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Ausgabe:

1917

Spalte:

429

Autor/Hrsg.:

Bousset, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt. 3. Aufl. (In 1. u. 2. Aufl. hrsg. v. Johannes Weiß.) 1917

Rezensent:

Schuster, Hermann

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43°

Praktifche Bibelerklärung.

Von den ,Schriften des Neuen Teftaments'1
(J. Weiß — Bouffet u. Heitmüller), deren Neuerfcheinen
in 3. Auflage wir neulich (Sp. 52) ankündigen konnten,
find inzwifchen weitere Lieferungen erfchienen, fo dali
jetzt fertig vorliegen: Die Synoptiker, Apoftelgefchichte,
Johannesevangelium, Paulusbrieie u. Paftoralbriefe.

Von Niebergalls ,Praktifcher Auslegung des
Neuen Teftaments'2 ift die erfte Auflage feiner Zeit
(1910, 503 ff.) von Achelis angezeigt. Er hat die Arbeit
um feiner auch von ihm anerkannten Vorzüge willen als
,ein geniales Werk, das dem fcharffinnigen und gelehrten
Verfaffer zur Ehre gereicht' bezeichnet, dann
aber doch eine fcharfe Kritik hinzufügt. A. beitritt, daß
N. eine ,Auslegung' geliefert habe, es feien gedankenreiche
Reflexionen, aus dem Text abgeleitet oder an
ihn herangebracht, aber es fei keine wiffenfchaftlich begründete
Auslegung geboten. Er bekämpft ferner N.s
Freiheit in der allegorifchen Auslegung des Textes, und
bedauert die Ungleichmäßigkeit in der Behandlung.
Was diefe anbetrifft, fo habe ich allerdings auch bisweilen
ichmerzliche Lücken empfunden; am meiften bei
der Paffions- und der Auferftehungsgefchichte. Daß Jefus
in Gethfemane nicht nur um fein Leben bangt (Prinz
v. Homburg), fondern um feine Lebensarbeit, alfo für
fein moralifches Ich und feinen Gottesglauben ringt, und
daß er fiegt ohne eine Opfertheorie nur kraft des unüberwindlichen
Glaubens an Gottes unverftandenen Liebeswillen
, und daß er damit der Bahnbrecher des Glaubens
geworden ift, hoch erhoben über alle Märtyrer, die eine
gebahnte Straße ihm nach gezogen find: das muß im
Unterricht reiferen Schülern gefagt werden. Ebenfo daß
ohne leibliches Auferftehuiigswunder Jefu Größe erft ins
Unbegreifliche wächft, weil die von dem lebenden ausgehende
Geiftesmacht imftande war, die Kataftrophe des
Verbrechertodes in den Herzen der Jünger zu tiberwinden
; und daß wir nicht gegen fie benachteiligt find, da
wir wie fie durch Jefu Perfonbild und feelilche Macht
zum Glauben an feine ewige Dauer kommen. Soll man
das nicht auch in der Predigt fagenr — Allegorie? Ja,
bisweilen tut mir N. darin reichlich viel. Ich glaube z. B.
nicht, daß es wohlgetan ift, Matth. 26, 73 (wonach die
Sprache Petrum als Jünger Jefu verrät) als Text zu einer
Grabrede für einen ernften bibelftrengen Chnften zu
nehmen. Mit folchen Spielereien widerftreitet N. feinem
eigenen Grundfatz, den er (S. 275 bei Apoft. 15) fehr
richtig fo formuliert: .Nichts darf uns praktifch fein, was
nicht hiftorifch gegründet ift, und das Hiftorifche ift
durchaus praktifch zu verwenden, denn es ift ja von
Haufe aus einmal praktifch gedacht gewefen'. Und N.
hat auch den richtigen Kanon für diefe praktifche Verwendung
klar erkannt, wendet ihn mit großem Gefchick
immer wieder an und bringt ihn auch gelegentlich wieder
in Erinnerung: Zu dem Einzelfall der vergangenen
Gefchichte (z. B. Genuß von Opferfleifch) müffen wir
das genus fuchen (Verzicht aus Liebe) und diefes
wieder aufheutigeEinzelfälle (weltliche Vergnügungen,
Alkohol) anwenden. Auch bin ich ganz mit N. einver-
ftanden, man foll nicht zu ängftlich fich an den Text-
buchftaben binden. Welchen Schaden folche ängftliche
Bindung einem jungen Anfänger bereitet, wie er feine
Gemeinde damit einfach irreführt, erfuhr ich kürzlich

1) Die Schriften des Neuen Teilaments neu überfetzt u. f. die
Gegenwart erklärt v. O. Baumgarten, W. Boulfet, H. Gunkel, W. Heitmüller
, G. Hollmann, A. Jülicher, R. Knopf, F. Koehler, W. Lücken
u. J. Weiß. In I. u. 2. Aufl. hrsg. v. weil. Prof. D. Joh. Weiß, in
3. Aufl. hrsg. v. Proff. DD. W. Bouffet u. W. Heitmüller. 21.—
28. Tauf. 4 Bde. m. e. Sachregifter. Etwa 111 Bgn. Lex. 8°. Güttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht 1917. Vorzugspreis: in 8 Halbbdn. geh.
M. 18—; in 4 Lcinenbdn. M. 24 —

