Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1917

Spalte:

214-215

Autor/Hrsg.:

Stokmann, G.

Titel/Untertitel:

Reichsgeschichtliche Auslegung der Offenbarung des Johannes für gebildete Schriftgläubige 1917

Rezensent:

Heitmüller, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

21?

214

wieder, wenn es dem einzelnen Forfcher paßt, auf ihr
ängftliches Fefthalten. Tatfächlich muß ihm zugeftanden
werden, daß wir noch weit davon entfernt find, die Überlieferung
wirklich kritifch gefondert vor uns zu fehen, und
daß einoft fehr fubjektiv gefärbtes Gefchmacksurteil feine
Entscheidungen fällt. Daß L. dies eindringlich zur Darfteilung
bringt, halte ich für eines der größten Verdienlle
des Buches.

Aus der einfchneidenden Kritik, die er an der liberalen
Leben-Jefu-Forfchung ausübt, folgert er, daß ihre
ganze Vorausfetzung falfch ift, die nämlich, daß das Leben
Jefu rein menfchlich gewefen fei. Ein Verftändnis Jefu
ift nur dem Glauben möglich. Und unter den Überlegungen
, die als Beweife für diefe Hauptthefe angeführt
werden, ftechen vor allem zwei heraus.

Erftens: dasjoh.-ev. ift echt, und es ift eine wichtige
Quelle neben Mk. und Q. Ich kann von mir aus L. in
vielem zuftimmen, was er zugunften der Gefchichtlichkeit
gewiffer Stücke des johanneifchen Berichtes anführt. Wir
haben im 4. Ev. eine andere, eine jerufalemer Überliefe-
runT vor uns, und eine Menge von Einzelheiten aus ihr
kann zur Ergänzung von Mk. und zu feiner Richtigftellung
möglicherweife dienen: mehrere Reifen Jefu nach Jerufalem,
die Tempelreinigung*beim erften Befuche, die Chronologie
der Leidensgefchichte. Aber das alles ift doch nur Rahmen
und hiftorifches Beiwerk, Wie fteht es mit den Wundern
bei Joh.? Ich will nicht lange wiederholen, was fchon fo
oft gefagt worden ift: es find wenig Wunder bei Joh.,
aber er nimmt die größten von den fynoptifchen heraus,
formt den Königifchen um, fügt neue große, zum Teil ungeheure
hinzu. Das gibt L. mit Einfchränkungen felber
zu: S. 83, S. 134 Anm. 4. — Und der Prolog und die
Reden? Die find zweifellos ungefchichtlich fowohl in der
Form wie in der Gedankenführung: S. 85; und man kann
beftenfalls nur annehmen, daß bei Joh. gewiffe Jefusworte
variiert und ausgefponnen werden, und daß Jefus im vertrauten
Kreife in mancher Hinficht anders gefprochen habe als
öffentlich: S. 84f. So wie man das alles aber zugibt, dann
kommt es darauf, ob der Zebedäusfohn das Buch ge-
fchrieben hat, nicht mehr fehr an, und als Gewährsmann
kann hinter der Schrift für ihre wirklichen Erinnerungen
an Jefus ebenfogut ein anderer Mann des Urkreifes —
ein Jerufalemer, kein Galiläer, wie mir fcheint — flehen.
Wie außerordentlich ftark Paulus und überhaupt die Theologie
und Frömmigkeit der nachpaulinifchen Zeit fich im
gl Ev. widerfpiegelt, davon erfährt man bei L. nichts.
Das alles ift aber doch zugeftanden, auch bis weit in die
Kreife der Rechten, wie etwa Feines Theologie des NT.2
515—545 beweift. Es ift mir unfaßbar, wie L. vomjoh.-
evangelium, das zudem noch in feiner Religion in ftärk-
ftes eigenes Empfinden und Erfahren eingetaucht ift, den
Synoptikern gegenüber lägen kann, es täte fich in der
Überlieferung feiner Reden befonders viel vom Geifte
Jefu kund (S. 85). Daß ein Glaubensbild von Jefus in
' Zügen gezeichnet wird, die fich menfchlichen Maßftäben
entziehen (S. 74), ift unzweifelhaft richtig. Aber wenn
wir Zu erfaffen verfuchen: wer war Jefus Chriftus? können
wir doch nie an das 4. Evangelium herangehen, an ein
Glaubensbild, das auch nach der kirchlichen Überlieferung
70—80 Jahre nach dem Tode Jefu entftanden ift.
Dann täten wir doch viel beffer, gleich vom Chriftusbilde
der Paulusbriefe, alfo etwa von Phil. 2,5ff., auszugehen.

Mit dem eben Henmrgehobenen, demÜbermenfchlichen
im johanneifchen Chriftusbild, kommen wir zu dem Zweiten
, worauf L. größten Nachdruck legt: Jefu Selbftbewußt-
fein, auch nach den Synoptikern, fällt aus jeder menfchlichen
Analogie heraus; wie können wir ihn mit rein
inenfchlichen Maßftäben meften und erklären I Gewiß,
wir flehen hier vor einem Geheimnis, aber das wird auch
bei der-Forfchung anerkannt, gegen die L. ankämpft.
Religiös gefprochen: Gott hat Jefus vor allen Menfchen
begnadigt, hat ihn an fein Herz genommen und es ihm
erfchloffen; Jefu Gottesbewußtfein ift die reinfte und

ftärkfte Quelle in der Menlchbeitsgefchichte. L. legt der
! hiftorifch-kritifch ai behenden Leben-Jefu-Forfchung die
j Aufgabe auf die Schultern, Jefu Perfon zu verftehen im
Sinne der genetifchen, die Entftehung und das Werden
i diefer Perfon verdeutlichenden Erklärung (S. 237). Diefe
| Aufgabe ift felbftverftändlich unmöglich zu löfen; und fie
j wäre es auch dann, wenn wir über ganz andere Quellen
I verfügten, als wir tatfächlich-befitzen, Quellen, die uns das
Innere Jefu und feinen Werdegang erfchloffen. Denn
können wir wirklich in der von L. geforderten Weife irgendeinen
großen und urfprünglichen Mann erklären? Jeder
Große ift ein Geheimnis Gottes, und ein Strahl göttlichen
Wefens leuchtet durch ihn. Wer durch Carlyles
Gedankenwelt hindurch gegangen ift, diefe hohe Verknüpfung
von deutfchem und puritanifchem Idealismus,
kann doch niemals von dem Erklären der großen Menfch-
heitsführer reden. Da find fie, weil fie find, und in ihnen
ergreift göttliche Vernunft, Logos, die Herrfchaft über
j den Stoff und geftaltet ihn. Hunderte von lärmenden,
j fröhlichen und oft genug fchmutzigen Kindern fpielten
von 150 Jahren, wie heute, in den Straßen Alt-Bonns,
j und mitten unter ihnen, in nichts von ihnen unterfchieden,
i im Hinterhaufe geboren, vernachläffigt im Äußeren wie
fie, wuchs Beethoven auf. Wer kann ihn genetifch erklären
? Ein Funke Gottes war in ihm lebendig, geheimnisvoll
, jedes Ivrklärens fpottend. Gewiß, bei allen Großen
' unferes Gefchlechtes fehen wir immer viel Nur-Menfch-
liches, viel Zagen und Sünde, Gottferne, die Welt drängt
fich an fie heran, und fie haben in den Kämpfen des
Lebens nicht das hohe, ftäte Selbftbewußtfein Jefu, oder
fie waren Schwärmer, wie Simon Magus und Montan,
und ihr Werk hatte keinen Beftand. Aber ganz ohne
Analogie in der Gefchichte der Religionen ift nun doch
das hohe, übermenfchliche Selbftbewußtfein Jefu und feine
weltweite Wirkfamkeit nicht. Bei Buddha kommt, foweit
ich es verliehe, ein Selbftbewußtfein zu Tage, das auch
die menfchlichen Schranken fprengt. Er ift der Thata-
gata, der Muftermenfch, und die hohen Götter felber er-
löft feine Lehre. Das Kindliche und Sohnhafte, das Vertrauen
auf Gott und der Verkehr mit ihm, die Unterordnung
unter den Vater, wie wir fie bei Jefus finden, fehlt
ganz bei Buddha. Und feine Gemeinde hat an ihn geglaubt
und hat bekannt: Groß ift Brahma, aber was vermag
er gegen einen Sohn des Vollendeten? Wenn der
buddhiftifche Bettelmönch ein Arhat geworden ift, meint
er, daß die Götter felber ihm dienen. So wirkt im Buddhismus
das Selbftbewußtfein des Meifters noch in den fpäten
Jüngern fort. Haben wir bei Buddha nicht eine Analogie
zum Selbftbewußtfein Jefu?

Daß ein Menfch, ein wirklicher und wahrhafter Menfch,
j der in der Gefchichte aufgetreten ift, fein konnte wie Jefus,
ift mir, und wie ich glaube, auch manchem andern, religiös
ungemein wertvoll; es ift mir das Allertröftlichfte,
was ich in der Gefchichte überhaupt erleben kann. ,Und
fie priefen Gott, daß er eine folche Macht den Menfchen
gegeben habe.'

Wie wird L.s Buch in der Theologie wirken? Ich
habe den Eindruck, daß er einen einfamen, fchmalen I Ioch-
; pfad geht, auf dem wenige ihm folgen können. Von
denen, die es verfuchen ihm nachzugehen, werden viele
nach rechts abgleiten, viele aber ohne Zweifel auch nach
links. Denn alle Vorausfetzungen der hiftorifch-kritifchen
Forfchung find bei L. anerkannt, und das im letzten
Grunde unerklärbare Geheimnis der Perfon Jefu bleibt
j für jeden Fall beliehen: grade die liberale Forfchung
hat es bei Jefus und auch bei Paulus oft und deutlich
I genug hervorgehoben.

Bonn. Rudolf Knopf.

Stokmann, Pallor G.: Reichsgelchichtliche Auslegung der
Offenbarung des Johannes für gebildete Schriftgläubige.