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Ausgabe:

1917

Spalte:

357

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Verweyen, Johannes M.

Titel/Untertitel:

Naturphilosophie 1917

Rezensent:

Titius, Arthur

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mechanifche Aufladung als eine zu enge. In beider Hin-
ficht bringt er, foweit ich urteilen kann, die Grundtendenz
der heutigen Forfchung richtig zum Ausdruck.

Verweyen5 behandelt in einem allgemeinen Teile
Entftehung und Charakter der modernen Naturphilofo-
phie, die Stellung der Naturwiffenfchaft im Syftem der
Wifienlchaft, Wefen und Vorausfetzung (als folche namentlich
die Realität der Außenwelt und den Kaufalgedanken),
fowie Grenzen und Wert des Naturerkennens, im fpeziellen
Teile relativ ausführlich die Probleme des Verhältniffes
von Leib und Seele und des Lebens. Den Schluß bilden
kurze Bemerkungen über Monismus und Dualismus. Die
gefchickt gefchriebene Skizze kann zur erften Orientierung
um fo mehr empfohlen werden, als dem Lefer die wich-
tigften Löfungsverfuche in aller Kürze mitgeteilt werden
und V. dazu in maßvoll abwägendem Urteil felbftändig j
Stellung nimmt. Den Unterfchied zwifchen .unmittelbar
vorgefundener Naturwirklichkeit und der durch Geiftes-
tätigkeit erzeugten Wertwirklichkeit' kann, wie er mit
Recht urteilt, nur ein .undifferenziertes Denken' überfehen
(19.50) Bekämpft wird nicht nur der Materialismus (65 fr.),
fondern auch der Wunderglaube (38.40 f. 99). Abgelehnt
wird mit bemerkenswerter Schärfe Machs Pofition
(wie auch Oftwald und Verworn) und für das Recht des
.unanfchaulichen Denkens' im Sinne der Külpe'fchen Schule
eingetreten. Die Pofition des kritifchen Realismus, wie V.
fie vertritt, wird übrigens gegen die des kritifchen Phänomenalismus
nur unficher abgegrenzt (32fr.). Hinfichtlich
des Leib-Seele-Problems zieht fich V. fchließlich darauf
zurück, daß .höchftens' die funktionelle Zuordnung des I
Phyfifchen und Pfychifchen induktiv gefiebert fei (96).
In der Tat würde die paralleliftifche Theorie, der er fich |
zuneigt, mit feinem Bekenntnis zum Neovitalismus (107)
fchwer ausgleichbar fein.

v. Ehrenfels6 behandelt das kosmogonifche Pro-
blem ausfchließlich unter logifch-metaphyfifchen Gefichts-
punkten. Über eine agnoftifche Phafe feines Denkens,
die fein Gemütsbedürfnis nicht befriedigte (180), hat ihn I
der Ertrag logifcher Unterfuchungen wie fein künftleri- j
fches Erleben, insbefondere der tieffte Gehalt von Richard
Wagners Schöpfungen (196fr.) hinausgetrieben, und das
ungeheure Gefchehen der Gegenwart hat ihm den Mut
gegeben, fich über den Kreis des Beweisbaren hinaus in
das Reich der intellektuellen Ahnungen und Antezipa-
tionen vorzuwagen (184!.). Im Gegenfatz zu allem Pofi- |
tivismus, Pragmatismus und Relativismus (158 fr.) bekennt j
er fich zu ,der Sehnfucht aller echten Philofophie, der j
Religionsgründung auf wiffenfehaftlicher Bafis' (149) und j
ftellt die Dogmen der neuen Religion, heben an der Zahl,
an Evidenz gegen einander abgeftuft, auf(S. 169.175—177.
207), während das neue ethifche Ideal und der anfehau-
liche Kult noch Aufgaben der Zukunft bleiben (180). |
Der entfeheidende Grundgedanke liegt darin, daß dem
Schlagwort des Monismus wie den theiftifchen Religionen [
gegenüber der Dualismus des Chaos und eines .pfychoiden'
Einheitsprinzips als die allein dem realen Tatbestände der |
durchaus .amphigen' gearteten Welt gemäße Löfung des :
Welträtfels proklamiert wird. Der Beweis für die Thefe I
liegt von der breiten Heerftraße des heutigen Denkens
ebenfo weit ab wie die Thefe felbft. Vor allem wird I
aus der ungleich geringeren Unterftützung, die uns der
Kaufalgedanke für die Erkenntnis der Zukunft gewährt,
als für die der Vergangenheit (während biologifch wertvoller
ohne Zweifel das Umgekehrte wäre), gefolgert, daß
die Weltphyhognomie irrational, das Kaufalgefetz nicht
allgemeingiltig und die .rationaliftifche' Denkweife ein j
Vorurteil ift. Das gleiche Ergebnis folgt aus der logi- j
fchen Unterfuchung der Wabrfcheinlichkeitsfchlüffe und I

5. Verweyen, J. M.: Naturphilosophie. (Aus Natur u. Geiftes-
wart 491. Bachen.) ( VI, 113 S.) kl. 8U. Leipzig, B. G. Teubner 1915.
M. 1.25; geh M. 1.50

6. Ehrenfels, Chriftian v.-. Kosmogonie. (VIII, 208 S.) gr. 8".
Tena. E. Diederichs 1916. M. 5 —; geb. M. 6.50

der Evidenz der Vermutung, nicht minder aus dem Wider-
finn, zu dem die teleologifche Auffaffung angehchts z. B.
des Blafenwurms oder des Syphilisbazillus verurteilt ift.
Diefe kurzen Andeutungen über den Inhalt mögen genügen
, um den Lefer auf das fcharfhnnige, vielfach zum
Widerfpruch, aber auch zu eigenem Weiterdenken anreizende
Werk aufmerkfam zu machen.

Meinerfeits kann ich der am Kaufal- und Zweckgedanken
geübten Kritik E.s, z. T. mit anderer Motivierung
, in weitgehendem Maße zuftimmen. Vor allem
halte ich für durchaus zutreffend das Urteil, daß, vom
Standpunkt eines logifchen Monismus aus bemeffen,
der Theismus nur eine Halbheit ift. Er ift in der Tat
fchon eine Verbindung von .Einheit' und .Chaos', die
nicht unter logifchem, fondern unter religiöfem d. i. wertendem
Gefichtspunkt erfolgt. Gegenüber E.s rein logifcher
Gottesidee, die, ,für fich' wirkungsunfähig, erft eine
Ewigkeit lang auf eine Anregung des Chaos warten muß
(47), die aller Mannigfaltigkeit entbehrt, aber doch vielleicht
fich darnach fehnt (111. 189), die einen .tiefgreifenden
Erfchütterungsprozeß' durchmacht, fobald fie fich
fo mancher üblen Früchte ihres .abfichtslofen Geftaltens'
bewußt wird (176), die in und mit dem Menfchen nach
einer führenden Idee fucht, welche fähig wäre, ihr .bisher
triebhaftes Geftalten in Bahnen des Zweckbewußt-
feins zu leiten' (207), macht fich ficherlich die theiftifche
fo übel nicht. Ihr nähert fich übrigens auch E., wenn
er neben einer Gottesanwefenheit in allem Phyfifchen
auch einen ,ohne materielle Korrelaterfcheinungen verlaufenden
Innenprozeß in Gott' annimmt. E. hat fich
mit Erfolg bemüht, den Bann des Intellektualismus zu
durchbrechen. Aber feine Auffaffung der Religion ift
noch ganz intellektualiftifch (146fr.). Geht ihm das auf,
fo wird er das Problem des Theismus nochmals auf der
neuen Grundlage durchdenken müflen.

Siegel7 bietet, von Oftwald angeregt, eine fehr
dankenswerte .Gefchichte der deutfehen Naturphüofophie',
welche die hier vorliegende geiftige Kontinuität und das
Maß der fchon geleifteten Arbeit in helles Licht rückt.
Nach einem fchnellen Blick auf die Vorläufer werden
eindringende und zuverläffige Analyfen von der dynamifti-
fchen Naturanfchauung von Leibniz, von der kritifchen
und der romantifchen Naturphüofophie dargeboten. Neben
Kant wird als Vertreter der erfteren F ries genannt, der
Kants Naturphüofophie in ftrengftem Sinn mit ebenfo
fcharfer Auseinanderhaltung ihrer beiden Seiten, der
kritifchen und der metaphyfifchen, fortgeführt und ausgebaut
habe. Als romantifche Naturphilofophen werden
Herder und Goethe, Schelling und Schopenhauer darge-
ftellt; dabei ergibt fich Herders Verfuch, die Natur aus
dem eigenen Ich zu verftehen, als Anbahnung von Goethes
Naturanfchauung, während Schelling die Synthefe von
Goethe und Pichte, Schopenhauer die von Goethe und
Kant vollzieht. Als Antipoden der romantifchen Betrachtung
werden Herbart und Feuerbach vorgeführt.
Indes berührt fich doch Herbart trotz des fcharfen Gegenlatzes
feines Rationalismus zu Sendlings Intuitionismus
mit diefem in der Kühnheit der Konftruktion des ganzen
Naturfyftems, und Feuerbachs Anthropologismus zeigt mit
der Romantik noch eine Fülle fachlicher Berührungspunkte.
Es fehlt alfo in der Gefamtdarftellung das Syftem des
reinen Empirismus. Das dürfte indes der einzige Punkt fein,
an dem die Befchränkung auf die deutfehe Naturphüofophie
fich ftörend bemerkbar macht. Den Materialismus
hat S. nicht nur mit Rückficht auf die bekannte Darftellung
Langes ausgefchloffen, fondern grundfätzlich, weil, wer
aus dem Bannkreis der Naturwiffenfchaft nicht heraustritt
, fich zu einer Naturphüofophie nicht erheben könne.
Als Vorläufer einer Naturphüofophie der Gegenwart werden
Lotzes Neuidealismus und Fechners .atomiftifche

7. Siegel, Priv.- Doz. Dr. Carl: Gefchichte der deutfehen Natur-
philofophie. (XV, 390 S.) gr. 8». Leipzig, Akad. Verlagsgefellfchaft
1913. M. 10—; geb. M. 11 —