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Ausgabe:

1917

Spalte:

412-413

Autor/Hrsg.:

Graf, Chr. (Übers.)

Titel/Untertitel:

Zwingli. Abschnitte aus seinen Schriften ausgewählt 1917

Rezensent:

Köhler, Walther

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4H

Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 22/23.

412

der Lutherlegende der alten Biographien fowie an der
Überarbeitung von Tifchreden und Predigten mit un-
beirrter Folgerichtigkeit vollzogen wird. Zum erften Male
ift hier die Forfchung völlig auf den durch die Weimarer
Lutherausgabe feftgeftellten Zuftand der Überlieferung
begründet worden. 3. und nicht an letzter Stelle, ift die
bei Scheel felbftverftändliche, dogmengefchichtliche Orientierung
hervorzuheben, die die Probleme klar heraushebt,
fcharf ftellt und neu beleuchtet. Das Verhältnis des
Nominalismus zum Thomismus und Auguftinismus, letztlich
zu Paulus, wird neu und, foweit ich urteilen darf, zutreffender
als bisher beftimmt. In all diefen Beziehungen fleht
Sch.s Leiftung auf der Höhe der heutigen wiffenfchaftlichen
Forfchung und bedeutet einen großen Fortfehritt, in vielem
vermutlich einen Abfchluß. Ob fich alle Einzelergebniffe
zu denen er gelangt, werden halten laffen, ift eine andere
Frage, die ich nicht rundweg bejahen möchte. Sicher
ift, daß Sch. nicht nur die katholifche, fondern auch die
altlutherifche Lutherlegende entwurzelt hat. Sicher auch',
daß er mit größter Behutfamkeit und Objektivität gearbeitet
hat. Üm von Einzelheiten wenigftens einige wichtige
zu nennen, fo hat er fehr wahrfcheinlich gemacht,
daß die Beziehungen Luthers zu Staupitz erft mit dem
erften Wittenberger Aufenthalt beginnen; die erften Klo-
fterjahre fowie das Erlebnis der Primiz hat er von allem
Pathologifchen fowie von den fchweren Kämpfen der
fpäteren Jahre mit gutem Grunde entlaftet. Für das
Verftändnis der Klofterzeit ift durch die Einordnung des
Lebens in die Auguftinerregel fehr viel gewonnen. Der
erfte Aufenthalt in Wittenberg wird glaubhaft auf direkte
Veranlaffung der Erfurter Oberen zurückgeführt. Die
Entdeckung des Evangeliums wird auf Winter oder Frühjahr
19T3 im Turm des grauen Klofters in Wittenberg,
wo fich höchft wahrfcheinlich Luthers Studierzimmer
befand, feftgelegt. Wie fchon diefe kurzen Angaben
zeigen, ift Luthers Entwicklungsgang in einem noch von
keiner Seite bisher erreichten Maße in das Klofterleben
und die Theologie feiner Zeit hineingeftellt und verftänd-
lich gemacht worden. Auch für die Analyfe des inneren
Erlebniffes Luthers hat Sch.s vorfichtige Hand viel getan
und die verfchiedenen Seiten daran gut auseinandergehalten.
Allerdings bleibt einReft unverftanden, und das hätte Sch.
m. E. noch fchärfer fagen dürfen. Dem Worte des Vaters
bei der Primiz vermag ich fo grundlegende Bedeutung
wie Scheel für die Entwicklung nicht beizulegen. Ich
möchte ganz allgemein bei des Dichters ,Statt der lebendigen
Natur, da Gott den Menfchen fchuf hinein . . ., bei
der,Mönchskrankheit' (der tristitia) flehen bleiben; fie fchuf
die Sphäre, da theologifche Formulierungen zu Lebensproblemen
werden konnten. Im Übrigen muß es bei dem
Geheimnis der PerfönlichkeitLuthers fein Bewenden haben.

Von Schuberts Buch, durch 8 Bilder gefchmückt,
gibt eine prächtig und gediegen volkstümliche Darfteilung
, der man weitefte Verbreitung wünfehen muß.
Das Charakteriftifche der Ausführung liegt in der Ein-
itellung Luthers und feines Werkes in die Gefchichte
des deutfehen Volkes. ,Deutfches Volk und fremder
Geift' ift das erfte Kapitel überfchrieben, das in den
innern Zwiefpalt des mittelalterlichen Kaifertums einführt,
.Luthers Erbe und Deutfchlands nationales Werden' das
Schlußkapitel, in dem ein ftarkes Reich, ein wahrhaft
deutsches Kaifertum, wie wir es haben, als folgerichtiges
Ergebnis der mit Luther einfetzenden deutfehen Entwicklung
, der auch die deutfehen Katholiken fich freudig
erfchloffen haben, aufgezeigt wird. Die mittleren Kapitel:
Aus deutfeher Wurzel, Der Wortführer der deutfehen
Nation, Am deutfehen Neubau, Der Begründer einer neuen
deutfehen Kultur bringen die Darftellung Luthers felbft
und feines Werkes. Daß die Darfteilung der beiden erften
Abfchnitte eine dramatifch fpannende ift, bringt der Stoff
felbft mit fich; daß die Spannung auch in den beiden |
andern fich kaum vermindert, zeigt die hohe Darftellungs- j
gäbe des Verfaffers. Daß er den Stoff fouverän be- '

herrfcht, ift zu erwähnen nicht nötig; vielleicht wären
einige Striche anders gezogen, wenn Kalkoffs neufte Darftellung
ihm fchon vorgelegen hätte.

