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Ausgabe:

1917 Nr. 2

Spalte:

391-395

Autor/Hrsg.:

Holl, Karl

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus. Voträge 1917

Rezensent:

Mueller, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 20/21.

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über die Illuftrationen ließe (ich etwas fagen. Es ift da freilich fehr
fchwer, es allen recht zu machen, zumal die Koftenl'rage erheblich mit
fpielt. Für den Jetzerhandel find Murners Reimfchrift die Holzfchnitte
entnommen, im Übrigen etwas wahllos Vorlagen aus erfter oder fpiiterer
Hand gewählt worden; fchade, daß man den Schein der Karikatur bei
dem Bilde S. 8 t nicht vermieden hatl Er wäre fofort gefallen, wenn
man einen Zufatz etwa derart gemacht hätte: nach einem Stiche des
18 Jhs.; als Dokument der damaligen Zeit ift das Bild wertvoll, fo gut
wie der Luther der Aufklärung in Preuß' Lutherbilder.

Die Frage war nun, ob trotz der berechtigen Bean-
ftandungen das Buch Hadorns eine Empfehlung verdiente.
Ich habe die Frage bejaht und bejahe fie noch heute,
nachdrücklich. Das Buch löft die fehr fchwierige Aufgabe
, auf heben Bogen die fchweizerifche Reformation und
ihre Segnungen darzuftellen, wobei doch auch Luther be-
rückfichtigt werden mußte, fehr gefchickt und anfprechend.
Nach einer Einführung geht es über die Bedeutung des
31. Oktober hinüber zuZwingli, dann zu den übrigen Ständen
der Eidgenoffenfchaft, zu den Widerftänden (Schwarm-
geifter und Bauern), zur Reformation in Bern und Bafel,
dem Tode Zwingiis, dann zur Weftfchweiz und vorab zu
Calvin. Die beiden Schlußabfchnitte: die Eigenart und
Bedeutung der fchweizerifchen Reformation und: die Segnungen
der Reformation faffen den Gefamteindruck, der
ein nachhaltiger bleibt, gut zufammen. Die Ausftellungen
hätten m. E. leicht durch ein beigegebenes Zufatzblatt
geändert werden können1.

Zürich. Walther Köhler.

1 Von (liefen Erwägungen ausgehend habe ich auf Wunfeh des
Verlegers, wie das hier vielfach üblich ift, einen fogen. Wafchzettel zu
dem Buche gefchrieben; es ift ganz felbftverftändlich, daß ein folchcr
den Wert des Buches und nicht feine Mängel hervorzuheben hat, von
mir vorgeworfener ,Uoppelfpurigkeit' und ,Verlchweigcn' ift alfo gar
keine Rede, ich habe nichts gefagt, was ich nicht vertrete. Die liberale
Kritik freilich fiel fofort über das Buch her, mit der nur zu deutlichen
Abficht, es tot zu machen. Die Parteinahme war dabei für jeden
, der fehen wollte, offenkundig. ,Hadorn ift als Parteifchriftfteller bekannt
, dem die eigene Stimmung mit allen Anforderungen an Rückficht
auf andere Anfchauungen und ihre Träger durchgeht', fagte der Herausgeber
der fchweiz-theol. Zeitfchr., Pfarrer A. Waldburger. Und (liefern
Kritiker blieb es vorbehalten, in dem ruhig erzälüenden Büchlein ,eine
Tendenz' zu wittern, nämlich die, das Luthertum auf Koften des Zwinglianismus
verherrlicht zu haben — wobei das Luthertum die merkwürdige
Kennzeichnung als .wefentlich pietiftifche, auf die Art der Sündenvergebung
konzentrierte Rückführung der Chriftenheit auf Rom 5,1' erhielt
—, und die Stüize für diefe Beurteilung in dem Wafchzettel des ,reichs-
deutlchen Lutheraners' zu erblicken. Es erübrigt fich, darüber noch
ein Wort zu verlieren (vgl. meine Entgegnung im .Kirchenblatt für die
ref. Schweiz' Nr. 30). Von weiterem Intereffe ift nur die Tatfache, daß
die alte Empfindlichkeit gegenüber Luther, wie fie die fchweizerifche fogen.
Reform aus der Wiege übernahm, bis auf den heutigen Tag nicht ge-
fchwunden ift, und daß ein ruhig nach den Tatfachen erzählender fchwei-
zerifcher Hiftoriker ziemlich unverblümt mangelnden nationalen Sinnes be-
fchuldigt wird, wozu dann noch der theologifche Richtungsgegenfatz hinzugetragen
wurde. So gefchehen im Jahre des Reformationsjubiläums 1917.

Holl, Karl: Die Bedeutung der großen Kriege für das reli-
giöfe und kirchliche Leben innerhalb des deutfehen Pro-
teftantismus. Vorträge, geh. beim Kriegslehrgang des
Zentralausfchuffes f. innere Million' in Warfchau u.
Wilna am 8. u. 12. Dezember 1916. (131 S.) gr. 8°.
Tübingen, J. C. B. Mohr 1917. M. 2.40

An den beiden größten Kriegen, die Deutfchland
außer dem jetzigen hat durchkämpfen müffen, dem 30-
jährigen und den Befreiungskriegen, verfolgt Holl die
Wirkungen, die fie im kirchlichen und religiöfen Leben
unmittelbar hervorgebracht und weiterhin nach fich gezogen
haben, indem fie neue Ziele und Richtungen kirchlicher
Wirkfamkeit entwickelt haben. Er will damit zugleich
unfrer Zeit einen Dienft erweifen: die Gefchichte
foll ebenfo die Möglichkeiten, die für die Wirkungen der
Kriege auf Frömmigkeit und Sittlichkeit beftehen, wie die
Irrtümer veranfehaulichen, die dabei begangen werden
können.

