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Ausgabe:

1917

Spalte:

438-439

Autor/Hrsg.:

Köhler, Walther

Titel/Untertitel:

Martin Luther und die deutsche Reformation 1917

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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lige fympathifch zu verliehen. Wer von uns empfände
nicht die rührende feelifche Größe eines Franziskus von
Affifi. Und find auch nur wenige Heilige von der gewinnenden
Art diefes Mannes, fo ift doch auch evange-
lifchen Forfchern das Auge aufgegangen z. B. für das
Große und Gute in Ignatius von Loyola. Die moderne,
nur allzu beliebt gewordene Religionspfychologie hat an
den Heiligen ein befonders willkommenes Objekt gefunden
. Da reden noch viele freilich mit, die nur wie Blinde
von den Farben reden. Anderfeits hat R. unrecht, wenn
er meint, letzlich könne doch niemand die Heiligen ,ganz'
würdigen als ein gläubiger Katholik. Ein Satz, wie der,
den er S. 7. in Farenthefe bringt: ,die Bedeutung der
evangelifchen Räte wird beifpielsweile dem Nichtkatholiken
ftets verborgen bleiben', ift töricht. Wenn er gefchrieben
hätte, der fittlich flach empfindende Menfch könne diele
,Räte' nicht richtig abfchätzen, fo würde ich ihm zu-
ftimmen. Was einen Evangelifchen an der katholifchen
Lehre von den consilia evangelica abflößt, was er als
fittiichen Irrtum darin anfleht, ift nur die Art ihrer Verbindung
mit der Idee der /Vollkommenheit'. Und ihre
Spezifizierung auf Einzelleiftungen als folche. Wer bei
uns die Seele dem fittiichen Ernfte des Evangeliums
offen hält, begreift, was die katholifche Lehre einen ,Rat'
des Evangeliums nennt als den Gedanken des individuellen
fittiichen .Berufs'. In diefem Gedanken ift gegebenenfalls
jede, auch die höchfte Verzichtleiftung als Forderung
mitgefetzt, und zwar ohne die Vorftellung einer ,befonderen'
Vollkommenheit oder die Idee, daß .Vollkommenheit'
eine Forderung fei, die nicht jedem gelte. Die evangeli-
fche Art des Schuldgefühls ift darum eine fo tiefe, weil
jeder' fich dem Maßftabe der Vollkommenheit unterftellt
wiffen muß. Die pofitive Kehrfeite des Schuldgefühls ift
Demut. Demütige katholifche Heilige können immer
deffen gewiß fein, von uns innerlich verftanden und demgemäß
geehrt (um nicht zufagen: verehrt) zu werden.

Das Thema des R.'fchen Buchs ift ein begrenztes.
Eine ganze Reihe von Fragen, die zur .WiffenfchafiV von
den Heiligen der katholifchen Kirche gehören, wird gar-
nicht berührt. Vom Heiligenkult, feinen Formen, feinen
dogmatifchen und kanoniftifchen Bedingungen ift keine
Rede. Unterfchiede wie Heiligfprechung und Selig-
fprechung, die Forderungen des Kanonifationsprozeffes,
die Wunder der Heiligen werden kaum geftreift. An
das Brevier und die in ihm der Andacht vorgehaltenen
Legenden wird S. 33 nur mit kürzefter Bemerkung einmal
gerührt. Die Gefchichte des Heiligenbegriffs ift nicht
ausgefchaltet, aber fehr dürftig gehalten. Bloß linguiftifch-
lexikalifche Bemerkungen reichen nicht. Was die Griechen
unter ctyiog, die Lateiner unter sanctus verftanden
haben, ift nicht entfcheidend. Der chriftliche Heiligenbe-
grifi geht vom A. T., fpeziell von Dan. 7 (dem .heiligen
Volk des Höchften') aus. Die neueren Forfchungen kennt
R. nur zum Teil. Doch will ich mich daran erinnern
laffen, daß das Sammelwerk, zu dem R's Monographie
gehört, nicht in elfter Linie der Wiffenfchaft als folcher
dient, fondern auf wiflenfchaftlicher Grundlage populär
fein foll. Es gleicht, wenn auch in anderer Faffung, den
.Religionsgefchichtlichen Volksbüchern', die von evangelifchen
Forfchern feit einer Reihe von Jahren herausgegeben
werden. Was R. fich direkt vorgefetzt zu leiften,
ift eine Schilderung bzw. Verdeutlichung des .Lebens'
der Heiligen, nämlich fo, daß man deffen inneres ,Wefen'
im Unterfchiede vom Leben folcher Chriften, die nicht
zu ihrer Höhe gelangen, fehen und verliehen lerne. Natur
und Gnade ift daran beteiligt. Aber beides ift auch im
fchlichten .gemeinen' Chriftenleben wirkfam. Nun will
R. nicht wie ein Dogmatiker überhaupt Natur und Übernatur
(Gnade) gegeneinander abgrenzen, fondern unter
Vorausfetzung diefes Gegenfatzes, der doch begrifflich
kein unbedingter oder völliger ift, die Vielfeitigkeit und
.Erhabenheit' des Heiligenlebens anfchaulich machen.
Man kann nicht fagen, daß er als ein bloßer Lobredner

