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Ausgabe:

1917 Nr. 15

Spalte:

319-320

Autor/Hrsg.:

Windelband, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Geschichtsphilosophie. Eine Kriegsvorlesung 1917

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Seite 1

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319

Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 15.

320

bedingt find, ob die Kirche Staatsteil ift, ihre Behörden
Staatsbehörden oder ob die Kirche mit ihren Behörden
felbftändig ift'. Die Prüfung diefer Gefamtumftände
ergibt, daß die fchleswig-holfteinifche Landeskirche eine
Staatskirche, ihr Konfiftorium eine Staatsbehörde ift.

Soweit der Gedankengang, der den reichen Inhalt
des Buches und feinen, für eine juriftifche Unterfuchung
eigenartigen Charakter erkennen läßt. Ohne hier auf
Einzelheiten einzugehen, ohne auf die Richtigkeit der
philofophifchen Grundlagen, insbefondere auf das gewiß
nicht einfache Willensproblem, ohne auf die Notwendigkeit
der tiefgehenden philofophifchen Grundlegung im allgemeinen
und im einzelnen einzugehen, fei hier nur
auf das befonders Reizvolle der Deduktionen hingewiefen,
auf die felbftändige, frifche Energie, mit der der Verf.
zu der bisherigen Literatur, namentlich auch gegen Sohm,
Stellung nimmt, und es fei gebührend anerkannt, wie er
fein Syftem in ftreng logifchem Aufbau durchführt. Ob
aber diefes fcharffinnige Gebäude menfchlichen Denkens
allen hiftorifchen Erfcheinungen wirklich gerecht wird?
Es bleibt nach wie vor eine Tatfache, daß die evange-
lifche Kirche, die urfprünglich Staatsanftalt war, fich in
der neueren Entwicklung in einem Verfelbftändigungspro-
zeffe befindet, der in der einen Kirche mehr, in der anderen
weniger vorgefchritten ift, zwar noch nirgends ganz vollendet
ift, aber wenn keine rückläufige Entwicklung einfetzt
, unaufhörlich fortfchreitet. Es ift nun die Aufgabe,
feftzuftellen, bis zu welchem Grade in den einzelnen
Kirchen, ihren Organen und Funktionen diefer Prozeß gediehen
ift, um zu erkennen, ob die Kirche noch Staatsanftalt
und ihre Behörden noch Staatsbehörden find. Gerade
auch in diefer Beziehung liefert die vorliegende Schrift
ausgezeichnete, praktifch verwertbare Unterlagen und
kann daher auch von diefer rein juriftifchen Seite aus
als eine vortreffliche Leiftung bezeichnet werden. Im
übrigen beachte man aber wohl, daß die Rechtsüberzeugung
weitefter Kreife des Volkes dahin geht, daß die
ev. Kirche, wie die katholifche, etwas vom Staate Ver-
fchiedenes, Unabhängiges fei oder wenigftens fein folle,
daß fie auch etwas anderes fei, als ein Kommunalverband
oder ein fonftiger ftaatlicher Selbftverwaltungskörper.
Die Selbftändigkeitsentwicklung beruht auf der rechtsbildenden
Kraft des Volkes — darum braucht fie aber im
einzelnen Falle noch lange nicht bis zur Vollendung
fortgefchritten zu fein und ift es auch, vom Standpunkte
des pofitiven Rechtes aus gefehen, tatfächlich nirgends. —

Erlangen. Sehling.

Windelband, weil. Prof. Wilh.: GeFchichtsphilofophie. Eine
Kriegsvorlefg. Fragment aus dem Nachlaß. Hrsg. v.
Wolfg. Windelband u. Bruno Bauch. (Kantftudien
Nr. 38.) (68 S.) gr. 8°. Berlin, Reuther & Reichard 1916.

M. 3-

Mit Wehmut bringe ich die letzten Zeilen zur Anzeige
, die von Windelbands Hand ftammen. Die univer-
falhiftorifche Bedeutung der gegenwärtigen Weltkataftro-
phe hat ihn veranlaßt, die fonft in feine Ethik feingebaute
Gefchichtsphilofophie felbftändig in einftündiger Vorle-
fung zu behandeln. Diefe Vorlefung liegt nun von feiner
eigenen Hand niedergefchrieben, aber freilich unvollendet
vor, nachdem fie fein Sohn in Verbindung mit Bruno Bauch
herausgegeben hat. Ein erfter Teil behandelt die ver-
fchiedenen Auftäffungen des gefchichtsphilofophifchen
Problems, das ihm erft eine Schöpfung des Chriften-
tums oder noch genauer der Gnoftiker ift. Die antike
Philofophie habe keine Gefchichtsphilofophie gehabt, wenn
auch an fpäterer Stelle W. geneigt ift, die platonifche
und ariftotelifche Stufenfolge der Staatsverfaffungen als
folche gelten zu laffen. Ich halte das freilich nicht für
ganz richtig, fondern glaube, daß die Einbettung des
menfchlichen Geiftes in den Weltprozeß allerdings auch