Ganz anders ift die Darftellung, die Joh. Luther von
feinem berühmten Verwandten gibt. In kurze Abfchnitte,
die meift chronikartig gehalten find und in ihrem etwas
trockenen Ton anKöftlins Biographie erinnern, ift das
Buch zerteilt. Ich fürchte, daß der Text weniger wird
gelefen werden als er es um feiner Solidität willen verdient
. Um fo mehr wird man fich an die fehr zahlreichen
guten Reproduktionen halten, die der Verlag
nach zeitgenöffifchen Holzfchnitten, Kupferftichen
und Gemälden hat herftellen laffen, fowie an die guten
Nachbildungen der Lutherftätten, die Gerhard Franke
in Berlin eigens für das Buch gezeichnet hat.

Göttingen. Titius.

Zwingli. Abfchnitte aus feinen Schriften ausgewählt u.
überfetzt v. Pfr. Chr. Graf. Eine Jubiläumsausgabe
zur 4CX)jähr. Reformationsfeier. (126 S. m. Bildnis u.
2 Fkfms.) gr. 8°. Zürich, Orell Füßli (1917).

Geb. M. 2—; beffere Ausg. M. 3 —

Die Auswahl von Zwingli-Schriften durch Pfarrer Graf
möchte einem allgemein empfundenen Bedürfnis abhelfen,
den Schweizer Reformator, der viel gelobt, aber wenig
gelefen wird, in weiteren Kreifen bekannt zu machen.
So löblich die Abficht, fo gänzlich unzureichend ift leider
die Ausführung, und man muß es faft bedauern, daß eine
fo hübfehe äußere Aufmachung einem verfehlten Inhalte
den Schmuck gibt. Vf. ift feiner Aufgabe bei redlichem
Eifer, der ihm gerne zugebilligt fei, leider durchaus nicht
gewachfen, er hat von der Aufgabe eines Überfetzers im
Allgemeinen wenig Ahnung und verfagt feinem fpeziellen
Objekte gegenüber fo gut wie ganz. Ganz gewiß ift
Zwingli nicht leicht ins Flochdeutfche zu übertragen und
auch fein Latein hat feine Wacken und Klötze, aber einmal
lieft man fich bei einiger Übung doch ein und fodann:
wozu hat Georg Finsler, unterftützt von dem Referenten,
feine ausgezeichneten erläuternden Anmerkungen in der
kritifchen Zwingli-Ausgabe gefchrieben? Graf hat offenbar
diefe Ausgabe überhaupt nicht benutzt, fonft hätten
die fchlimmen Schnitzer nicht begegnen können. Auf
Schritt und Tritt begegnen Fehler, Ungenauigkeiten, willkürliche
Auslaffungen u. dgl., fodaß vor der Benutzung
diefer Ausgabe nur eindringlichft gewarnt werden kann.
So leid es mir tut angefichts der Bemühungen des Vf.,
ich kann ihm das Urteil nicht erfparen: fein Werk ift
verfehlt. Geboten werden ausgewählte Abfchnitte aus
,Vom Erkiefen und Freiheit der Speifen', ,Ein freundlich
Bitt und Ermahnung', ,Von der Klarheit des Wortes
Gottes', der .Predigt über Maria, die reine Magd' (deren
Widmung an die Brüder aber vom 17. September — das
ift der ,erft herbft' — nicht 17. Oktober datiert), der .Auslegung
der Schlußreden', dem ,Commentarius de vera et
falsa religione' und Aphorismen. Zum Beleg für mein Urteil
dienen folgende Proben, die ohne Schwierigkeit reichlich
vermehrt werden könnten:

Sogleich der erde Satz ift falfch wiedergegeben. Ich Helle neben
einander:

Zwingli Graf
Nachdemir,allerliebfteningott,ietz Nachdem ihr, meine in Gott Al-
im Vierden jar das euangeiium und lerliebften, feit vier Jahren (!)das
der heyligen botten leer fo dur- EvaDgelium und die Apoftelge-
ftig gehört, die der allmächtig gott fchichte (!) fo begierig gehört
durch mich kleinfiigen fich begnadet habt, hat es dem allmächtigen Gott
hat üch ze offnen, ift ufw. (d. h. jetzt gefallen, mir geringen Menfchen die
erft beginnt der Nachfatz) Gnade zu geben, euch dasfelbe auf-

zulchließen.

Deshalb mir gar übel geftanden, Es wäre mir übel angeftanden,
das ich als ein unfrutiger hirt und wenn ich als ein unwilliger (!) Hirte
der nur den nutz anfieht, umb ließe nur den eigenen Nutzen angefehen
kummen die fchaff, fo meiner trüw hätte, und die Schafe, die meiner
empfolht find. treuen Hut empfohlen find, nur zu

mir hätte kommen laffen (!).