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Ausgabe:

1917 Nr. 2

Spalte:

395-397

Autor/Hrsg.:

Müller, Karl Otto

Titel/Untertitel:

Aktenstücke zur Geschichte der Reformation in Ravensburg von 1523-1577 1917

Rezensent:

Becker, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 20/21.

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noch heute befonders verbreiteten Schlagworts. Der Anteil
aller Richtungen der Zeit an ihm wird ebenfo feftge-
ftellt, wie die Änderung, die dabei der Sinn des Bekennt-
niffes im Verhältnis zur Reformation durchmacht, die
Unklarheit, die zumal in der preußifchen Union ihm immer
anhaften muß, und die Einwirkung, die er auf die Beziehungen
zwifchen den einzelnen Landeskirchen, insbesondere
der unierten und nicht unierten ausgeübt hat.

Holl verzichtet darauf, aus feinen Ergebniffen Schlüffe
für die Gegenwart zu ziehen. Man wird aber aus feiner
Darftellung und feinen Schlußbemerkungen leicht gewiffe
Hauptlinien feines Urteils herausfinden. Die Grundforderung
ihr Neubildung unferes kirchlichen Gemeingefühls,
Liebe zur Kirche als folcher im weiteften Sinn, Neubelebung
der von Luther felbft aufgehellten Gedanken,
lebendige Beziehung zwifchen der äußeren und inneren
Kirche, aber auch zwifchen den verfchiedenen Ständen
und Schichten, Aufbietung der Laienkräfte zur
Arbeit an allen kirchlichen Aufgaben und damit die
wirkliche Volkskirche, die wir jetzt eben nicht haben,
die bisher nur ein mit Unklarheiten behaftetes Schlagwort
darfteilt, freier Raum für die Betätigung aller ihrer
Parteien, aber auch Ermäßigung ihrer Gegenfätze, ftatt
des Kampfes gemeinfame Arbeit für die gemeinfame
Sache.

Ich kann zum Schluß eine Bitte an Holl nicht unterdrücken
. Seine Ausführungen über die Anfänge des 19.
Jhs. zeigen ein fo eingehendes Studium, fo reiche Gedanken
, fo feines Verftändnis und fo hohe Kunft einheitlicher
Geftaltung, daß er uns einmal die Kirchengefchichte des
19. Jhs. fchenken müßte, von der wir noch nicht einmal
Anfänge haben! Neben Epiphanius, der alten Kirche
und Luther müßte er auch hier mhV ganzer Kraft eintreten
!

Tübingen. Karl Müller.

Müller, Archivfekr. Dr. Karl Otto: Aktenltücke zur Gefchichte
der Reformation in Ravensburg von 1523 —1577. (Reforma-
tionsgefchichtliche Studien u. Texte. Heft32.) (IV, 92 S.)
gr. 8°. Münfter i. W., Afchendorff 1914. M. 2.40

Die Reformationsgefchichte der ehemaligen Reichs-
ftadt Ravensburg ift ein noch ziemlich wenig bebautes
Feld. 1884 hat T. Hafner ,Die ev. Kirche in Ravensburg
' veröffentlicht und 1886 Boffert in den Theologi-
fchen Studien aus Württemberg einen Auflatz ,Zur
Ravensburger Reformation'. In dem Briefwechfel des
Ambrofius Blarer (über ihn vergl. jetzt Wolf, Quellenkunde
der deutfchen Reformationsgefchichte Bd. II
S. 70, 79 u. bei. 166 f.) und Schieß und dem i.Bd. des Brief-
wechfels des Albert Gerwik Blaver von Weingarten und
Günter 1914 findet fich manches Material zu der Frage. Aber
das meifte liegt noch ungehoben im Archiv von Ravensburg
. So ift noch manches zu tun, bis wir ein abgerundetes
Bild von jenen Vorgängen erhalten. Auch das
vorliegende Buch will nur Baufteine zufammentragen. Es
bringt Aktenftücke aus dem .Denkbuch' der Stadt von
1519 bis 1647 und aus dem Archiv von Ludwigsburg
ein paar kurze Abfchnitte aus den Schwabenbüchern II
bis IV und den Weingartener Korrefpondenzen. Die
Mitteilungen aus den Schwabenbüchern vom Jahre 1523
beweifen, daß damals R. fich noch völlig der Reformation
fernhielt. Vielleicht gefchah dies unter dem Einfluß
des Abtes von Weingarten. 1538 hielt die Reformation
ihren Einzug. Die Darftellung des Denkbuchs
gibt ein Bild von ihrer Einführung, wie wir es aus vielen
Städten kennen. Der Rat handhabt fehr energifch die
Aufficht über die Kirche.

Natürlich mußte folches Vergehen des Rates, als er
der Reformation zuneigte, von den Anhängern der alten
Kirche doppelt fchwer empfunden werden. Daraus aber
ohne weiteres auf eine Gegnerfchaft der Stadt gegen die

Geiftlichen zu fchließen (S. 14), ift wohl gewagt. Auch
gegen die Anhänger der neuen Lehre nehmen die Ma-
giftrate fehr beftimmt ihre Rechte wahr. Der Rat wurde,
zunächft mit Widerftreben, wohl durch evangelifch gefinnte
Bürger zu feinen Schritten gedrängt und dann durch evan-
gelifche Prediger in feiner Haltung geftärkt: der typifche
Verlauf der Einführung der Reformation in vielen Städten.

An Einzelheiten lieht man, wie not fie tat. 1541 weigern fich die
Kapläne, während der Peft neben ihrem Meßdienft in der Seellorge auszuhelfen
. 1545 muß der Rat beim Bifchof Befchwerde über gröbliche
Verletzung der Refidenzpflicht durch mehrere Kapläne führen. Wie auch
fonft oft, nimmt der Pfarrer, der felbft nicht predigen kann, durch Anhänger
der neuen Lehre gedrängt, für diefe Tätigkeit einen evangelilch
gefilmten Vikar an, der nun natürlich mit den altgläubigen Kaplänen
in Streit gerät. Sind es fonft oft die Zünfte, fo ift es hier die Korporation
der Büchfenfchützen, die fcbließlich 1545 der Reformation zum
Siege verhilft.

Mit diefen Ereigniffen geht der Anfchluß an den Schmalkaldener
Bund Hand in Hand, der April 1546 erfolgt. Die Conf. Aug. wird
als Normativ-Bekenntnis angenommen und nun nach dem ja damals
fchon geübten Grundfatz: cujus regio ejus religio, der Befuch der Meffe
an andern Orten für die Einwohner verboten und den altgläubigen
Prieftern aufgegeben, nach acht Tagen die Stadt zu verlaffen. Daß da oft
über das Ziel hinausgefchoffen wurde, zeigt das intereffante Anfinncn
des Schmalkaldener Bundes an den Abt von Weingarten, er folle die
von ihm mit dem Kirchendienft beauftragten Geiftlichen nach Ravensburg
fenden, damit fie durch den dortigen Superintendenten geprüft
werden.

Bemerkenswert ift die von den drei evangelifchen Geiftlichen Con-
ftanzer, Lcnzlin und Tilianus 1546 dem Magiftrat überreichte Denk-
fchrift. Neben Abänderung des Gottesdienftes verlangt fie eine Schulordnung
, Armenpflege und Verwendung der Pfründen für kirchliche
Zwecke. Auch hier alfo geht die kirchliche Neufchöpfung mit der fo-
zialcn Hand in Hand.

Als der fchmalkaldilche Bund zufammenbrach, fiel auch Ravensburg
fchnell um, in unglaublicher Kopf- und Mutloligkeit. Auf das
bloße Erfuchen des Landvogtes in St. Chriftina, wieder Meffe lefen zu
lallen, fchenkte der Rat d e auf diefer Kirche ruhenden Rechte famt
Pfarr- und Meßnerhaus dem Kaifer, nur um den geforderten Meßpriefter
nicht bezahlen zu müffen. Durch den Augsburger Rcligionsfricden
wurden die Neugläubigen vor Ausrottung bewahrt: fie behielten die
gleichen Rechte wie die Katholiken.

Die Unterwürfigkeit und Ängftlichkeit, die nach dem fchmalkal-
dener Kriege bei vielen Platz gegriffen, zeigt fich auch hier. 1561 wird
das Gefuch von Württemberg, die Augsburger Konfeffion zu unterfebrei-
ben, abgelehnt.

Zu den Erklärungen des Herausgebers noch ein paar
Worte. Sein katholifcher Standtpunkt ift ihm nicht zu
verübeln, aber er darf fich durch ihn nicht zu einfeitigen
Schlüffen verleiten laflen. Das tut er aber, wenn er S. 6
davon fpricht, daß in der alten Kirche neben manchem
Schatten auch viel Licht' vorhanden war; als Begründung
führt er die Erklärung eines Barfüßer-Mönches an,
er wolle für feine Adventspredigten kein Geld nehmen.
S. Ii nennt er den proteftantifch gefilmten Bürgermeifter
Hensler einen ,hochfahrenden und eigenfinnigen Menfchen
von leidenfehaftlichem Charakter, der ein guter Haffer
fein konnte'. Das Denkbuch fagt nur, er wollte nicht gern
das Bürgermeifteramt übernehmen, wahrfcheinlich, weil
er die Kämpfe der Religionsparteien fürchtete und erging
fich dabei in etwas erregten Reden. S. 51 bemerkt
er: ,Aus dem vom Rate gebrauchten Ausdrucke Konkubinen
darf nicht ohne weiteres auf ein unfittliches Leben
der Geiftlichen gefchloffen werden'. Doch wohl! Die
Konkubinen waren wirklich das, was ihr Name befagt.
Gerade das 15. und 16. Jahrhundert bieten Belege genug.
Man blättere nur einmal in der Befchwerdefchrift des
Herzogs Georg von Sachfen 1521 und in den Gra-
vamina. Aus der Bemerkung, daß die Seitenaltäre entfernt
wurden, um Platz für die Kirchenbefucher zu fchaffen,
folgert M.: ,So waren es auch hier wie in Biberach die
Prädikanten, denen der Verluft der zahlreichen Kunft-
werke der Malerei und Plaftik zuzufchreiben ift'. Damit
ift alfo die Reformation glücklich wieder einmal als
Kunftfchänderin hingeftellt.

Der Abdruck der Aktenftücke ift nicht recht über-
fichtlich. Es war gewiß gerechtfertigt, nur die auf die
Reformation bezüglichen Stellen abzudrucken, aber es
wäre wünfehenswert gewefen, das dann auch ohne wei-