eine Gefchichtsphilofophie bedeutete, nur eben völlig anderer
Art als die der chriftlichen Periode. Der Unterfchied
wäre gerade in diefem Punkte recht lehrreich zu erleuchten;
auch find die griechifchen Anfätze einer kulturgefchicht-
lichen Betrachtung nicht unerheblich, müffen freilich erft
dargeftellt werden. An diefe kritifche Überficht reiht W.
dann feine eigene Auffaffung an, die in den Grundzügen
ja bekannt ift. Er geht von einem erweiterten Tranfzen-
dentalismus aus, d. h. er konftruiert zunächft neben
der Logik des Naturerkennens die des Gefchichtserken-
nens und entwickelt aus den in diefer Logik eingefchloi-
fenen Vorausfetzungen die eigentliche Gefchichtsphilofophie
, d.h. dieKonftruktion eines ethifchenMenfchheitsideals,
das als Beurteilungsmaßftab für die Stufen der .Entwicke-
lung' gelten kann und felber im gefchichtlichen Prozeß
durch die hiftorifche Arbeit erzeugt wird. Diefes Ideal
ift ihm in griechifcher Kunft und Wiffenfchaft, chriftlicher
Humanität, römifchem Recht und platonifch-ftoifcher
Philofophie konzentriert und dringt von diefem atlantifch-
europäifchen Knotenpunkte in die Welt hinein, um in ihr
die Menfchheitsidee zu verwirklichen, die von ihrem zoo-
logifchen und geographifchen Begriff unterfchieden ift
wie Idee von Begriff, Freiheit von Natur. Von diefem
Menfchheitsideal aus find dann die nationalen und ftaat-
lichen Verbände zu beurteilen, d. h. die Grundbegriffe der
Rechtsphilofophie zu entwickeln. Daran follte fich als dritter
Punkt die Einreihungdes Individuums unter das Menfchheitsideal
anfchließen. Mitten im zweiten Abfchnitte hat
Krankheit und Tod dem Verfaffer die Feder aus der Hand
genommen; man fühlt fie fchon vorher an einigen Stellen
zittern.

Der großgedachte Entwurf gehört ganz dem Kanti-
fchenTypus der Gefchichtsphilofophie an. Eine Kritik, die ja
nur eine Äußerung über das Verhältnis diefer Gedanken
zu den mir als richtig erfcheinenden fein könnte, ift auch
in diefer Einfchränkung an diefem Orte unmöglich. Ich
würde den Beurteilungsmaßftab nicht in diefer Weife
aus den Implikationen der Gefchichtslogik entwickeln und
ihn nicht in diefer Weife an die Menfchheitsidee binden
können. Auch würde ich das Problem des von W.
wie felbftverftändlich gebrauchten Entwicklungsbegriffes,
womit ja doch der zunächft fubjektiv-ideale Maßftab in
eine inner objektive Tendenz des Werdens zurückgebogen
wird, für ein ganz befonders fchwieriges Zentralproblem
halten. Schließlich enthält diefe fcheinbar rein
formal entworfene Gefchichtsphilofophie durch die Kombination
der oben genannten hiftorifchen Elemente doch
zugleich eine materiale, bei der ich die Elemente als
unvollftändig aufgezählt empfinde und ihre inneren Spannungen
für unterfchätzt halte.

Der Text ift leider durch einige Lefefehler des Setzers
arg entftellt, die die Herausgeber nicht ausgemerzt haben.
Das Wort ,generalogifch' S.45 ift ficher unrichtig, ebenfo
der Doppelpunkt am Schluffe diefes Satzes. Auf S. 57
muß es ftatt ,Unhiftorifch ift' neuerlich heißen: ,Und
hiftorifch ift'. Auf S. 59 muß es ftatt ,ein Elend' ficher
heißen ,in der Idee' oder ,in der Hoffnung' oder ähnlich.
Auf S. 65 muß es ftatt ,Verftändigung der Staatsideen'
heißen ,Verfelbftändigung der Staatsidee'. Für ,Verftandes-
pfychologie' S. 46 muß es wohl heißen ,verftehende
Pfychologie'.

Berlin. Troeltfch.

Pfordten, Prof. Dr. Otto v. der: Religions-Philorophie.

(Sammlung Göfchen, Nr. 772.) (152 S.) kl. 8°. Berlin,
G. J. Göfchen 1916. Geb. M. 1 —

Diefes Büchlein befteht aus drei Teilen, einem hiftorifchen
, einem religionspfychologifchen und einem theore-
tifchen. In dem erften, fogenannten hiftorifchen Teil
wird das Wefen und die Entwicklung der Religion diskutiert
. Zum Wefen der Religion gehören vier Stücke: