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Ausgabe:

1917 Nr. 2

Spalte:

29

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Autor/Hrsg.:

Ziehen, Theodor

Titel/Untertitel:

Die Psychologie großer Heerführer. Der Krieg und die Gedanken der Philosophen und Dichter vom ewigen Frieden. Zwei Vorträge aus der Kriegszeit 1917

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 2.

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zur Menfchheit), dem Individualismus mit abftrakter
Freiheit und Gleichheit die Sozialorganifation in Ordnung
und Gerechtigkeit. Einem Frieden gegenüber, der zur
.Götterdämmerung des Chriftentums und der getarnten
Religion' zu werden drohte, hat der Krieg den Rückgang
zunächft zum a. t. Nationalgott gebracht, aber auch der
fammelnde Liebesgedanke des Chriftentums ift (wie Treue
und Opferwilligkeit zeigen) einen Schritt vorwärts gegangen
und nicht rückwärts.

Ziehen10 bietet 1. eine anregende Durchführung
pfychologifcher Methoden an dem heute befonders inte-
reffierenden Beifpiel des großen Heerführers. Rezeptive
und kombinatorifche optifche Phantafie, letztere ,im Nebel
der Ungewißheit' divinatorifch arbeitend, gehört zu
feiner intellektuellen Ausrüftung. Im Unterfchiede von
der künftlerifchen Kombination ift die des Feldherrn
unerbittlich an die gegebene Wirklichkeit gebunden und
auf Einfachheit gerichtet; von der mathematifchen Kombination
ift fie darin unterfchieden, daß fie ftets an die
ganz fpeziellen Bedingungen des gegebenen Einzelfalls
anknüpft. Als Charaktereigenfchaften kommen befonders
Selbftvertrauen, Mut der Verantwortlichkeit, beide geftützt
auf ftark gefühlsbetonte Ideen, wie Ehrgeiz, Pflichtgefühl
oder ftarkes religiöfes Gefühl, ferner extreme Beherr-
fchung der Affekte, fchnelle Entfchlußfähigkeit, unerbittliche
Konfequenz, verbunden mit Veränderungsfähigkeit
in Betracht. Erblich ift die Begabung, weil zu zufammen-
gefetzt, faft nie, überhaupt unverhältnismäßig feiten wegen
der .kontradizierenden Tugenden', die dabei erforderlich
find. 2. gibt Z. eine Überficht über die Idee des ewigen
Friedens von den Träumen des goldenen Zeitalters an bis
zur heutigen Friedensbewegung. Letztere mit ihren
juriftifch-politifchen Zielen muß erfolglos bleiben, fo lange
es an den ethifchen Vorausfetzungen dafür fehlt. Dagegen
hat Kant (den allerdings Z. in der geiftigen Entwicklung
zu fehr ifoliert) recht, wenn er für eine kontinuierliche
Annäherung an den ewigen Frieden eintritt
und diefe von der fleh ausbreitenden Anerkennung einer
auch die Handlungen der Staaten beftimmenden allgemeinen
Rechtspflicht erwartet. Der Begriff folcher bindenden
Rechtspflicht erfcheint mir allerdings prekär, aber
ficher, daß eine ftetige Annäherung an den Völkerfrieden,
i'oweit eine folche möglich ift, nur von der Verbreitung
der Anerkennung flttlicher Autonomie der Einzelnen
wie der Völker ausgehen kann. — Kayfer11 bietet
1. J. J. Rouffeaus ,Auszug aus dem Plane zu einem ewigen
PYieden des Hrn. Abbe von St. Pierre nebft Bemerkungen
über Rouffeaus Verhältnis zu St. Pierre, die auf Fefters
Unterfuchung zurückgehen. 2. Kants Traktat zum ewigen
Brieden. 3. Einfchlägige Auszüge aus Herders Schriften,
namentlich den .Briefen zur Beförderung der Humanität'.
Ein Schlußkapitel bietet einige Notizen über die weitere
Entwicklung des Friedensgedankens von ungleichem Wert.
Die Zufammenftellung wird manchem willkommen fein.

Mulert12 behandelt in Vorlefungen, die aus der
Stimmung des erften Kriegsfemefters herausgewachfen
find, in fleißiger hiftorifcher Orientierung und mit felb
ftändigem SUrteil das Verhältnis des. Chriftentums zu
Volkstum, ntaat und Krieg. M. ift fleh klar über den
Abftand utferer Welt von der der Bergpredigt (162),
aber er häl mit Görres daran feft, daß alle Macht der
Staaten nicht in der Lage fei, ein moralifches Weltgefetz
zu nichte zu machen (181). Herausgehoben fei noch die
umfichtige Behandlung der Frage nach der Germanifie-

10) Ziehen, Prof. Dr. Thdr.: Die rfychologie großer Heerführer.
Der Krieg u. die Gedanken der Philofopnen u. Dichter vom ewigen
Frieden. Zwei Vorträge aus der Kriegszeit. (94 S.) gr. 8°. Leipzig,
J. A. Barth 1916. M. 2.50

11) Kayfer, W.: Rouffeau, Kant, Herder über den ewigen Frieden.
(Allgemein-pädagogifche Schriften. Hrsg. v. K. Rößger.) (132 S.) gr. 8».
Leipzig, SchulwiflT. Verl. A. Haafe 1916. M. 2.20; geb. M. 2.80

12) Mulert, Priv.-Doz. Lic. Hermann: Der Chrift und das Vaterland
. (Zur inneren Erneuerung Deutfchlands. I.) (VIII, 227 S.) 8».
Leipzig, J- C. Hinrichs 1915. M. 2.60; geb. M. 3.60

rung des Chriftentums: auch die Völker müffen wiedergeboren
werden. — Schian13 bietet 1. eine eindringende
Analyfe der religiöfen Bewegung des erften Kriegsjahres
und fleht darin ein wertvolles Gotteserlebnis in erregter
Zeit; 2. würdigt er ,die deutfehe Kriegsfrömmigkeit'
als nationale Frömmigkeit; recht gibt er der Ablehnung
des religiöfen Internationalismus als eines gefchichtslofen
Standpunktes, warnt aber auch vor nationaler Selbftüber-
hebung: chriftliche Frömmigkeit darf, ja muß national
fein, aber fle muß chriftlich bleiben. Dem ftimme ich
zu, finde aber das Problem der religiöfen Vergewifferung
über unfere nationalen Hoffnungen bei S. nicht befriedigend
gelöft. Die Betonung unferes Mangels an Einficht
in Gottes Willen über unfer Volk hat gewiß ihr
Recht, darf aber doch von der Kanzel nicht fo geübt
werden (wie es nicht feiten gefchieht), daß fie die fitt-
liche Widerftandskraft lähmt. 3. Der Auffatz über
.Deutfches Chriftentum' erkennt eine Wefensverwandt-
fchaft des Proteftantismus mit deutfeher Art an; nur
darf man weder nicht-evangelifches Deutfchtum, noch
nicht-deutfehen Proteftantismus ausfchließen wollen, muß
fich alfo darauf befchränken zu fagen, daß im Proteftantismus
die Verbindung deutfeher Art und chriftlicher
PTömmigkeit befonders kräftigen Ausdruck gefunden
habe. Das zweite Schriftchen14 fpricht fich in trefflich
klaren Worten wider die Verwechslung der Liebespredigt
mit falfchem kirchlichen Internationalismus und für
die Zufammengehörigkeit von Kirche und Volk aus. —
Ihmels15 hat feine kleine 1915 Sp. 162 angezeigte Schrift
völlig umgearbeitet und bietet eine auf der Höhe der
gegenwärtigen Diskuffion flehende, tiefgründige Erörterung
der religiös-ethifchen Kriegsprobleme. Die vielzitierten
Worte der Bergpredigt will er ,lediglich' als
.volkstümlichen und nachdrücklichen Ausdruck' einer
Gefinnung verliehen, die in königlicher Freiheit und
Selbftverleugnung angetanem Unrecht gegenüberfteht;
überdies wird lediglich eingefchärft, was aus dem Wefen
des Reiches Gottes folgt, ohne Rückficht auf die natürlichen
Lebenszufammenhänge, in diejefus fich fonft überall
mit Bewußtheit hineingeftellt hat (u. 12. 15). Daß auch
hiermit das Problem noch nicht gelöft ift, zeigt die Annahme
, daß in der Szene gegenüber dem fchlagenden
Knechte Jefus ,im Erleiden des Unrechts keinen Schritt
weiter gehen wollte, als ihm der Wille des Vaters zu
fein fchien'(i3). Denn diefer Wille deckt fich doch wohl
mit dem in der Bergpredigt verkündigten Gotteswillen
und diefer muß, wenn irgendwo, rein in der Palfion zum
Ausdruck kommen. Ganz ftimme ich J. zu, wenn er es
ablehnt, zwifchen Reich Gottes und Krieg eine Vermittlung
durch den Gedanken der Liebe (zum Nächften) zu fchaffen,
wohl aber eine Verbindung in der Idee der Gottesliebe
findet, fofern der Menfch im Sichverlieren an Gott fich felbft
neu findet. Diefe Behauptung des ethifchen Berufes ift
freilich, auch darin hat J. Recht, nicht denkbar ohne
Bruderliebe. Ift aber Liebe im n. t. Sinne ,der Wille zu
J perfönlicher Gemeinfchaft, um in diefer Gemeinfchaft zu-
I gleich den andern zu fördern' (40), fo ift diefer in feiner
Verwirklichung abhängig vom Willen des Andern. Dem
Feinde gegenüber hat er daher fich nur als Bereitfchaft
zur Gemeinfchaft zu äußern. Diefe wird fich in der Abwehr
maßlofer, nationaler Erbitterung, in der Vermeidung
unnötiger Verfchärfungen der Kriegsführung, im Liebes-
dienft gegen die wehrlos gewordenen Einzelnen, insbe-
fondere aber in der grundfätzlichen Anerkennung des
nationalen Berufes auch der feindlichen Völker zu bewähren
haben, fchließt aber ehrlichen Zorn nicht aus; im

13) Schian, Prof. D. Dr. Martin: Das deutfehe Chrißentum im
Kriege. (II, 80 S.) 8°. Leipzig, J. C. Hinrichs 1915. M. I—

14) — Hie evangelifche Kirche und der Krieg. (Volksfchriften
zum großen Krieg, 42.) (20 S.) 8°. Berlin, Verlag des Ev. Bundes
1915. M. —20

15) Ihmels, Prof. D. Ludwig: Der Krieg und die Jünger Jefu.
3., völlig umgearb. u. verm. Aufl. von ,Der Krieg im Lichte der chrift-
lichen Ethik'. (VI, 64 S.) 8». Leipzig, A. Deichert, 1916. M. 1.50