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Ausgabe:

1917

Spalte:

440-442

Autor/Hrsg.:

Heim, Karl

Titel/Untertitel:

Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion 1917

Rezensent:

Ritschl, Otto

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In der Frage von des Landgrafen Doppelehe: ,Mit wundervoller
Klarheit und Folgerichtigkeit fteht L. der ganzen
Frage gegenüber. Er überragt weit alle an dem
Handel Beteiligten. Um eine Gewiffensfache ift es ihm
ausfchlieLilich zu tun, nicht um ein politifches Gefchäft
wie Bucer, gefchweige um Legitimation der Sinnlichkeit
wie dem Landgrafen'. Die Schranke ift nur, daß er eine
gefchichtliche Entwicklung innerhalb der Bibel nicht kennt.
Auch feine fchließliche Forderung der Lüge, der Ableugnung
, ift' einfach, Konfequenz feiner Überzeugung, daß
die Doppelehe nur vor Gott befteht, vor der Öffentlichkeit
einfach nicht exiftiert (S. 113). Sehr wertvoll ift
das Schlußkapitel ,Der Mann und fein Werk' S. Ii8ff.
Aus der Einleitung fei die treffende Charakteriftik des
Erasmus hervorgehoben. Wenn K. als Luthers Größtes
das bezeichnet, daß er ,die objektive Begriffswelt fo völlig
durchdrungen, daß fte zwar nicht ihre Exiftenz, wohl
aber ihren Wert verlor, und ftatt deffen der Anker der
Lebensbehauptung auf den Boden des Subjekts und feiner
Erfahrung fiel', und von hier aus diejenigen, welche jene
jüdifch-paulinifche Welt beifeite fchieben und konfequent
von unten vom Subjekte her entwickelnd aufbauen', gegen
den Vorwurf des Abfalls von Luther in Schutz nimmt,
fo möchte ich dagegen doch betonen, daß für Luther
es zur Lebensbehauptung auf dem Boden des Subjekts
nur fo kommt, daß fich ihm die Werte der objektiven
Begriffswelt erfchließen; losgelöft von diefen fchwebte
fein Glaube in der Luft.

Die Darftellung mit ihrem Reichtum an knapp gefaßten
pointierten Gedanken verlangt gebildete und auch gefchicht-
lich orientierte Lefer; einzelnes hätte durch Vermeidung
von Fremdwörtern der wiffenfchaftlichen Sprache ver-
ftändlicher ausgedrückt werden können, wie z. B. ,täuferifche
Apolitie' (S. 82. 95). Verfehen find mir aufgefallen in
dem Zitat S. 124: ,Erbarmung, deffen ich nicht wert' und
gleich auf S. 1 in dem Singul. ,an unzähliger Stätte'. Möchte
für den Züricher Kirchenhiftoriker bald der^uckweg
zu einer Hochfchule Deutfchlands fich öffnen! ^^•haben
keinen Überfluß an Reformationshiftorikern.

Berlin. KaWrau.

Buchwald, D. Dr. Georg: Gefchichte der deutfchen Reformation
. Eine Gabe f. das Reformationsjubiläum 1917.
2. Aufl. (157 S.) gr. 8«. Halle, Buchh. des Waifen-
haufes 1917. M. 3—; geb. M. 3.80

Buchwald bietet für das Reformationsjubiläum weiteren
Kreifen eine Gefchichte der deutfchen Reformation. 1
Das ift ficher erwünfcht. B. nennt uns auch die Werke, an
die er fich gehalten, vorzugsweife Brieger, Ranke, Berger,
Baumgarten u. A. und gibt öfters bei Lehnftücken ihre
Namen an, öfters aber follten fie nicht fehlen. Nach dem
Eingang ,Am Vorabend der Reformation' folgen fechs größere
Teile: I. Der Reformator. II. Die Entwicklung der Ref.
ohne Hinderung durch das Reich bis 1529. III. Die
deutfche Ref. in Bedrängnis durch die erftarkte kaiferliche
Macht bis 1532. IV. In neuer Kraft zu neuen Siegen bis
1544. V. Der Schmalkaldifche Krieg. VI. Die Rettung
des deutfchen Proteftantismus. Die Anordnung läßt da
und dort zu wünfchen übrig. Zwingiis Wirken läßt
fich in III nicht unterbringen. Ein Abfchnitt müßte
heißen: Hemmungen 1. durch die Bauern. 2. durch die
Täufer, 3. durch den Abendmahlsftreit. Scharf müßte
die Art der Einführung der Reformation gegenüber
ihrer Bekämpfung mit Feuer, Strick und Schwert durch
den Reichsprofofen Aichelin, dem taufende von Men-
fchen zum Opfer fielen, gezeichnet fein. S. 96 und 97
genügen nicht. Auch der Täufermärtyrer, z. B. des edlen
Mich, Sattler, dürfte gedacht werden. Bei Erwähnung
des Antinomismus wäre doch Agricola zu
nennen, wie auch der Vertreter der Vermengung von
Rechtfertigung und Heiligung her gehört. Daß B. fich

