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Ausgabe:

1917

Spalte:

27-28

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Autor/Hrsg.:

Scholz, Heinrich

Titel/Untertitel:

Der Krieg und das Christentum 1917

Rezensent:

Titius, Arthur

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Seite 1

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28

Umftänden geführt wird, die die fiegreiche Wahrung
diefes Intereffes mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit vor-
ausfehen laffen (136—38). Letztlich entfcheidet, auch nach
religiöfer Auffaffung, der Erfolg; gut ift die Sache, die
dauernd und entgültig fiegt (247 ff). Man wird die Wahrheit
, die in diefen Sätzen liegt, nicht verkennen und doch
urteilen müffen, daß G. die rein ethifche Auffaffung verkürzt
, wenn er meint, daß die Frage der Verantwortlichkeit
für einen Krieg nur geringe Bedeutung habe und
die ,rein gefühlsmäßigen und moralifchen Triebfedern
einen bloßen Oberbau' bilden (17. 18). Die Gegenwart
zeigt, ein wie gewichtiges Kampfmittel die gegenfeitigen
Anklagen bilden. Und das mit Recht. Denn in der
Herbeiführung des Kampfes liegt, wie G. felbft bemerkt,
ein Verzicht auf die Entfcheidung nach Rechtsgrund-
fätzen (133). Diefer Verzicht aber kann nicht durch allgemeine
Sätze über den Kampf ums Dafein gerechtfertigt
werden und wird in dem Maße als unerträglich
und fchuldvoll empfunden werden, als die Schwere und
Furchtbarkeit der Zufammenftöße fich fteigert, während
gleichzeitig die Zufammengehörigkeit der ganzen Menfch-
heit empfunden wird und Anfänge gemeinfamer Rechts-
organifation fich anbahnen. Die Friedensfehnfucht der
Menfchheit wird gerade durch den gegenwärtigen Krieg
außerordentlich wachfen, ohne daß man darin eine Alters-
erfcheinung der Völker erblicken dürfte. Auch die
Forderung der Nächftenliebe, deren Geltung auch für
den Kriegszuftand nicht völlig abgelehnt wird (.Nicht
hafien, fondern Tiegen ift die Aufgabe' loof.), weift auf
den gleichen, über Kampf und Streit hinausliegenden
Zufammenhang der Menfchheit und damit auf Probleme,
die von G. noch nicht ausreichend in Betracht gezogen
find.

Tiefer gräbt an diefem Punkte Scholz5 in einem
gedankenreichen Schriftchen. Das fchöpferifche Leben
der Menfchheit, fo erkennt er mit Recht an, ift feinem
Wefen nach polyzentrifch, und das pfychophyftfche
Wefen des Menfchen mit feinen materiellen Bindungen
bringt Intereffengegenfätze mit fich; jede Entwicklung
fchafft Verwicklungen. Die Gefchichte enthält ein irrationales
Element, fofern die Gefchicke der Völker vielfach
vom ,Schickfal', von zufälliger Kombination der
Umftände, nicht von Intellekt und Wille abhängig find
(20 ff.). So ergibt fich ein tragifches Ineinander von
Auffchwung und Verfchuldung, Erbteil und Wille (55 f.).
Löft der Krieg die Verwicklung durch Gewalt, fo ift
davon das Chriftentum der Bergpredigt als heroifche
Tugend unbewaffneter Herzensgüte diametral verfchieden;
die Kriegsinftinkte find Jnftinkte des Antichriftentums'
134), die Kriegsaffekte (Ehrgeiz nach Größe, Ehrgefühl)
keine ,Motive des Chriftentums' (351, der Zufalls- und
Schickfalsftandpunkt ift ebenfalls nicht chriftlich. Ein
Ausgleich wird erft möglich, wenn wir auf den Buch-
ftaben der Bergpredigt verzichten und die ,von ihren
chronologifchen Irrtümern befreite und für das innerweltliche
Leben mit feinen Hebungen und Senkungen er-
fchloffene religiöfe Denkweife des Neuen Teftaments in
Betracht ziehen' (45). So vei ftanden fchließt das Chriftentum
auch die ernftliche Schätzung der Tugenden in fich,
durch die der Wille zu einem würdigen Leben (ohne das
wir auch ein gotteswürdiges nicht denken können) in den
großen Krifen der Menfchheitsgefchiche die Werke der
göttlichen Liebe verdrängt (46). Wo die Motive einer
Ehrfurcht vor dem Leben, die der Ehrfurcht vor Gott
entfpringt, zu .heiligem' Kriege führt und diefer Mittel ift
für einen Frieden, der ,dem Gleichgewichtsprinzip' Rechnung
trägt und auf das Weltherrfchaflsprinzip verzichtet,
da kann auch vom Chriftentum aus nichts eingewendet
werden (8. 26. 50), nur daß es die Kriegsinftinkte dauernd
zu bekämpfen, die Kriegsaffekte zu kontrollieren hat und