2) Niebergall, Prof. D. Friedrich: Praktifche Auslegung des
Neuen Teftaments f. Prediger u. Religionslchrer. 2. Aufl. (VII, 608 S.)
gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1914. M. 11.50; geb. M. 13.50

erft mit Kummer. Wie fchwer oder geradezu unmöglich
es oft ift, bei peinlich hiftorifch er Textauslegung den Be-
dürfniffen der Gegenwart gerecht zu werden, habe ich
bei Betrachtungen und Predigten der Kriegszeit öfter
felbft gefpürt und mir deshalb mit gutem Gewiffen manche
Freiheit der Behandlung geftattet. Nun könnten wir ja
I freilich, da die Hauptfache nicht die ift, daß die Predigt
[ fich an einen Text fondern daß der Prediger fich an den
Geift der Bibel bindet, zu Zeiten gern auf einen Text
verzichten. Aber dem fleht nicht nur die Gewohnheit
der Gemeinde entgegen, fondern auch die Gefahr für den
Prediger, fich und die Gemeinde von der Bibel zu entwöhnen
. Daß aber die Gemeinde in der Bibel lebt und
webt, aus ihr ihre fittliche Nahrung bezieht, daß hier,
eine geiftige Heimat bleibt, in der Prediger und Zuhörer
fich ichnell finden, das ift ein Wert, deffen fozial-
pfychologifche Bedeutung alles Nachdenken verdient. —
Am wenigften vermag ich A.s erftes Bedenken zu teilen.
Freilich, was N. bietet ift, genau genommen, keine praktifche
.Auslegung'; denn die eigentliche wiffenfchaftliche
Auslegung fetzt N. voraus (in der 1. Auflage noch deutlicher
als jetzt in der 2., da jene ein Glied des Lietz-
mann'fchen Handbuches war, alfo die wiffenfchaftliche
Auslegung des Handbuches nicht wiederholen brauchte
und durfte; in der 2. Auflage ift diefer Zufammenhang
gelöft). Was N. bietet, ift alfo eine Anleitung zu prak-
tifcher Verwertung, zur Ausnutzung des N. T.s in
Predigt und Unterricht (und in der religiös-fittlichen Selbft-
erziehung des Predigers!) oder wie N. gelegentlich (S. 318
bei Rom. 7) formuliert: er will die Grundgedanken der
N. T. liehen Schriften in heutiges Deutfch übertragen
und verwerten. Ein folcher Verzicht auf die wiffenfchaftliche
hiftorifche Auslegung hat natürlich feine Bedenken;
denn zuweilen bleibt die vorausgefetzte wiffenfchaftliche
Exegefe undeutlich, oder auch fie reizt zum Widerfpruch.
Wenn wir z. B. hören, Dörries habe im Anfchluß an
Rom. 12, 11 über den flüchtigen Augenblick und die
vielen vgypal.lten Gelegenheiten gepredigt, fo fetzt Dörries
offenbr-fÄiie falfche (von Luther überfetzte Lesart xaipm
ftatt xt^Pw voraus; oder wenn N. die paulinifchen Gedanken
über den heiligenden Einfluß des gläubigen Gatten
auf den ungläubigen 1 Kor. 7, 14 als ,weitertreibende Gedanken
' empfiehlt, fo überfieht er m. E. den hier vorliegenden
kultifchenBegriff der Heiligung. Aber grundfatzlich
muß man N. das Recht zu diefer Begrenzung feiner Aufgabe,
daß er nämlich nur für wiffenfchaftlich gefchulte Theologen
fchreibt, durchaus zugeftehen; zumal er fonft ftatt
eines Bandes zwei oder drei hätte liefern oder in der
praktifchen Anleitung fich auf dürftige Andeutungen
hätte befchränken müffen. — Dagegen möchte ich noch
ein von A. nicht erhobenes Bedenken meinerfeits vor-
, bringen. Die Bedürfniffe des Predigers und des Reli-
gionslelirers im Obergymnafium find, das ift mir beim
Studium des N.fchen Werkes recht deutlich geworden,
fo verfchieden (der Prediger darf und muß in der praktifchen
Verwertung vielfeitiger, tiefer und dem Text gegenüber
freier, in der kulturhiftorifchen Erläuterung und in
der Kritik fparfamer fein, weil er auf Grund der Bibel
Erwachsene im chriftlichen Leben erbauen und fördern,
aber nicht junge, kritifche Menfchen ins Verftändnis der
Bibel einführen foll), daß beide Aufgaben kaum in einem
Werk zu löfen find. So wird man, wenn auch der Reli-
j gionslehrer aus N. viel lernen kann, ihn doch nicht ent-
j fernt fo wie den Pfarrer auf dies Werk als eine vorbild-
j liehe Anleitung zur praktifchen Verwertung des N. T.s
verweifen können. Damit ift aber auch fchon angedeutet,
! daß ich von einer Niebergall näherftehenden Gelämtan-
; anfehauung aus A.'s Bedenken geringer und Niebergalls
Werk höher einfehätze. Es fchien mir eine Forderung
der Gerechtigkeit, das nicht zu verfchweigen. — Die 2. Auflage
hat einige Ungleichmäßigkeiten in der Behandlung ausgeglichen
und Hinweife auf Religionslehrbücher und neuere
Predigten vermehrt, fonft nichts Wefentliches geändert.