Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1917

Spalte:

31

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Titel/Untertitel:

Sellmann, Völkerkrieg und Volkssittlichkeit 1917

Rezensent:

Titius, Arthur

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

31

Theologilche Literaturzeitung 1917 Nr. 2.

32

Gegenteil wäre ,ein temperamentlos geführter Krieg
vollends für Gott ein Greuel!' (48 f.). — Laible10 hat
17 Auffätze von .Offenbarungstheologen' wie er fich ausdrückt
, darunter viele Namen von gutem Klang, zu einer
im ganzen auch für anders gerichtete Chriften erfreulichen
Gabe zufammengeftellt. Daß die Gegenwart eine Ent-
lcheidungsftunde für die Volkskirche bedeutet, wird vielfach
betont. Mit erfreulicher Offenheit betont Bachmann
, daß eine volkstümliche Ausgeftaltung der chrift-
lichen Verkündigung ohne Verflachung möglich und
notwendig fei (212 ff.); er fcheut das Wort nicht, daß die
kirchliche Seelenpflege ,oft zu chriftologifch, zu foterio-
logifch' fei (210); an dem Vorwurf, die chriftliche Lebensführung
entfremde dem Diesfeits, findet er etwas Wahres,
wo fie nämlich etwas von liebeleerer felbftfüchtiger Gleich-
giltigkeit enthalte (203 f.). Wie innerhalb der Elemente
der Religion, auch der konftitutiven, eine gewiffe Verschiebung
ftattfindet, zeigt Grützmacher (8off.). Doch
bezweifle ich, daß wirklich Gottes ,Zorn' in den Gemeinden
als ,eine furchtbare innere und übergefchichtliche
Realität' empfunden wird (82). Gewiß läßt fleh der Krieg
als Gottesgericht (125), d. h. als eine innerliche Löfung
von der Herrfchaft des Böfen, als Reinigung und Läuterung
verfländlich machen (fo Althaus 244), aber daß es
dabei des Taktes bedarf und daß es unter Umfländen
angebracht fei, das Wort .Buße' zu vermeiden, heben
Ihmels (31 vgl. 43) wie Uckeley (54) ausdrücklich hervor
. Kräftig betont wird z. B. von Schaeder das reli-
giöfe Recht des Patriotismus als .Gehorfam gegen den
erften Artikel des zweiten Hauptftücks' (111). Nicht ganz
einhellig lauten die Voten über das Recht, die religiöfe
Gewißheit auch auf unfere nationalen Hoffnungen auszudehnen
. Am meiften fkeptifch urteilt Wohlenberg
(17), während Uckeley die a. t. Töne bei Gelegenheitspredigten
für berechtigt erachtet (51), Bezzel fogar
prinzipiell an einer befondern ,Erwählung' des deutfehen
Volkes fefthält (68). Über den Wert der a. t. Kriegsfrömmigkeit
urteilt fehr befonnen Kittel, die befte
prinzipielle Löfung des Problems bietet Lern nie. —
Seilmann17 zeichnet gegenüber der ,fittlichen Höhe' bei
Kriegsbeginn die umfichgreifende Vergnügungsfucht, die
Zwietracht, Selbftfucht und Unfittlichkeit in unterem Volksleben
. Niemand wird fich der Tatfache verfchließen
können, daß fchwere fittliche Mißftände unteres Volkslebens
beftehen, gegen die von allen fittlicken Mächten
ernftlich der Kampf aufzunehmen ift Aber vieles, was
S. als Rückfall beurteilt, muß vielmehr als ungebrochene
Fortdauer des a!ten Wefens beurteilt werden, die nur
jetzt noch viel peinlicher empfunden wird. Namentlich
aber wird fein Bild dadurch unrichtig, daß er auf eine
Darftellung der wahrlich auch vorhandenen Lichtfeiten
ganz verzichtet. Eine herzftärkende Ergänzung bietet
hier W. Götzis, der mit fleherer Hand und einer Fülle
konkreten Materials ein Bild der vom deutfehen Volke
gekitteten geiftigen Arbeit zeichnet, das Wirken der
Preffe, der Gelehrten, der akademifchen Jugend das
Schulwefen, die Bildungsbeftrebungen, neue Kulturunternehmungen
die Kulturarbeit in den befetzten Gebieten,
die Feldpoftbriefe vorführt und zuletzt die Kriegsliteratur |
charakterifiert. Was hier an echtem nationalen Sinn und
deutfehen Idealismus machtvoll durch die Tat in Erfchei-
nung tritt, zeigt eine das ganze Volk umfafiende Atmo-
fphäre des Wahrheitfuchens und eine Literatur voll fitt-
lichen Gehaltes, der gegenüber aller Kleinglaube ver-
ftummen muß. Die Rückkehr zur Gedankenwelt der

16) Laible, Wilhelm: Deutfche Theologen über den Krieg.
Summen aus fchweier Zeit, gebammelt u. hrsg. v. L. (247 S.) gr. 8°.
Leipzig, DürflTing & Franke 1915. M. 3.50; geb. M. 4.20

17) Seilmann, Prof. Dr.: Völkerkrieg und Volkslittlichkeit. (Das
Neue Zeitalter. Heft 4.) (32 S.) gr. 8°. Godesberg 1916. (Leipzig,
H G. Wallmann.) M. —30

18) Goetz, Prof. Walter: Deutfchlands geifliges Leben im Weltkrieg
. (Perthes Schriften zum Weltkrieg II. Heft.) (51 S.) 8». Gotha,
F. A. Perthes 1916. M. 1 —