Es ift eine Schrift von außerordentlichem Reichtum
des Stoffs und der Gedanken, ausgezeichnetem Aufbau,

eindringendem Urteil, feiner pfychologifcher Kunft und
klarer fchöner Darftellung, Eigenfchaften, die wir ja an
Holls Arbeiten gewöhnt lind.

Bei beiden Kriegen werden zuerft die unmittelbaren
Wirkungen des Kriegs, dann die Arbeit gefchildert, die
fich aus diefen Antrieben oder aus der Erkenntnis der
Schäden ergeben hat, die der Krieg aufgedeckt oder
gezeitigt hat. Der 30jährige Krieg hat zunächft wenig
an der bisherigen Richtung des deutfehen Proteftantis-
mus verändert: das Prophetentum, das andere Religionskriege
, die wie das Pluffitentum und der Cevennenauf-
ftand wirkliche Volkskriege des unterdrückten Glaubens
waren, haben mächtig werden laffen, bleibt in befcheiden-
nen Winkeln; der Chiliasmus, der in den myftifchen Krei-
fen entfteht, bringt es nicht zu ftürmifcher Erwartung,
fondern nur zu ftiller Hoffnung. Die Bekenntniffe kommen
fich nicht näher. Die Orthodoxie, deren Kräfte
Holl fehr gerecht würdigt, behauptet fich. Das Studium
Luthers, das das Erinnerungsjahr 1617 wieder belebt,
läßt z. T. in Verbindung mit den Wirkungen des Kriegs
alte, manchmal verklungene Gedanken des Reformators
j wieder aufkommen. Bei dem Rätfei des Leidens, das über-
I all jetzt mehr und mehr in den Mittelpunkt der Weltfragen
tritt, wird der Zufammenhang mit der Rechtfer-
: tigung und den kardinalen Anfchauungen Luthers gewahrt.

Gegen die Zweifel an der abfoluten Wahrheit der Bibel,
! die bald nach dem Krieg von allen Seiten, aus dem In-
j und Ausland kommen, führt die Orthodoxie die Infpira-
tionslehre auf die Spitze. Gegen die vordringende Myftik
hält fie das Wefen der Rechtfertigung als eines klaren
bewußten Gewiffensvorgangs aufrecht und gibt der neuen
Dichtung Gerhards und Flemmings das, was ihre befon-
dere Art ift, die Kraft, den Glauben der Kirche als ihre
: eigene Erfahrung auszufprechen.

Nach dem Krieg treten dann neue Mächte auf den
Plan: die Richtung, die durch Leibnitz verkörpert und
mächtig emporgebracht wird, und die Roftocker
Gruppe. Dort kündet fich die Aufklärung, hier der Pietismus
an. Über beide Gruppen fagt Holl wieder fehr
viel Peines. Ich kann ihm aber gerade hier nicht in allem
folgen. Er mißt doch wohl dem Aufkommen der ana-
lytifchen Methode in der Dogmatik feit Calixt zu große
Bedeutung zu, wenn er durch fie das Glückfeligkcitsttreben,
j das Luther aus der Religion ausgeftoßen, der Ariftoteli-
ker Melanchthon aber wieder zugelaffen und in der Schul-
1 theologie eingebürgert habe und das dann in Leibnitz
| mächtig durchgebrochen fei, nun auch in der Theologie
! zur Vorherrfchaft kommen läßt dadurch, daß jene Methode
eben vom Seligkeitsgedanken ausgehe und ihn eben
damit als das Treibende in der Religion fefthalte. Ift
der Zufammenhang zwifchen dogmatifchem Aufbau und
religiöfer Grundrichtung damals fo eng? Die mittelalterliche
Scholaftik ift durchaus fynthetifch und doch von
jenem religiöfen jenfeitigen Eudämonismus weithin be-
herrfcht gewefen. Ich kann die Methode zumal bei der
Schwerfälligkeit und Ungelenkheit, die der damaligen
Theologie auch in ihrem Aufbau anhaftet, nicht für fo
einflußreich halten. Ich möchte aber auch bezweifeln,
ob die Wendung bei Leibnitz wirklich infofern mit dem
Krieg zufammenhängt, als diefer das Glückfeligkeitsftre-
I ben fo mächtig gefteigert hätte. Diefer ganze Eudämonismus
und fo auch gerade die Verbindung ftoifcher und
chriftlicher Gedanken (S. 34) bilden einen Teil der neuen
! Weltanfchauung, die fich fchon im 16. Jhdt. außerhalb
des Schattens der Orthodoxie zu bilden beginnt und nun
nach ihren großen Erfolgen befonders in den Niederlanden
und in England, verbunden mit anderen Plrrungen-
fchaften, die fich in Frankreich eingeftellt haben, Deutfchland
ergreift. Und ich möchte auch ihren Einfluß auf
Leibnitzens Stellung zu Schuld und Übel, die Holl fehr
fchön verfolgt, ftärker betonen. Denn gerade auch die
S. 35 Anm. 1 angezogenen Worte zeigen doch, daß Leibnitzens
Optimismus nicht mehr der der Orthodoxie ift: