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Ausgabe:

1917 Nr. 2

Spalte:

387-388

Autor/Hrsg.:

Grützmacher, Richard H.

Titel/Untertitel:

Luthers ewiges Evangelium in seiner religionsgeschichtlichen Eigenart 1917

Rezensent:

Köhler, Walther

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387

Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 20/21.

388

wird aus dem Erleben des Menfchen entwickelt. Dann
folgt die fchwierige Frage: Luther und das Mittelalter,
das fchwierigfte und m. E. auch anfechtbarfte Kapitel.
Schon Ofiander (S. 40) finde ich nicht richtig aufgefaßt;
man hat ihm nicht fowohl die Verknüpfung der Werke
mit der Rechtfertigung als vielmehr die Übertragung
der myftifchen Chriftusmagie, die im Abendmahl heimatberechtigt
war, auf den Heilsprozeß verübelt. Und die
doppelte Ethik mit der ,Unfähigkeit das tieffte Meinen
in Gedanken auszufprechen', zu entfchuldigen, ja, letztlich
zu befeitigen, befriedigt nicht; die von F. geforderte
.durchaus einheitliche Sittlichkeit, die das Innere des Menfchen
zur Triebfeder und Quelle des fittlichen Handelns
macht und nicht irgend ein Gefetz, irgend eine Form außer
ihm', bafiert auf Immanenz, die Luther nicht kennt, fo-
fern ihm die Normen durch die göttliche Gefetzgebung,
die fich dann wieder in (Schrift-) Offenbarung und (gottgewolltes
) Naturrecht gabelte, gegeben waren. Diefe
Gabelung zu vereinfachen hätte Luther als menfchliche
Anmaßung empfunden, doch bleibt es groß, daß er im
Begriff der Liebe eine gewiffe Vereinheitlichung der beiden
Gebiete gewinnen kann (vgl. ,Ob Kriegsleute' ufw.).
Infofern könnte ich F. zuftimmen. Mit zwei Schlußab-
fchnitten über .Kleinbürgerlich' und .Volk und Staat' —
beide Male find die Überfchriften nicht ganz glücklich
— fchließt die Schrift, die man bei Erörterung des Problems
der Bedeutung des Proteftantismus für die Ent-
ftehung der modernen Welt ftets wird berückfichtigen
müffen.

Die Allgemeine Ev.-luther. Konferenz läßt unter Leitung
von Prof. Grützmacher in Erlangen eine Serie kleiner
Reformationsfchriften über aktuelle Themata aus der Re-
formationsgefchichte herausgeben. Den Reigen eröffnet
Theodor Kaftan mit der Behandlung des Problems:
Reformation, nicht Revolution1. Anregend und wuchtig
gefchrieben, wird nach einer Begriffsdefinition des Refor-
matorifchen bezw. Revolutionären Erfteres gegen Letzteres
bei Luther an einem Dreifachen erwiefen: 1. Der religiöfe
Bruch mit der geiftigen Herrfchaft der Kirche führte
nicht in Finfternis, fonderen ins Licht; 2. Der Bruch mit
der Hierarchie und allen ihren Heiitümern hat uns nicht
ärmer gemacht, fondern reicher. 3. Die Kirche ift die
um Wort und Sakrament gefcharte, mit Wort und Sakrament
arbeitende Gemeinde. Auf weite Strecken hin
kann ich mit K. gehen, habe über manche Formulierung
mich gefreut — z. B. S. 7: .Luthers religiöfer Bruch mit
der Geiftesherrfchaft der Kirche gründete nicht in Emanzipation
, fondern in Autorität' — kann K. auch darin zuftimmen
, daß Luthers Kirchenbegriff", fo köftlich feine
Gleichgültigkeit gegen alle äußeren Formen ift, für die
Praxis feine Mängel hatte, habe ihm innerlich gedankt
für das warme Eintreten für die Freiheit der Wifienfchaft,
um dann mit um fo bitterer Enttäufchung den Ausklang
der Schrift in Hieben auf den Neuproteftantismus zu finden
. Mag K. fein Gegner fein, wozu ihm Niemand das
Recht beftreiten kann, es ift feiner nicht würdig, mit
billigen Schlagwörtern das wiffenfchaftlich fehr ernfte
Problem des Neuproteftantismus abzutun. Die .gottver-
laffene Schwarmgeifterei' Jathos, ,die welche hier die führenden
Perfönlichkeiten find, erklären Luther frei öffentlich
für eine mittelalterliche Erfcheinung', fie find alfo im
Gegenfatz zu Luther die Revolutionäre — es täte mir
leid, wenn derartiges auf das Publikum wirklich wirkte;
es ift mehr als zu leicht, es ift eine Unwahrheit.

Grützmacher2 fucht klar zu machen, daß Luther
den fragenden Menfchenfeelen aller Zeiten durch ein
ewiges Evangelium von religionsgefchichtlicher Eigenart

1 Kaftan, D. Theodor: Reformation, nicht Revolution. (Reformationsfchriften
der Alle. Ev.-Luth. Konferenz, hrsg. v. R. H. Grützmacher
. Heft I.) (20 S.) 8°. Leipzig, A. Deichen 1917. M. — 35

2 Grützmacher, D. R. H.: Luthers ewiges Evangelium in feiner
religionsgcfchichtl. Eigenart. (Reformationsfchriften der Allg. Ev-Luth.
Konferenz. Heft 2.) (26 S.) 8°. Leipzig, A. Deichen 1917. M. —35

! Antwort zu geben vermag. Die Frage nach dem Woher

j der Dinge wird beantwortet mit der Verkündigung Gottes
als des Schöpfers und Erhalters, in Gegenfatz zu Pantheismus
und Deismus. Die Frage nach der Gefinnung und

i dem Willen Gottes wird durch den Verweis ,auf fein ewiges
Evangelium' beantwortet. Und diefes .führt in die ewigen
Tiefen Gottes zurück, hindurch durch die Gefchichte

j Jefu Chrifti, hinein in die befreiten Menfchenfeelen, hinan
zu einem neuen Leben, hier zeitlich und dort ewiglich
'. Diefe Punkte werden ausgeführt und an Lutherzitaten
erläutert. Die Grundprobleme der Lutherfchen
Theologie kommen zur Sprache. Die Verwertung des
Adjektivums .religionsgefchichtlich' weicht vom Herkömmlichen
ab und fieht ein wenig nach Aufmachung aus.

Ihm eis1 fpricht in warmen, ernften und tiefen Worten
über die Grundfrage der Reformation, die Heilsgewißheit.
Sie wird erläutert an Luthers Kloftererlebnis — .gegeben
wurde die Reformation dem, der fie nicht fuchte'; dann
erfolgt die Prüfung an der h. Schrift: .fchließlich hat
Luther nur einen Lehrer gehabt — Paulus'. Aber ob
,in der Entwicklung Luthers fich vielmehr an dem ent-
fcheidenden Punkt ein gutes Stück der Entwicklung Pauli
wiederholt?' Nach Heitmüllers Ausführungen in der Feft-
fchrift für W. Herrmann darf man daran zweifeln. Das
hindert natürlich nicht, daß I. fein herausarbeitet, wie
Luther Paulus verftanden hat. Der Schlußteil zeigt die
Anwendung auf uns felbft. Heilsgewißheit ift völliges
Verzichten auf alles Eigene, ein Ruhen in der Gewißheit
der Gnade Gottes in Chrifto. .Verftändlich ift alles freilich
nur für den, der felbft nach Gott fragt'.

,Im 17. Jahrh. wird Luthers Katechismus gelegentlich
der heilige Katechismus genannt. Wir beabfichtigen
nicht, diefen Sprachgebrauch zu erneuern. Aber zu
den gefegneten Büchern der Volksliteratur zählen wir den
Kleinen Katechismus allerdings.' So leitet Bachmann
leine Schrift2 ein und verlieht es weiterhin, das Lutherbüchlein
lieb zu machen als .Lebensbuch', auch gegenüber
pädagogifchen Einwendungen. Überlieferung, Um-
deutung derfelben, eigene .herzliche und tieffinnige Auslegungen
' machen Wefen und Eigenart aus. Gegenüber
modernen Angriffen wird der untheologifche Charakter
betont; die Begriffe Dreieinigkeit, Verhöhnung und Rechtfertigung
fehlen. ,Unübertrefflich redet der Katechismus
von den Sachen, die mit jenen Worten gemeint find.
Aber mit den Begriffen felber behaftet er den kindlichen
Sinn nicht. Nicht der Theologe, fondern der Chrift kommt
zu Worte'. Darin hat B. jedenfalls recht, daß die Freude
und praktifche Brauchbarkeit des Katechismus in der
Regel durch den daran gehängten .Apparat' verpfufcht
wird; aber diefen Ballaft kann man über Bord werfen.

Unter ausdrücklichem Hinweis auf fein Buch über ,die
Bedeutung der Konkupiszenz in Luthers Leben und Lehre'
behandelt Braun3 die Gedanken Luthers über die Macht
des Böfen. Unter dem Gefichtspunkte des Pharifäismus
wird zunächft Luthers Kritik an Klofterfünden in der dreifachen
Form der Veräußerlichung der Frömmigkeit, des
Anhäufens von Verdienften, der Abgefchloffenheit von
der Welt dargelegt, dann feine Kritik an der damaligen
Schultheologie (natürliche Sittlichkeit, Beurteilung der
Konkupiszenz als Schwäche), dann die Selbftkritik (Anfechtungen
, Unüberwindlichkeit der Luft), endlich die Lö-
fung durch den Glauben an Chriftus, womit die notwendige
.Neuorientierung' nach der Grundtatfache der ftets
bleibenden Sünde gefunden ift. .Luther hat durch die

1 Ihmels, Prof. D. Ludwig: Wie werde ich meines Heils gewiß?
Die Grundfrage der Reformation. (Reformationsfchriften der Allg. Ev.-
Luth. Konferenz, Heft 3.) (24 S.) 8". Leipzig, A. Deichert 1917. M. —35

2 Bachmann, D. Ph.: Luthers Kleiner Katechismus als Lehrbuch
und als Lebensbuch. (Reformationsfchriften der Allg. Ev.-Luth.
Konferenz, Heft 4.) (24 S.) 8°. Leipzig A. Deichert 1917. M. —35

2 Braun, Pfr. Lic. Wilh.: Luther über die Macht des BöTcn.
(Reformationsfchriften der Allg. Ev.-Luth. Konferenz, Heft 5.) (26 S.)
80. Leipzig, A. Deichert 1917. M. —35