben fleh v. Wiefe's33
kritifche Ausführungen gegen die ,neudeutfche Ethik
(des nationalen Pflichtidealismus)', deren Gehalt Verf. aus
vorftehender Schrift Wundts und andern Autoren in
9 Thefen (S. 12 f.) zufammenzufaffen und aus einem nicht
unbedingt erfreulichen .Wandel der Kulturftimmung, wie
ihn der Krieg zur Folge hat'(104) begreiflich zu machen
fucht. Was W. im Grunde will, dürfte nichts weniger als
Eigentum eines einfamen Denkers fein. Es handelt fleh
1. um Oppofition gegen einen Nationalismus, der fleh als
etwas Äbfolutes gebärdet, dem gegenüber der unveräußerliche
Wert geiftiger Individualität und umfallender
Kulturgemeinfchaft der Völker (eingefchloffen die Afiaten)
hervorgehoben wird, 2. um den Gegenfatz zu einem
Rigorismus der Pflicht, der das Sinnliche, Äfthetifche,
Religiöfe, kurz das echt Menfchliche fchädigt. Diefe
richtigen Gedanken werden in anregender, durchaus fub-
jektiver Form vorgebracht, reizen aber auch durch mancherlei
Schiefheiten und Prätentionen nicht feiten zu lebhaftem
Widerfpruch. Doch kann darauf an diefer Stelle
nicht eingegangen werden.

In feiner befinnlichen und kraftvollen Art weift
Bonus34 dem .Vaterland' (als erweitertem Ich) eine Art
Mittelftellung zwifchen dem Einzel-Ich und der abend-
ländifchen Kulturgefellfchaft an. Die Urwüchfigkeit des
deutfchen Volkes zeigt fleh darin, daß fein Selbflbewußt-
fein das Menfchheitsgefühl ein- nicht ausfehloß, phrafen-
lofer, fachlicher als das welfche war. Die Vertretung
folcher geläuterten Vaterlandsliebe läßt fich als Kampf
für die innerfte Tendenz der Entwicklung, für die Gottheit
felbft betrachten. Darum muß dem deutfchen Volke,
wenn es für die Selbfländigkeit und Gleichberechtigung
der Völker in einer gemeinfamen Organifation kämpft,
der Sieg zufallen. Ganz einverftanden, nur läßt fich die
Tatfache nicht beftreiten, daß es den Deutfchen nur allzu

23) Wiefe, Leopold v.: Gedanken über Menfchlichkeit. (XIV, 126S.)
8». München, Duncker & Humblot 1915. M. 3_

24) Bonus, Artur: Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?
'144. rlugfchrift des Dürerbundes.) (14 S.) gr. 8». München, G. D. W.
Callwey. (1915). M. — 25

lange an gefchichtebildendem Nationalbewußtfein leider
gefehlt hat (gegen S. 9). — In fehr wirkungsvoller Weife
kontraftiert Tönnies35 die Erklärung der Oxforder
Hiftoriker, die Engländer feien ein Volk, ,in deffen Blut
die Sache des Rechts das Lebenselement ift', mit den
vernichtenden Urteilen anerkannter englifcher Hiftoriker
über die englifche Eroberungspolitik feit dem 17. Jahr-
! hundert bis zur Gegenwart. Eine gleich wuchtige, zugleich
i fachlich wohlfundamentierte Polemik gegen England ift
mir nicht bekannt. Von Einzelheiten notiere ich nur die
lehrreiche Analyfe des englifchen cant (5 f.) als einer
Geifteshaltung, ,die in fchrägen, verftohlenen, aber hochtönenden
Worten, zur Verfchleierung von Beweggründen
beftimmf, ihren reinften Ausdruck findet Das zweite
Schriftchen2,1 beleuchtet ergänzend Englands Motive im
gegenwärtigen Weltkrieg durch einen Briefwechfel im
New Statesman vom Februar 1915. Hier wird u. a. von
einem englifchen Autor die Idee perfifliert, ,daß wir fo
etwas wie ein göttliches Recht des Veto über die Ausbreitung
Deutfchlands in den unentwickelten Gegenden
des Erdballes haben'. — Tilemann37 weift nach, wie
fchon bei Milton der Gedanke einer befondern göttlichen
Erwählung der englifchen Nation hervortritt, in Cromwells
Politik das durch den gleichen Gedanken, fowie durch
Willenszucht geprägte .puritanifche Selbftgefühl zu einem
kräftigften Hebel der politifchen Expanfion' wird und das
durch die politifchen Erfolge befeftigte Selbftgefühl auch
im Zeitalter der Nützlichkeitsphilofophie fich gleichgeblieben
ift. Zu allgemein gefaßt und darum unzureichend
find manche Einzelheiten, z. B. wenn S. 28 der englifchen
Jugend vaterländifche Begeifterung abgefprochen wird
(vgl. dagegen Sanday, hier befprochen 1915 Sp. 318).