auftrete. Eher als ein Anwalt desfelben, der .Mißdeutungen'
zu befeitigen ftrebt. Er gibt viele Proben von Gedanken
der Heiligen über fich felbft. Im wefentlichen fetzt er
Kenntnis der Lebensgefchichten der Heiligen voraus.
Was ihm anliegt, ift großenteils pfychologifche Beleuchtung
der inneren Erlebniffe, der Beftrebungen und religiös-
fittlichen Leiftungen der Heiligen, ihres .Charakters' als
.Heroen' des Chriftentums. R. handelt vom .Werden der
Heiligenperfönlichkeit', vom .Tugendheroismus des Heiligen
', fcheut nicht Fragen wie die nach der .Pathologie der
Heiligkeit', (Fanatismus, Selbfthypnofe, Erotik). Die ,Ver-
fchiedenheit der Heiligen', den Einfluß .fozialer Faktoren',
der Nationalität, der Zeitlage, der Herkunft, des Standes
etc. auf ihre Fintwicklung, die Bedeutung, die ihre geiftige
Begabung, ihre Temperamentsveranlagung, Alter und
Gelchlecht, für die Art haben, wie fich ihre Heiligkeit
zeigt, all folchesbringt R. zur Sprache, auch die .Sonderbarkeiten
und Übertreibungen im Leben der Heiligen'.
Die Rolle, die die Sünde in ihrem Leben gehabt, ihre
etwaigen .Bekehrungen' faßt er ins Auge. Ein Kapitel
hat die Überfchrift ,Der Heilige und der Leib'. Auch
der Wandel des .Heiligenideals' wird vorgeführt. Das
letzte Kapitel hat die Überfchrift /Der Heilige und
die Innenkultur'. Es handelt von .Heiligkeit und Geiftes-
kultur' (.Geringfchätzung der Kulturgüter bei einzelnen
Heiligen'), .Heiligkeit und Seelenkultur' (die .Wahrhaftigkeit
der Heiligen', ihre .Originalität', ihre .Demut', ,edle
.Menfchenliebe'). Schließlich vertritt R. die Thefe, daß
der .Heilige und der Edelmenfch verwandt' find. Man
kann über vieles im einzelnen natürlich fehr anders denken
, als R. Alles Peinliche an den Heiligen wird von
von ihm fchließlich in Pietät .bedeckt', nur das Schöne
an ihnen .gezeigt'. Aber der Gefamteindruck feines Buchs
ift von der Art, daß man folchen Katholizismus nicht
gering einfchätzen wird.

Halle. F. Kattenbufch.

Köhle^B'rof. Dr. W.: Martin Luther und die deutfche Re-
fortmmon. (Aus Natur u. Geifteswelt, 515.) (V, 135 S.)
kl.8°. Leipzig,B.G.Teubner 1916. M. 1.25; geb.M. 1.50

Der Züricher Reformationshiftoriker bietet hier zum
Reformationsjubiläum eine Betrachtung des Lebens und
Lebenswerkes Luthers, bei der es nicht fo fehr um Dar-
ftellung der Tatfachen zu tun ift, als um Verftändnis der
geiftigen Werte, um die er gerungen und die er der
Ghriftenheit, auch uns noch erftritten hat. Und doch ift
es Gefchichte, die K. vorführt, bald ausführlicher, bald
kürzer zufammenfaffend, aber nicht am äußeren Verlauf
haftet das Intereffe, fondern an dem Ertrag für ihn felbft
und für fein Werk. Danach beftimmt fich die Auswahl
aus der Fülle des Stoffes. Es ift erftaunlich, wieviel dabei
auf 135 Seiten verarbeitet ift, auf wieviel Fragen man hier
Antwort findet. Genaue Vertrautheit mit den kontrover-
fen Punkten wie mit den neueften Forfchungen macht
fich überall bemerkbar. So ift ein gebildeten und inter-
effierten Lefern höchft empfehlenswertes Buch entftan-
den, das unbedenklich dem Bellen, das über L. aus Anlaß
des Reformationsjubiläums gefchrieben worden ift, zugezählt
werden kann. Um einzelnes herauszuheben: Die
Fintdeckung der .Gerechtigkeit aus Glauben' fetzt er zwi-
fchen 1512 und 13 (S. 25). Der römifche Ketzerprozeß
gegen Luther tritt in feinen verfchiedenen Phafen und
den dabei mitwirkenden verzögernden oder vorwärts treibenden
Faktoren auf Grund der neueren Forfchungen,
anfchaulich hervor. Über Luther im Bauernkriege das
Schlußurteil: .Luthers Gewiffen der Bauernrevolte gegenüber
ift rein. Aber fie hat ihre Spuren in ihm und
feinem Werke hinterlaffen. Er hat das Vertrauen zur
Menge verloren, und lein Werk die Volkstümlichkeit eingebüßt
.....Den berechtigten Grimm der Stunde [gegen

die Bauern] hat er zum Lebensgroll geftempelt'. (Ijj. 87).