5) Scholz, Priv-Doz. Lic. Dr. Heim.: Der Krieg u. das Chriftentum
. (Perthes Schriften zim Weltkrieg 7.) (VII, 80 S.) Gotha, F. A.
Perthes 1915. M. 1 —

fich mit .Zufall' und .Schickfal' auseinanderfetzen muß.
Dem kann ich im Wefentlichen zuftimmen. Nur würde
ich ftärker die Linien ziehen, die fchon im N. T. zu diefer
Auffaffung hinführen (unrichtig ift, daß Ehrgefühl fich als
chriftliches Motiv nicht nachweifen laffe; vgl. meine
Ausführungen über die paulinifche xavyrjOig), ftärker das
Willensproblem und die Schuld fowie die Rückwirkung
des Krieges auf den Willen betonen. Unzureichend ift
die Auffaffung des fog. Mordens im Kriege als eines ,im
tiefften Sinn iymbolifchen Aktes' (33). Hier begnüge ich
mich, auf die wertvolle Analyfe von Gomperz hinzuweifen
(95ff). Vor allem wird man den Kampf, was wohl auch
Scholz vorfchwebt, nicht rein individualiftifch, fondein
vom Gefichtspunkt der Volkseinheiten anfehen müffen. —
Eine weitere Ergänzung bietet Spitta0; er faßt in inter-
effanter Begründung den Heldentod als freigewolltes
Opfer für ein höheres Leben, deffen Verwirklichung eben
an felbftlofen Einfatz gebunden ift. Demgemäß bleiben
die todeswunden Helden unauflöslich an das Neue der
folgenreichen Zukunft gebunden. v. Wilamowitz-
Möllendorffs7herrliche Rede über .Heroentum' beftätigt
diefe Ausführungen vom Hellenentum aus. Das Heroentum
ift gebunden an den Verluft des irdifchen Lebens; in
ihrem Erdendafein haben fich die Heroen eine tätige
Fortexiftenz verdient und wirken weiter auf Erden als
Wächter der Lebenden. Auch aus der Betrachtung des
taufendjährigen Ringens zwifchen .Orient und Okzident'
oder des .Weltreichs des Auguftus', aus dem Füllhorn
der .hellenifchen Mufe' und felbft aus der faft verklun-
genen .Harmonie der Sphären' heraus weiß er Gedanken
von überrafchender Gegenwartskraft zu gewinnen. Die
meiften der 13 Reden befaffen fich unmittelbar mit der
Gegenwart und ihrer Vorgefchichte. Mit einer Redekunft,
der alle Gattungen vom Plauderton, bis zu begeifterter
Gebetsanfprache zu Gebote flehen, aus dem gediegenen
Reichtum eines umfaffenden Wiffens und der perfönlichen
Erfahrung eines langen Lebens wird eine Vereinigung
von Hellenentum, Deutfchtum, Menfchheitskultur dargeboten
von höchfter werbender Kraft; der Tag der
Deutfchen ift die Ernte der ganzen Welt (37). In der
Harmonie der Staaten und Völker liegt die Zukunft der
Weltkultur, nicht aber ift fie auf den Spuren der Weltherrfchaft
Roms oder des nationaliftifchen Bildungsdünkels
des Hellenentums zu erreichen (142. 269). Der .Hauptmann
' wird als .Hochfchullehrer des Volkes' gerühmt (84),
aber nicht minder anerkannt, daß höchftens der Fellache
es verträgt ,in allem nur Objekt zu fein' (224).

Thyll8 führt allzu aphoriftifch, aber nicht ohne Kraft
den Gedanken aus, daß Ziel des Weltwillens, dem auch
der Krieg dienen muffe, die Entwicklung der Kräfte des
Gemütes fei, deren .höchfte, fchwer verftändlichfte und
am widerwilligften aufgenommene Verwirklichung' das
wahre Chriftentum fordert (21). Die Gefchichte hat die
nach Selbftüberwindung ftrebenden Kräfte, ihren mit
hohem Pflichtgefühl und echter Begeifterung verbundenen
I Kampfwert oft höher gewertet als allen Verftand der
Verftändigen (19). Über den Gang, den die Gefchichte
einfchlagen will, kann bei der Probehaltigkeit des echten
Deutfchtums ein Zweifel nicht beftehen (ll. 27). —
Kjellen* der durch inhaltsreiche und verftändnisvol'e
politifche Schriften weithin bekannt gewordene fchwedi-
fche Hiftoriker, ftellt in zwei Vorträgen ,die Ideen von
1914' denen von 1789 gegenüber, dem kosmopolitifchen
Ideal das nationale (die .Vaterlande' find der rechte Weg

6) Spitta: Prof. Dr. Heinrich: Heldentod. Studien zur vergleichenden
Pfychologie. (Durch Kampf zum Frieden. Heft X.) (32 S.)
8U. Tübingen, Kloeres 1915. M. —50

f 7) Wilamowitz-Moellen dorff, Ulrich v.: Reden aus der
Kriegszeit. (III, 295 S.) 8". Berlin, Weidmann 1915. Geb. M. 3.75

8) Thyll, Dr. Robert: Weltgefetz und Weltkrieg. (28 S.) gr. 8".
Frankfurt a. M., M. Diefterwcg 1915. M. —60

9) Kjeilen, Prof. Dr. Rudolf: Die Ideen von 1914. Eine weit-
gefchichtl. Perfpeklive. Deutfch v. Dr. Carl Koch. (46 S.) 8". Leipzig,
S. Hir/.el 1915. M. —80