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Ausgabe:

1917

Spalte:

356-357

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Becher, Erich

Titel/Untertitel:

Naturphilosophie 1917

Rezensent:

Titius, Arthur

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Im Gegenteil ift es eine wichtige Aufgabe wiffenfchaft-
licher Reinlichkeit, mit allen aus der populären Begriffsbildung
flammenden metaphyfifchen Überbleibfeln im
Sinne des durch Kant inaugurierten und in Mach zur
Folgerichtigkeit entwickelten logifchen Denkens aufzuräumen
, wie in eindringender Analyfe des pfychologi-
fchen und des Kaufalproblems verflicht wird. Zugleich
entfpricht die Ausmerzung aller folcher ,logifch fterilen'
Formen (152) dem Mach'fchen Ökonomieprinzip. Logifcher
Verabeitung gehört fchon die Trennung von ,Innen und
Außen' (108 ff.), wie die .Seele' des Nebenmenfchen (141)
an. Die Fähigkeit zu folcher Verarbeitung (,die unmittelbare
Logik') und ,das unmittelbar Gegebene' bilden die
letzten Grundlagen des Erkennens. Unmittelbar gegeben
ift ,die naive Welt' (113), alles, was nicht ,logifch oder
kaufal abgeleitet' (112) und darum auch dem Irrtum nicht
ausgefetzt ift (120).

An diefem Punkte fetzt nun freilich fofort das Bedenken
ein. Denn offenbar ift diefe Unterfcheidung
felbft fchon ein Produkt logifchen Denkens, das unmittelbar
Gegebene mithin (wie fchon Kant weiß) ein nicht
realifierbarer Grenzbegriff, das alogifche Element des
Denkens. Ob diefem gegenüber der Aufbau des wiffen-
fchaftlichen Ideals bei D. nicht allzu einfach logiziftifch
geraten ift, wird man billig fragen muffen. Denn fchließ-
lich müffen fleh Erkennen und Erkenntnistheorie, wie D.
felbft hervorhebt, nach der Wirklichkeit richten. Ich weife
noch auf einen zweiten Punkt. Auch nach D. ift es das
Handeln, was wir als das wirklich Reale empfinden (185),
und er weiß, daß letztlich auch Erkennen und Erkenntnistheorie
auf fpontanem Handeln beruht (227. 236 fr.).
Dann aber geht der Grundlegung der Erkenntnistheorie
notwendig die der Axiomatik voran, und ift es willkülich,
die Logik mehr für das Erkennen als für das Handeln in
Anfpruch zu nehmen. Eine wirkliche ,Naturphilofophie-
dürfte fich daher nicht mit einer Grundlegung der wiffen-
fchaftlichen Naturerkenntnis begnügen, fondern auch feine
Einordnung in die Gefamtheit der real-idealen Wirklichkeit
vollziehen, d. h. fie muß Metaphyfik werden.

Geyfer3 ift Ariftoteliker und Scholaftiker, fucht aber
die fcholaftifche Ontologie und Naturphilofophie den Er-
kenntniffen der neueren Naturforfchung und Philofophie
gemäß fortzubilden. Das Grundproblem der ganzen
Unterfuchung bildet das Dafein und die Erkennbarkeit
einer vom Bewußtfein, aber auch vom erkennenden Ich
unabhängigen (transzendenten) Welt. ,Nicht bloß als ein
Zeichen, fondern als ein Abbild der Wirklichkeit', wie fie
an fich felbft befchaffen ift, muß das Weltbild angefehen
werden, an deffen Geftaltung die Naturwiffenfchaft arbeitet
(272). Diefer Grundfatz des .kritifchen Realismus' wird
gegenüber dem naiven Realismus, dem Phänomenalismus,
der Immanenzphilofophie, dem Idealismus in gründlicher
Auseinanderfetzung durchgeführt. Er wird verankert in
ontologifchen Unterfuchungen über Sein, Sofein, Dafein,
Kaufalität, Relation ufw. (S. 1—158), dann in Ausführungen
über die Exiftenz der Außenwelt (bis S. 266) fowie über
die logifchen Prinzipien der Erkenntnis des Transzendenten
und über die Realität von Raum und Zeit (267—305)
dargelegt, endlich in der Darlegung des Subftanzbegriffs
(408—469) zufammengefaßt. In letztere münden zugleich
kürzere Auffätze über die Lebensentelechie und dieSeelen-
fubftanz. Die körperliche Subftanz faßt G. als ein ,unfinn-
liches ausgedehntes Reales, das fich der finnlichen Wahrnehmung
in der Form der Farbe und des Berührungsobjektes
darbietet' (432), die Lebensenergie als ,eine fpezififch qualitative
Realität', die ,durch Seinsvereinigung mit dem mate-
rialen Quäle die lebende Subftanz bildet' (440). Die Seelen,
unter denen es fpezififche Unterfchiede gibt, find nichts
als ,eine fpezififche Art der Lebensentelechie' (440). Die

3. Geyfer, Prot. Dr. Jof.: Allgemeine Philofophie des Seins u.
der Natur. (VIII, 479 S.) gr. 8°. Münder i. W., H. Schöningh 1915,
M. 8.40; geb. M. 9.40

i für die Subftanz charakteriftifche Art der Selbftändigkeit
j bezeichnet G. als Infeität im Unterfchiede von der allein
i Gott zukommenden Afeität (418). Die tieffte Wurzel der
| ,Harmonie zwifchen Denken und Sein' findet er darin,
| daß dem unendlichen und fchöpferifchen göttlichen Den-
; ken gegenüber alles Seiende nur empfangend und nach-
i gebildet ift (120). Das Buch G.s ift allem nach ein nicht
! zu unterfchätzender Beitrag zur Metaphyfik des Realitäts-
I problems. Aber das Grundproblem des von Kant inau-
j gurierten Kritizismus, die Unterfcheidung von (theoreti-
fchem) Wiffen und (praktifchem) Glauben, ift bei ihm nicht
! tief genug erfaßt.

Durch Gründlichkeit, Klarheit und Verftändlichkeit
! zeichnen fich die Ausführungen von Becher4 aus. Als
1 letztes Ziel der Naturphilofophie gilt ihm ein von Wider-
i fprüchen befreites wiffenfchaftlich.es Bild der Gefamtnatur,
! als Vorbedingung dazu die Theorie des Naturerkennens.
Befondere Sorgfalt wird dem Realitäts- und dem Kaufa-
litätsproblem zugewendet. Als ficheren Ausgangspunkt
für die Behandlung des erften flieht B. ,die unmittelbar
', gewiffe Wirklichkeit des Sicher-Bewußten' an (S. 75; vgl.
j aber die Bedenken gegen diefe Auffaffung bei Oftwald
S 100f.). Darüber hinaus fehen wir uns (wenn auch nicht
; logifch) genötigt, für das Vergangene der Erinnerung
zu vertrauen, für die Zukunft die Fortdauer der beobachteten
Regelmäßigkeiten zu erwarten. Das Fundament
diefer Regelmäßigkeitsvorftellung liegt nicht in der Logik,
j fondern vielmehr in der Notwendigkeit des Lebens und
i des Erkennens, letztlich im gefunden Menfchenverftand
| und im Affoziationsgefetz der Vorftellung (104fr.). Nicht
! ebenfo notwendig ift der Subftanzbegriff im Sinne ewiger
I Wirklichkeitselemente (124), auch nicht einmal die fchlecht-
: hinige Allgemeinheit der Gefetzmäßigkeit des Gefchehens
I (121), fo fehr diefe durch Tatfachen und Intereffen der
j Forlchung aufgedrängt wird. Auch eine Allgemeingiltig-
I keit des Kaufalprinzips anzunehmen ift nicht denknot-
; wendig (148). Än der forgfältigen Unterfuchung diefes
Prinzips, das vom Identitätsprinzip wie vom logifchen Zufam-
menhang von Grund und Folge mit Recht unterfchieden
wird, intereffieren befonders die Bemerkungen über Zu-
j fammenhang und Unterfchied von dem mathematifchen
! Funktionsbegriff (158fr.). Diefer ift viel allgemeiner, und
von ihm hebt fich das Kaufalprinzip durch feine Beziehung
I auf die Wirklichkeit, durch die eindeutige Beftimmtheit der
1 Urfache und durch die unmittelbare Folge der Wirkung
i auf den Werdeprozeß der Urfache fehr deutlich ab.
I Etwas Willkürliches haftet dem Kaufalprinzip nur info-
! fern an, als in feiner Anwendung zahlreiche Teilfaktoren
| der Gefamturfache zu gunften einzelner, annähernd fich
wiederholender vernachläffigt werden (i54f.). Das Realitätsproblem
löft fich dann in Konfequenz diefer vorgängigen
Entfcheidungen im Sinne eines ,kritifchen' Realismus,
der die räumlichen (ev. auch die zeitlichen) Beziehungen
in der Sinneswahrnehmung nur als Zeichen korrefpon-
dierender Beziehungen der ,Dinge an fich' deutet (179),
Der zweite Teil des Werkes gibt eine auf eindringender
und vielfeitiger Kenntnis beruhende Darlegung der Mi-
kroftruktur der Körper und des Problems der Imponderabilien
(wobei die konkurrierenden Theorien der Fernwirkung
, des Äthers, der elektrifchen (ftofflichen) Feldwirkung
zu ausgiebiger Behandlung gelangen), der kinetifchen (entweder
mechanifchen oder elektrodynamifchen) Naturbetrachtung
, endlich der Lebenserfcheinungen und der Probleme
der Abftammungslehre, die zur Orientierung beftens
empfohlen werden kann. B.s eigene, mit vorfichtiger
Zurückhaltung vertretene Auffaffung tendiert auf eine
Verbindung des Pfycholamarckismus mit dem Darwinfchen
Selektionismus (411); hinfichtlich der Körperwelt vertritt
er eine dynamifche Auffaffung (195) und verwirft die

4. Becher, Erich: Naturphilofophie. (Die Kultur der Gegenwart.
III. Tl., 7. Abt., 1. Bd.) (X, 427 S.) Leipzig, B. G. Teubner 1914.
M. 14 — ; geb. M. 16 —; in Halbf'rz. M. 18 —