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Ausgabe:

1917 Nr. 10

Spalte:

198-199

Autor/Hrsg.:

Cassirer, Erich

Titel/Untertitel:

Berkeleys System. Ein Beitrag zur Geschichte und Systematik des Idealismus 1917

Rezensent:

Buchenau, Artur

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197

Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 10.

198

berückfichtigt auch die Autographen und die Nagelate i
Schriften. Die Numerierung Vloten-Lands behält fie
bei. Dem Bändchen mit den (fechs erhaltenen) Lebensbe-
fchreibungen ift auf einigen Seiten beigefügt, was an
authentifchen mündlichen Äußerungen Spinozas auf uns
gekommen ift, und weiterhin ein Verzeichnis der wichtig-
ften überlieferten Urkunden (Familieninfchriften, Bann- j
fpruch, Verbote etc.), fodaß dies Bändchen nach Gebhardts
Meinung in der Tat alles umfaßt, was heute noch vom
äußeren Leben des Philofophen Zeugnis gibt.

Bohrmann unterfucht das Rätfei des Tract. theol.-
pol. Er übernimmt dabei die Auffaffung Freudenthals
vom politifchen Teil, findet aber Freudenthals und Gebhardts
Auffaffung vom theologifchen Teil unzureichend.
Vielmehr erhebt er hier einen von beiden ausgefprochenen
Nebengedanken zum Prinzip, den nämlich, daß fich im
Tr. zwei disparate Elemente vorfinden: Vernunftreligion j
und Oftenbarungsreligion. Nun aber erweift Spinoza die
Vernunftreligion als im Kerngehalt mit der Offenbarungsreligion
übereinftimmend, und zwar durch Akkommodation
um jeden Preis. Spinoza erzielt fo eine Apologie feiner
eigenen Ehre und Lehre. In dem Nachweis der Exiftenz-
berechtigung der Vernunftreligion gewinnt er aber weiterhin
den Ausgangspunkt für feine Frontftellung in den
kirchen- und ftaatspolitifchen Kämpfen jener Tage. Wie
indeffen gefchichtlich der Tract. feine Wirkungen förmlich
in konzentrifchen Kreifen gezogen hat, fo fchreitet nun
Bohrmann weiter und würdigt überhaupt Spinozas Stellung
zur Religion, fpeziell die umftrittene Frage feiner Stellung
zum Chriftentum. Was fich fchon bei der Unterfuchung
des Track herausgeftellt hatte, das beftätigt fich von
neuem, wenn man auf das Ganze geht: Spinoza lehnt
die chriftliche Offenbarungsreligion ab und bekennt fich
zur Vernunftreligion. Damit ift aber das Ziel der Unterfuchung
erreicht: es befteht keine Diskrepanz zwifchen
dem (vielleicht offenbarungsfreundlichen) Tract. und der I
fonftigen (zweifellos offenbarungsfeindlichen) Gefamtauf-
faffung Spinozas. Vielmehr bilden beide eine in fich ge-
fchloffene und verftändliche Einheit. Und wieder einen
weiteren Kreis zieht Bohrmann, wenn er in einem Anhang
(.Spinoza in England') fich dem Deismus zuwendet. Aber
freilich muß er es einerfeits ablehnen, Spinoza trotz ge-
wiffer Ähnlichkeiten zu den Deiften zu rechnen. Und
ebenfo ift er andererfeits bei verdienftlicher und felbft-
ftändiger Sammelarbeit zu dem Ergebnis gekommen,
daß nur äußerft geringe Einflüffe Spinozas auf die eng-
lifchen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts vorliegen.

Mit der Religionsphilofophie Spinozas befchäftigt fich
auch Hu an, aber er orientiert fich nicht bloß am Tract.
theol.-pol., fondern an fämtlichen Werken, und hier dominiert
natürlich die Ethik. Vom Exoterifchen wenden
wir uns alfo zum Efoterifchen, von der Frage nach der
Religion zu der im Sinne jener Zeit ganz anders einge-
ftellten Frage nach Gott. Huan fucht in feiner Monographie
das Verftändnis der Gedanken Spinozas nicht in
der vielfach geübten Weife zu gewinnen, daß er fie hifto-
rifch-genetifch aus früheren und gleichzeitigen philofophi-
fchen und religiöfen Richtungen ableitet (wiewohl dies
nicht gänzlich fehlt), fondern fo, daß er fie immanent entwickelt
. Er tut dies in forgfältiger, eindringender und
fcharffinniger Exegefe und liefert eine methodifche
und dialektifche Mufterleiftung. Dabei gibt er unermüdliche
und gründliche Auseinanderfetzung mit anderen
Exegeten. Die Literatur wird umfaffend verarbeitet [
und in einer eigenen Bibliographie zufammengeftellt, ohne t
daß jedoch abfolute Vollftändigkeit erreicht wäre. So
fehlen z. B. die Arbeiten von H. Schwarz. Die Zitate
der deutfchen Interpreten, deren Übergewicht man übrigens
hier feftftellen kann, wimmeln von Druckfehlern und Un-
genauigkeiten. Angenehm fällt dagegen die Zufammen-
fammenfaffung der Flrgebniffe in einem eigenen Schlußkapitel
auf. Zu wünfchen wäre auch ein Sach- und
Stellen-Regifter. Huan gliedert feine Unterfuchung in

