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Ausgabe:

1917

Spalte:

170-171

Autor/Hrsg.:

Eberhardt, Paul

Titel/Untertitel:

Von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der reinen Religion 1917

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung 1917 Nr. 8/9.

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noch Bleek (S. 23 heißt es irrig: Bleck) Kinkel, E. M. j 1895), die .evangelifche Predigt in der Kriegszeit'(Sonder-
Arndt u. a. wirkten. Schon dadurch kennzeichnet er fich | bundskrieg), die Freiheit der Kirche gegenüber zu enger
als ein Mann der Mitte, der gegen rechts und links fich • Verbindung mit der radikalen politifchen Partei, die Litur-
abgrenzt, aber von beiden Seiten auch annehmen möchte, gie, die Chriftologie, die feitdem ja wefentlich geförderte,
Dabei ift nicht zu verkennen, daß die Front gegen die | aber noch ftarkem kantonalem Hemmnis begegnende kirch-
Linke ftärker befeftigt und auch aggreffiver entwickelt ; liehe Vereinigung der evangelifchen Schweiz handeln, F.
wird als die gegen die rechte. Das hängt mit den eigen- | wußte ftets Treffendes und noch heute Wertvolles zu fagen.
artigen kirchenpolitifchen Verhältniffen in Zürich zufam- i Daneben ging eine fehr intenfive theologifch-wiffenfchaft-
men, deren Verftändnis dem Ausländer um fo fchwerer liehe Tätigkeit im engeren Wortfinne einher, aus der feine
fällt, als fie mit der Perfon David Friedrich Strauss' ver- ,Statiftik' der reformierten Schweiz wohl die bekanntefte
knüpft find, für den einzutreten Sympathien und Ge- , Leiflung ift; fie bot fchon 1854,56 das, was Drews fpäter
rechtigkeitsgefühl verpflichten. Aber wer es noch nicht j in der .Kirchenkunde' forderte.

wußte, kann es aus diefem Programm lernen, daß es I Der vorliegende Teil der Biographie reicht bis zum
in den Kämpfen des „Züriputfches" um viel Größeres Jahre 1867 d. h. bis zur Wahl zum Antiftes. Inzwifchen
und Tieferes ging als um die Perfon des ehemaligen ift der Verfaffer, der verdiente und bekannte Homerforfcher,
Tübinger Dozenten; der vielmehr als unglückliches Opfer ; verftorben, aber fein Bruder hat die Vollendung des Werkes
hineingeriffen wurde und Märtyrer einer Partei wurde, die übernommen, der wir mit freudiger Erwartung entgegen-
ihn innerlich kaum etwas anging. Das Schickfal von fehen.

Strauss ift tieftragifch, aber es ift verfehlt, diefes Schick- Zürich Walter Köhler

fal, das dem genialften der damaligen Theologenwelt das 0
Leben verpfufchte, zum Maßftab des Urteils über die ~ ~ .. „ TT " .... ,. , ~ " ; ~ ~
Züricher Bewegung zumachen. Diefe liberale Regierung, Eberhardt, Paul: Von der Möglichkeit und der Notwendig-
die damals Strauss berief, kann wirklich nicht allzufehr keit der reinen Religion. (69 S.) 8" Gotha, F. A. Perthes
imponieren. Man höre Finslers Urteil: 1916. M. 1.20

In Nr. 3 des vorigen Jahrgangs diefer Zeitfchrift habe
ich bereits ein Büchlein deffelben Vf. angezeigt, das den
etwas auffälligen Titel trug: ,Das Ungeheure, von dem
Irrtum des Lebens ohne Gott'. Ich bemerkte damals, es
fcheine nach den nicht ganz in deutliche Begriffe faßbaren
Ausführungen E.s, daß Religion für ihn etwa Seelenerleben
fei. Die heute zu befprechende Schrift, die ebenfalls in
einer etwas überfchäumenden Sprache gefchrieben ift
und fich mehrfach bemüht, Unfagbares auszufprechen,
zieht klarere und feftere Linien. ,Die religiöfe Erkenntnis
.. nimmt ihren Ausgang in dem Erlebnis der Seele
von fich felbft. Das feelifche Dafein wird als wahrhaft
Wirklichftes empfunden über alles, was man fonft als
Erkenntnis bezeichnet, hinaus. Die Seele erweitert fich
fodann über fich felbft hinaus im zweiten Schritt: fie

,Vas du von unfern Sttaußiancrn fchreibft, daß die weuigften das
Syftem von Strauß recht kennen, dem ftimme ich ganz bei, und ich
glaube, das gilt mit Ausnahme einzelner höher Gebildeter am See faß
von allen Straußen auf dem Lande. Bei den einen ift es der flachfte
vulgiirfte Kationalismus, der fich nur an die alleräußerften, unverdauten
Kefultate von Strauß hält und von der Tiefe Hegelfcher Spekulation
keine Ahnung hat. Bei den andern ift es veritabler Atheismus und Materialismus
, wie denn überhaupt eine bloß immanente Weltanficht auf den
niedrigem Stufen der Kultur gewöhnlich in Materialismus umfehlägt, fo daß
diefe Sorte von Straußianern das Wort Gott nie ausfprechen, fondern fich
mit Redensarten wie: die Natur hat es fo gewollt u. dgl. begnügen, ohne
daß fie lieh zur Idee des fich in der Außenwelt manifeftierenden Geiftes
zu erheben vermöchten. Daher denn auch der Horror des Volkes vor
(liefen Leuten, weil fie mit der grobem Korm auch den Inhalt entfernen ....
Von den Straußianern kommt dem Volke in religiöfer Beziehung gewiß
kein Heil, eben weil fie ihm für das Genommene nichts geben können . . .
Sie find wefentlich Kationaliften, die den tiefen Gehalt der chrifllichen
Dogmen durchweg verdammen, und, was ihnen mit ihrem gewöhnlichen
Verlland unvereinbar fcheint, gleich auf die Seite fchiebeu; daher die

Bezeichnung: Denkgläubige, auf die fie fich viel zugute tun. j erkennt, daß ihr Sein begründet ift in der Hingabe an

Der nur zu begreifliche Gegenfatz gegen diefe Rieh- j ein andres Sein. Das hebt fie über ihre Einfamkeit hinaus

tung hat Finsler ftets beherrfcht; er verknüpfte fich mit
dem Widerfpruch gegen die Hegelfche Philofophie, auch
ihren edelften theologifchen Vertreter, Biedermann, trotz
aller perfönlichen Freundfchaft. F. hat fehr klar und deut-

und bringt fie in das Dafein in einem Reiche der Seelen . .
Drittens: die Tatfachlichkeit des feiigen Infichfeins der
Seele auf Grund des feiigen Zueinanderfeins der Seelen
wird als Gnade und Güte erkannt von feiten einer über

lieh die in diefer kirchenpolitifch als fogen. Reform zufam- , allem und doch in allem wirkenden perfönlichen Macht,
mengefchloffenen Richtung liegende Gefahr der Bildungs- So ift Gott über den Seelen, weil er in ihnen allen ift',
philifterei und Verflachung erkannt; er hat da fcharfe I S. 55. Das ift reine und edle Myftik. Eigenartig ift hier
(vgl. z. B. S. 81 85 f) aber treffende Worte gefprochen. ' vor allem die Einfchiebung von Stufe 2 zwifchen 1 und 3,
Auf der anderen Seite ift ihm die fogen. pofitive Rieh- j alfo die Ausfage, daß es fich beim religiöfen Erleben
tung, wie fie ihm z. B. in Joh. Pet. Lange entgegentrat, nicht nur darum handelt, daß die Seele ihrer felbft und
unfympathifch wegen ihres gequälten Fefthaltens an den ; ihrer geheimnisreichen Tiefe und Gottes und feiner über-
altkirchlichen Dogmen und des nicht völlig freien Rechtes wältigenden Güte innewird, fondern fich zugleich hinein-
der wiffenfehaftlichen Forfchung. So wurde F., von Nitzfeh ! gezogen fühlt in einen feiigen Liebesbund der Geifter.
gefördert, Führer einer Vermittlungspartei, deren Organ ; Auch in diefem Buche findet fich neben Abfchnitten von
das von ihm vortrefflich redigierte, von Hagenbach 1845 1 reichem fowohl dichterifchem als auch religiöfem Gehalt
begründete .Kirchenblatt' wurde und feit feiner Aufer- : viel hitzige, derbe Polemik, auf die man nicht ungern
ftehung auch geblieben ift. .Nach langen innern Kämp- ] verzichtete. Ift nicht die der Myftik homogenfte Dar-
fen fand ich Ruhe und Frieden in der Vermittlung oder ftellungsform die fchlichte und kindliche Selbftausfage,
Ausgleichung des hiftorifch Gegebenen im Chriftentum ; wie etwa in der .Deutfchen Theologie'? E.s Myftik wird,
und der hergebrachten Kirchenlehre einerfeits und den j wie mir fcheint, bedroht von zwei Gefahren, denen in
Anforderungen des denkenden Verftandes und derWiffen- j der Vergangenheit mehr als ein Myftiker erlag, der fich
fchaft anderfeits'. Die im .Kirchenblatt' niedergelegten über die Idee hinaus zum reinen Sein und über die
programmatifchen Auffätze behandeln die wichtigften ! Moral hinaus zur fchrankenlofen Freiheit erhob, von der
Frao-en des fchweizerifchen, fpeziell des Zürcherfchen Kir- ! Gefahr des Sichverlierens im Sinnlos—Ekftatifchen und
chenwefens Vom Standpunkte vornehmer Weitherzig- I der des Libertinismus. Zu letzterem vgl. auf S. 10: .Alles
keit aus. .Eine theologifche Richtung ift in der Kirche , ift uns erlaubt, und nichts ift uns verwehrt, wir kennen
in dem Maße berechtigt, als fie imftande ift, das in Chnftus ! kein Gewiffen, und wir kennen keine Pflicht; nichts ttt
geoffenbarte Leben den Gliedern der Kirche anzueignen j uns heilig und nichts ift uns gemein; wir lachen über
und auf dem Grunde des hiftorifch gegebenen Chriftenlums ! die erhabenften Mienen und knieen vor derjammerlichiten
ein wahrhaft religiöfes und fittliches Leben zu wecken. : Erbärmlichkeit. Wir lieben und wir halfen, wir haften
Mochte es fich um Verlegung des Reformationsfeftes vom und wir lieben — fchrankenlos'. E fcheint jedenfalls
Sonntage nach Pfingften auf Ende Oktober (fo erft feit ein Mann zu fein, der aus vollem Herzen und ftarkem