beim Siegeszug der Ref. durch ganz Deutfchland Befchrän-
kung auferlegt, ift verftändlich, aber der Süden kommt
neben dem Norden etwas zu kurz. Jedenfalls müßte
hier alles genau fein. Aber S. 121 lefen wir, daß Philipp
von Heffen 1534 dem rechtmäßigen Gebieter, Ulrichs
Sohn Chriftoph, das Erbe feiner Väter zurückgegeben
habe, und doch regierte Ulrich 1534—HS0» führte die
Reformation ein und bewährte feine Glaubenstreue im
Interim als Abdias, wie Brenz ihn nach 1. Kg. 18,3 nannte.
Neben Schnepf dürfte Ambr. Blarer nicht vergehen werden.
Dann erft kommt Brenz in Betracht. Die großartige
Haltung der Prediger und des Volkes in Württemberg
wie auch des Sohnes Philipps im Interim gegenüber dem
zermürbten Philipp und dem Judas von Meißen' und
feinen Theologen und Ständen wäre hervorzuheben. S.
150 wird wohl erwähnt, daß Melanchthon fich mit zwei
andern Theologen auf den Weg nach Trient machte,
aber unerwähnt bleibt, daß Brenz mit drei andern württem-
bergifchen lheologen und zwei Straßburgern trotz ungenügenden
Geleits in Trient am 18. März erfchien, das
Konzil aber nicht den Mut hatte, fie anzuhören, fondern
rafch die Sitzung vom 19. März auf 1. Mai verlegte.

Für eine neue Auflage wäre eine Reihe Verbelferungen erwünlcht.
S. 61. Luther hat fich nicht fehon im Hcrbft 1521 an die ÜberfeUnng
des N. T. gemacht. Am 18. Dez. redet er zum erften Mal davon. S. 93.
U. Rhegius war nie Karmeliter. S. 95 ift zu lefen: Prediger des Evangeliums
traten zeitweilig auf in Würzburg, Salzburg, Hall im Inntal,
Wimpfen (wo die Reformation erft 1546 durch Ifenmann eingeführt
wurde). Nicht zu vergeffen ift Rottenburg am Neckar, der heutige Bi-
fchofsfitz, mit den feurigen Predigten des jungen Andreas Keller. S. 99
Z.3 1. Lauge ftatte Lauche. S. 103 Kuhfirften kennt Ritters geogr.
Lex. fo wenig als Baedecker. Gemeint find dieChurfirften. S. 107. Der
Kaifer berief den Reichstag t5"o nicht nach Worms, fondern von Anfang
nach Augsburg. S. 115 Schmalkalden ift nicht die Refidenz des
Landgrafen. S. 73 ift geragt: Für die fchwäbifchen Bauern hatte ein
Kürlchner und ein Prediger ihre Forderungen in zwölf Artikeln aufgekellt
. Der Prediger konnte nur Schappeler fein, der feine Teilnahme
daran ftets beiträten hat. Der wackere Lotzer, der Bauernkanzler,
hätte eine Nennung mit Namen verdien:. «

Stuttgart. G. Boffert.

Heim, Karl: Glaubensgewißheit. Eine Unterfuchg. über
die Lebensfrage der Religion. (IV, 200 S.) gr. 8°.
Leipzig, J. C. Hinrichs 1916. M. 3.80; geb. M. 4.80

Nachdem der Verf. vor fünf Jahren eine fehr verdienft-
liche Monographie über das Gewißheitsproblem in der
fyftematifchen Theologie bis zu Schleierniacher (vgl. dazu
meine eingehende Auseinanderfetzung mit diefem Buche
in den Th. St. u. Kr. 1913 S. 466 ff.) veröffentlicht hat,
bietet er jetzt eine neue Arbeit über die Glaubensgewißheit
felbft dar. Diefes Buch fteht mit dem früh er n in
einem ideellen Zufammenhange, ohne doch deffen Gedankengänge
felbft wieder aufzunehmen und weiter zu entwickeln
. Dagegen führt es uns auf ein anderes Gebiet
der Betrachtung, indem es fich mit feinen hauptfächlichen.
Ausführungen nicht in der eigentlich dogmatifchen, fondern
in einer vielmehr natürlichen Theologie bewegt und fich
demgemäß auch an Nichttheologen wendet. Ob freilich
dem Verf., wie er hofft, auch folche ,nicht akademifch
Durchgebildete zu folgen vermögen', ift mir nicht gerade
wahrfcheinlich. Dazu macht er doch allzu hohe Anfprüche
an ein hochentwickeltes abftraktes Denken und fetzt bei
feinen Lefern geradezu eine ungewöhnliche Fertigkeit der
erkenntnistheoretifchen Reflexion voraus.

Andrerfeits ift durch jene literarifche Abficht des Verf.
der Charakter feines Buches wefentlich beftimmt. Indem
er ,zunächft einmal eine allgemeine Grundlage hat fchaffen
wollen, auf der wir uns mit allen denkenden Menfchen
verftändigen können' (S. 188), bekundet er fein durchaus
apologetifches Intereffe an der von ihm behandelten
Präge. Aber er treibt Apologetik im vornehmften Stile,
ganz ohne die Kleinlichkeit, Ängftlichkeit und Schwächlichkeit
, die die apologetifchen Leiftungen fonft oft i'o
unerfreulich, machen. Er hat den großen und tiefen Blick
für das, was für die religiöfe Weltanfchauung wefentlich