vier Kapitel: Gottes Subftanzialität, Kaufalität, Attribute,
Modalitäten. Was hier vorliegt, ift eine energifche und
in fich gefchloffene gedankliche Durcharbeitung des Sub-
ftanzbegriffes. Ähnlich wie Spinoza felbft hat Huan von
dem Syftem eine Gefamt-Intuition, die er nun kriftall-
fcharf in diskurfiver Form und mit einer ähnlichen Kraft
des konfequenten Denkens wie fein Meifter darlegt. Indem
er die Selbftändigkeit des Subftanzbegriffes herausarbeitet
, gewinnt er eine eigenartige Selbftändigkeit des
Gottesbegriffes. Weder Atheismus noch Theimus, weder
Pantheismus noch Panentheismus haben nach Huan das
Richtige getroffen. Der Gottesbegriff Spinozas ift vielmehr
eine höhere Synthefe von Theismus und Pantheismus
, ein Typ für fich alfo, für den es freilich keinen
anderen Namen gibt als eben den des — Spinozismus.

Gleißenberg-Burghaslach. Oftertag.

Calfirer, Dr. Erich: Berkeleys Syftem. Ein Beitrag zur
Gefchichte u. Syftematik des Idealismus. (Philofophifche
Arbeiten. VIII, Bd. 2. Heft.) (III, V, 169 S.) Gießen,
K. Töpelmann 1914. M. 5 —

In der Gefchichte des Idealismus bildet das Syftem
Berkeleys ein intereffantes Zwifchenglied zwifchen dem
Empirismus Lockes und dem Kritizismus Kants. Freilich
ift feine Wertung fehr fchwierig, da bei diefem
eigenartigen Denker alles gleichkam in ftetem Fluffe ift
und fo in den fpäteren Schriften, befonders im ,Siris',
manches fleht, was den Darlegungen der Jugendwerke
geradezu widerfpricht. Man hat fich auch bei Berkeley
(wie meift in der Gefchichte der Philofophie) die Aufgabe
zu leicht gemacht und ihn vielfach auf Grund ungenügenden
Materials be- und verurteilt. So ift es ein Verdienft
Erich Caffirers, daß er hier einmal den ganzen Berkeley
erforfcht und nach feinen fyftematifchen Grundgedanken
darftellt. Caffirers Standpunkt ift der der .Marburger
Schule', insbefondere ift er von feinem älteren Vetter
Ernft Caffirer und von Hermann Cohen beeinflußt worden
. Obwohl hier fo durchweg die Beziehungen zu Kants
Begriff der reinen Philofophie mit Bewußtlein gefacht
werden, ift für C. die Aufgabe, das Syftem Berkeleys zu be-
ftimmen, der Denkergröße des Philofophen gemäß, nickts-
deftoweniger philofophifcher Selbftzweck. In erfter Linie
ift es ihm darum zu tun, den Beitrag zu ermitteln, den
die Philofophie Berkeleys für die Begründung der Prinzipien
der reinen Erkenntnis leiftet, wobei befonders zwei
weniger bekannte Schriften: ,De motu' und ,der Analyft'
herangezogen werden. Der Verfafler entwickelt zunächft die
allgemeinen Vorausfetzungen des Berkeleyfchen Syftems,
wobei er mit Recht ftarken Gebrauch macht von den
Tagebuch-Aufzeichnungen Berkeleys, die einen höchft
bedeutfamen Einblick in die geiftige Werkftatt erlauben.
Der Begriff der ,Idee', das Verhältnis von Vorftellung
und Begriff wird erörtert und Berkeleys Begründung des
Idealismus an den Beifpielen des Begriffs der Materie
und der Gottesidee aufgezeigt, ferner das Verhältnis
von Wahrnehmung und Erkenntnis und die Begriffe Raum
und Zeit erörtert. Der zweite Teil der Unterfuchung
befchäftigt fich mit den fpäteren Schriften und zwar,
abgefehen von den bereits genannten, mit dem ,Siris', in
dem Berkeley, wenigftens in der eigentlichen Metaphyfik
und den Geifteswiffenfchaften, zum Verteidiger der Plato-
nifchen .Ideen' wird, fodaß zweifellos zwifchen dem jungen
Berkeley, der esse gleich percipi fetzte, und dem Verfafler
des ,Siris' eine große Kluft vorhanden ift. Der Nachtrag
enthält einige Bemerkungen über das Verhältnis von
Berkeley und Collier. Es zeigt fich, daß der fpätere Ber-
keleyfche Idealismus in der Tat eine Vorftufe des Kanti-
fchen ift, zugleich aber auch, daß gerade beim Problem
der Erkenntnis-Bedingungen der mathematifchen Natur-
wiffenfchaft der Unterfchied gewaltig groß ift. Diejenigen
freilich, welche immer noch Berkeley für einen ,Senfuali-