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Ausgabe:

1916 Nr. 7

Spalte:

152-153

Autor/Hrsg.:

Dehio, Ludwig

Titel/Untertitel:

Innozenz IV. und England. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 13. Jahrhunderts 1916

Rezensent:

Wenck, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 7.

152

Textes überfteigt fo ziemlich alles, was man bei einem
hochliterarifchen z. T. in Kodizes des IX. Jahrhunderts
erhaltenen Werke für möglich zu halten gewohnt ift. Die
Varianten der Zeugen find meift unerheblich: dafür
ftimmen fie mit rührender Treue überein in einer Un-
fumme von groben Verfchreibungen und kleineren oder
größeren Lücken, derart, daß faft keine Seite der Ausgabe
von Eingriffen des Herausgebers frei ift, viele von Zu-
fätzen, Konjekturen, Lückenzeichen und dem Kreuz f der
,Unheilbarkeit' förmlich wimmeln. Jetzt erft fehen wir
dank H.s hingebender Arbeit, was für Unfinn wir bisher
aus Dindorfs Ausgabe hinuntergefchluckt haben.

Eine eindrucksvolle, auf harte Tatfachen geftützte
Belehrung über den Zuftand des Textes geben die Partien,
welche nebenher auch in der alten Anakephalaiosis erhalten
find: man prüfe z. B. einmal die Seiten 155—
und 227—233 der Ausgabe. Da zeigt jeder der beiden
Überlieferungszweige die fchweren Verderbniffe des andern,
aber auch beide zufammengelegt laffen noch manchen
Fehler ungebeffert; vgl. S. 159,20. 160,17. 161,1. 22. 228,17.
230,17. 231,8. 14. Vielfach weift die Anakephalaiosis,
obwohl auch fie einen entftellten Text bietet, den Weg
zur richtigen Erkenntnis des Urfprünglichen; fo S. 155,17.
230,23. 232,9. 15. In feinem Bericht über die Valentinianer
(haer. 31 S. 398 ff.) fchreibt Epiphanius den Irenaeus aus,
fo daß wir hier außer den Seitenreferenten Hippolyt und
Tertullian vor allem die lateinifche Irenäusüberfetzung zur
Kontrolle heranziehen können. Auch hier zeigt fich dasfelbe
Bild eines ftark entftellten griechifchen Textes, der mit
Hilfe des Lateiners gebeffert werden kann: doch hat, wie
Holl S. 398 bemerkt, der Überfetzer eine Handfchrift vor
fich gehabt, welche mit der von Epiphanius benutzten
eine Anzahl von Verderbniffen teilt, alfo zur felben
Familie gehört. Es ift, wie ich aus reichlicher Erfahrung
weiß, keine leichte Arbeit, Überfetzungen im Apparat
unterzubringen, weil man weglaffen muß, was nur der
Ausdrucksweife des Überfetzers zur Laft fällt — und
darüber werden die Meinungen naturgemäß häufig geteilt
fein. Holl hat feine Aufgabe mit ficherem Takte vortrefflich
gelöft: es find nur Winzigkeiten, über die man verhandeln
könnte. S. 404,6 tandem lat. Harvey S. 17 hat
tarnen, aber Holls Notiz ift ficher richtig: flammt fie aus
nachverglichenen Hss.f S. 399,7 &eov fehlt bei Harvey
S. 3; ob die Hff. deum ftatt eum haben? 399,14 würde
ich vollftändiger notiert wünfchen (palvedti-ai . . ■ tolq
äjcsiQotEQOig ut decipiat . . . rudiores. 399,16 ift in eius
contumeliam wohl falfche Überfetzung von evvßgi&i (== ev
vßgloei?) und deshalb mit Recht nicht notiert. Dagegen
kann man bei 400,19 av^ostq auges und 20 öxegfiava
semen fchwanken. 400,25 ift notiert de < lat.: doch
fcheint mir der Lateiner das auch fprachlich beffere örj
gelefen zu haben: das brauchte er nicht zu überfetzen
vgl. S. 401, 5. Die Worte Aeonem id est Sophiam Harvey
S. 14 gehörten S. 403,11 als Zufatz von ,lat.' in den
Apparat, denn foviel ich fehe, hat Harvey fie nur auf
Grund des griechifchen Textes eingeklammert.

Doch nun zur Hauptfrage: wie hat Holl diefen nachweislich
fo ftark verderbten Text geftaltet? Der kritifche
Lefer ift zunächft verblüfft über die Fülle und Kühnheit
der Eingriffe des Herausgebers, und mancher wird geneigt
fein, die üblichen Bedenken gegen die böfe ,Konjektural-
kritik' zum Bellen zu geben. Aber hier gerade zeigt fich
am fchönften, was diefe vielgefchmähte Kunft vermag.
Bei einem derartigen Zuftand des überlieferten Textes
kann es gar nicht die Aufgabe des Kritikers fein, den
Wortlaut des Werkes reftlos herzuftellen. An vielen, ja
den meiften Stellen wird es nur darauf ankommen zu |
ermitteln, was der Autor hat fagen wollen und diefen
ficherfeftgeftelltenSinndurchvermutungsweifeangebrachte I
Änderungen und Zufätze dem Text zu entlocken. Oft
wird dabei die Wahrfcheinlichkeit groß, ja faft zur Gewißheit
werden, daß auch der Wortlaut des Originals wiedergewonnen
ift. So hat Holl feinen Text bearbeitet, und

man braucht nur ein paar Seiten zu lefen, um fich von
dem auf diefem Wege erzielten gewaltigen Fortfehritt zu
überzeugen. Ich habe an verfchiedenen Stellen des Buches
weite Strecken nachgeprüft und bin ftets der gleichen
Sorgfalt im Auffpüren von Textfehlern, derfelben Ge-
fchicklichkeit im Finden der Löfung begegnet: es fcheint
mir kein Satz mehr unverftanden geblieben zu fein, da
auch vielfach im Apparat Anweifungen zur Interpretation
von Stellen gegeben find, an denen der Lefer zunächft
ftutzt und Fehler vermutet. Aber auch in anderer Weife
noch hat Holl das Verftändnis feines Autors gründlich
gefördert. Der literarifche Apparat, der die zitierten Bibel-
ftellen und Parallelen bei anderen Quellen nachweift, ift
zugleich mit reichhaltigen Verweifen auf moderne Literatur
über die im Text enthaltenen fachlichen Probleme aus-
geftattet und bringt vielfach in kurzen Worten Holls
eigene Stellungnahme zum Ausdruck. Was er bietet, ift
fo reichhaltig, daß man fchon mit mindeftens dem gleichen
Recht wie bei Petavius von einer kommentierten Ausgabe
fprechen kann. Wem es noch nicht klar geworden ift,
daß Textkritik und Interpretation nur zwei verfchiedene
Bezeichnungen derfelben Tätigkeit find, der kann es an
Holls Epiphanius lernen: das Werk ift eine philologifche
Mufterleiftung erften Ranges.

Jena. Hans Lietzmann.

Dehio, Ludwig: Innozenz IV und England. Ein Beitrag zur
Kirchengefchichte des 13. Jahrh. (X, 84 S.) gr. 8°.
Berlin, G. J. Göfchen 1914. M. 3.60

D.s Schrift, eine Straßburger Differtation aus der
Anregung H. Breßlau's, vereinigt fcharffinnige Forfchung
mit felbftändiger Auffaffung, ftraffe Gliederung des Stoffs
mit knapper wirkungsvoller Darfteilung. Ihr fehlen die
herkömmlichen Mängel einer Erftlingsfchrift. So trägt fie
den Untertitel mit vollem Recht. Sie handelt von den
Beziehungen der Kurie in den Jahren 1243—54 zu den
Mächten Englands, mit denen der kluge Diplomat auf
dem päpftlichen Stuhl zu rechnen hatte, wenn er das
Infelreich feiner Machtpolitik, feinem großen Geldbedürfnis
dienftbar machen wollte, ich könnte auch fagen, fie handelt
von den Schwankungen, welche der halt- und würdelofe
König Heinrich III. unter dem Drucke bezw. gegenüber
den Werbungen des Papftes einerfeits, der Stände andrer-
feits in feinem Geldbedürfnis bekundet hat, und von dem
Wandel der Anfchauungen, welche die zunächft noch
päpftlich gefinnte Partei des englifchen Klerus unter dem
zweifachen Druck von Kurie und Krone durchgemacht hat.

Das erfte Kapitel berichtet über die Verbindung des Königs, des
Adels und eines Teiles des Klerus wider den Papft (Herbft 1244—Herbft
1246), das zweite von dem Bunde zwifchen König und Papft, der im
Herbft 1246 mit der Erlaubnis des Königs zur Einfammlung des Sub-
fidiums eingeleitet, 1250 als Heinrich vom Papft den Kreuzzugszehnten
erbat und erlangte, vollftändig wurde und den rafchen Ausbau der päpftlichen
Herrfchaft geftattete. Ihr ftellt fich der Bund von Volk und Klerus
entgegen, der den Kampf des nächften Jahrzehntes um die Freiheit gegen
Krone und Kurie vorbereitet. Neben der Epoche des Baronenkriegs war
das vorausgehende Jahrzehnt von den englifchen Forfchern vernachläffigt
worden. Diefe Lücke zu füllen unternimmt D.s Schrift mit Erfolg. Durch
ihn erhält Leben und Wahrheit die vielfach verkannte Geftalt Robert
Groffetefte's, des Bifchofs von Lincoln (S. 23f. S. 35 und 75 ff.), der
papftgläubig den Widerftand des Königs gegen die Kurie nicht hatte mitmachen
wollen, 1250 aber fich zu feiner überaus fcharfen Philippika wider
die Mißbräuche der Kurie vor Papft und Kardinälen bewogen fühlte. Ich
möchte ihr die Rede des königlich-franzöfifchen Gefandten vom Juni 1247
vor dem Papft, welche uns Mattheus Paris überliefert hat, zur Seite (teilen

— fie fleht im Mittelpunkt einer von mir angeregten gleichzeitig ent-
ftandenen, aber erft 1915 gedruckten Marburger Differtation: Werner Meyer,
Ludwig IX. von Frankreich und Innozenz IV. in den Jahren 1244—47
(103 S. 8°). König und Kleriker find Anhänger des Papfttums, nur wider-
ftreben beide, im Grunde des Herzens franziskanifcher Sinnesart, der
Entwickelung der Papftkirche, wie fie fich fchärfer als vorher durch
Innozenz IV. ausprägte und im 14. Jh. im .Kaufhaus' (domus negotationis

— Marfilius von Padua) von Avignon vollendet hat. D. hat jener Ge-
fandtfehaftsrede beiläufig (S. 84) eine Anmerkung im Gegenfatz zu Haller,
Pa) ftt. u. Kirchenreform I, 393 gewidmet, die Meyer im Sinne feiner
Auffaffung hätte verwerten können und follen. Wie hier, fo bringt D.
gar manchen nützlichen Beitrag zur Kritik des Mattheus Paris, nament-