Bei Moering28 treffen wir auf den Verfuch, deutfehes
und ruffifches Geiftesleben in ihrem Unterfchiede zu
charakterifieren (73 ff). Das Trennende fei Kant mit
feiner Willensdisziplinierung, Genauigkeit, Pflichterfüllung.
Der Ruffe ift Impreffionift von Geburt, form- und uferlos,
Stimmungsmenfch, aber auch großzügig und gutmütig,
der Franzofe, .Rationalift von Temperament'. Der Deut-
fche vertritt eine Mittellage von befonderem Reichtum,
drängt aber vielleicht zu ftark zur Tat auf Köllen der
Gefühlswerte. Eingeftreut find diefe Betrachtungen M.s
in die feffelnde Befchreibung feiner Erlebniffe während
der el ften Kriegsmonate in Rußland und Schilderung der
furchtbaren Nöte der hinter die Wolga verfchleppten
Oftpreußen. — Zwei Sammlungen29 39 von Berichten
oftpreußifcher Pfarrer über die Ruflennot, die einige
Stücke gemeinfam haben, aber im Ganzen fich vortrefflich
ergänzen, find ebenfalls Dokumente von bleibendem
Werte. Es find nicht etwa Greuelberichte nach berüchtigtem
Mufter ; fo mancherlei von Schandtaten fchlimmfter
Art berichtet werden muß, werden diefe doch nicht zu-
fammengefucht; man fucht auch den Gegner zu verliehen,
hat auch von anftändigem, ja edlem Benehmen zu be-

25) Tönnies, Prof. Ferdinand: Englifche Weltpolitik in englifcher
Beleuchtung. 6. Taufend. (VIII, 80 S.) 8°. Berlin, J. Springer 1915.
M. I —

26) — Deutfchlands Platz an der Sonne. Ein Briefwechfel englifcher
Politiker aus dem Jahre 1915, hrsg. von T. (26 S.) 8°. Ebd.
1915. M. — 50

27) Tilemann, Konvent.-Studiendir. Lic. theol. phil. Heinrich:
Woher das Selbflgefühl der Engländer? Vortrag, auf Veranlaffung des
Ausfchuffes f. volkstüml. Hochfchulkurfe am 2. Febr. 1915 im Tivoli-
faale zu Hannover geh. (31 S.) 80. Hannover, Hahn 1915. M. —75

28) Moering, Palt. Lic. Eruft: Mit verfchleppten Oftprcußen an
der Mündung der Wolga. Erlebnilfe aus elf Monaten ruffifcher Kriegs-
gefangenfehaft. (88 S.) 8«. Berlin, Verlag des Ev. Bundes 1915. M. 1 —;
geb. M. I 50

29) Kriegserlebniffe oftpreußifcher Pfarrer. Gefammelt u. hrsg. v.
Pfr. C. Moszeik in Stallupönen. 1. Bd. (IV, 251 S.) 80. Berlin-Lichterfelde
, E. Runge (1915). M. 3 —; geb. M. 4—. Bd. 2 hat mir nicht
vorgelegen.

30) Was wir in der Ruflennot 1944 erlebten. Siebzehn Berichte
oftpreuß. Pfarrer, gefammelt u. hrsg. v. Dompfr. Lic. Nietzki. (Schriften
der Synodalkommiffion f. oftpreuß. Kirchengefchichte. Heft 19.) (152 S.
8°. Königsberg i. Pr., F. Beyer 1915. M. 2 50

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