Befreiungskriege und der Wille zu einer Erneuerung des
heutigen deutfehen Lebens, die Verbindung von Volkstum
und Menfchheitsidealen, ehrliche und gefunde Selbft-
kritik find charakteriftifche Momente der Gelämtbewegung.
Daß auch die Religion hierbei nicht zu kurz kommt,
zeigt die Verteilung von beinahe 6 Millionen Bibeln ufw.,
die dankbar aufgenommen find, oder die religiöfe Kriegs-
! literatur mit rund 1400 Schriften (weitere Notizen S. II.
I 37- 39)- — Seeberg19 hat die 1915 Sp. 315 angezeigte
! Schrift erheblich erweitert, was namentlich den Dar-
' legungen über die innerkirchliche Lage und über die
Neuorientierung unferer innern Politik zu gute gekommen
ift. Hingewiefen fei aber auch auf die beachtenswerte
Begründung der Überlegenheit des Deutfchtums auf die
Erhaltung aller Kräfte insgefamt, die in feiner Kulturentwicklung
wirkfam waren (40). In der neuerdings angeregten
Bekenntnisfrage findet S. das Heil in einer
,religiöfen und gefchichtlichen Interpretation' des Bekennt-
niffes, in der das .Zentrale' die beherrfchende Stellung
gewinnt (61), fo daß es dem .kirchlichen Geift', wie dem
,Geift einer modernen Kulturdeutung' (55) gleicherweife
Genüge tut; eine Formel, die das leiftet, verlucht er S. 62
zu bieten. S.s politifch-foziale Ausführungen zeigen eine
verftärkte Hoffnung auf durchfchlagende Kraft des ftaats-
i fozialiftifchen Gedankens, deffen Hemmungen infolge der
Kriegserlahrungen immer mehr an Kraft verloren haben.
! Ich widerftehe der Verfuchung, zu diefen intereffanten
Anregungen Stellung zu nehmen, weil das ohne eingehendere
Ausführungen, die hier unmöglich find, wertlos
bleiben müßte.

Amonn20 verflicht in bewußtem Gegenfatz zu den
.Verhandlungen des zweiten deutfehen Soziologentages'21
Nationalgefühl und Staatsgefühl begrifflich und real fcharf
zu unterfcheiden, um für einen Nationalitätenftaat nach
Art des öfterreichifch-ungarifchen, der ein Gebot politi-
fcher, gefchichtlicher und wirtfehaftlicher Realitäten fei,
Raum zu gewinnen. An Stelle einer einfeitig nationalen,
auf der Herrfchaft einer Nation über die andere beruhenden
Organifation des Nationalitätenftaates werde das
Problem der .internationalen' Organifierung des Nationalitätenftaates
immer dringender. Indem A. das Nationalgefühl
auf die pfychologifch - lbziologifche Größe der
Geiftes- und Kulturgemeinfchaft (nicht notwendig eine
phyfiologifch-biologifche) bafiert, das Staatsgefühl aber auf
die Gemeinfamkeit äußerer Machtmittel und die daraus
fließenden Tatfachen ( Recht, Zwang, Freiheit und fonftige
politifche Werte), verlangt er die Abgrenzung beftimmter
Wirkungsfphären für die Betätigung der eigentümlichen
nationalen Kräfte neben einer dem Spiele der nationalen
Kräfte entrückten rein ftaatlichen Wirkungsfphäre. Daß
im Nationalftaat, wo er möglich ift, Nationalgefühl und
Staatsgefühl fich gegenfeitig ftärken, er alfo das machtvollere
Gebilde ift, weiß natürlich auch A. Unter diefer
Vorausfetzung kann man ihm zuftimmen; nur kann ohne
Kulturgemeinfchaft ein modernes Staatswesen nicht gedacht
werden, fo daß auf dem Gebiete der Kultur die Konkurrenz
beider Prinzipien fich nicht, wie er meint aus-
fchließen läßt.

Wundts22 Buch ilt fchon als Skizze feiner Auf-

19) Seeberg, Keinhold: Was tollen wir denn tun? Erwägungen
und Hofingn. 2., neubearb. Aufl. (IV, 89 8.) 8". Leipzig, A. Deichen
191S- M- z_i s"eb- M. 2.40

20) Amonn, Prof. Dr. Alfred: Nationalgefühl und Staatsgefühl.
(Schriften des fozialwiff. akad. Vereins in Czernowitz. 8. Heft.) (46 S )
gr. 8°. München, Duncker & Humblot 1915. M. 1 —

21) Verhandlungen des 2. deutfehen Soziologentages vom 20. bis
22. Oktober 1912 in llerlin. (Schriften der deut. Gefelifchaft f. Soziologie
. L Serie, 2. Bd.) (VIII, 192 S.) gr. 8«. Tübingen, J. C. B. Mohr
1913. M. 4.40; geb. M. 6—. Die hierin enthaltenen Vorträge über die
Nationalität von Paul Barth, Simmel, L. M. Hartmann-Wicn, Fr. Oppenheimer
, Michels-Turin nebft DUkufflon follte Niemand, der fich mit dem
Problem der Nationalität befchärtigt, zu lcfen untcrlaflen.

22) Wundt, Wilhelm: Die Nationeu und ihre Philofophie. Ein
Kapitel zum Weltkrieg. (154 S.) kl. 8°. Leipzig, A. Kröner 1916.
Geb. M. 1.20