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Ausgabe:

1916 Nr. 4

Spalte:

88-89

Autor/Hrsg.:

Broeke, James ten

Titel/Untertitel:

A constructive Basis for Theology 1916

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 4.

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einer erfolgreich vorwärtsfchreitenden großen Bewegung,
die ftets gern ihr Licht hat leuchten laffen vor den Leuten.
Ich will damit nicht Mt. 6, 1—4 gegen die Heilsarmee
ausfpielen. Ich weiß, daß das ,Auspofaunen' dort oft
fehr unperfönliche Reklame ift, und habe die größte
Hochachtung vor dem, was männliche und vornehmlich
weibliche Heilsarmee-Offiziere im Verborgenen unter den
Verkommenften und an Gefallenen getan haben und
noch tun. Allein wenn man den organifierten Altruismus
einer Gemeinfchaft, deren Mitarbeiter vielfach erft durch
ihre Mitarbeit wieder in eine fozial gefunde Lage kommen,
fo preift, wie Clafen es tut, fo läßt folches Urteilen die
Zartheit des Maßftabes vermiffen, die nötig ift, wenn man
dem viel ftilleren praktifchen Chriftentum, das vor der
Heilsarmee und neben ihr geübt ward und wird, nicht
Unrecht tun will. — Das greift fchon hinüber zu dem, was
theologifch richtig zu ftellen ift. Es ift deffen in dem,
was S. 123—152 über fozialreligiöfe Bewegungen vor und
neben der Heilsarmee ausgeführt wird, nicht wenig — in
kirchengefchichtlicher Hinficht ift da mancher Strich verzeichnet
—; doch will ich mich dabei nicht aufhalten. Eine
Hauptfache aber muß ich erwähnen. Clafen, der aufgeklärte
Katholik, dem einerfeits ,das im Menfchen angelegte
Menfchentum die realfte Offenbarung Gottes'zu fein fcheint
(S. 205), der aber anderfeits, offenbar in Erinnerung an feine
katholifche Erziehung, es für nötig und berechtigt hält, die
angreifbare Feftftellung zu machen, daß ,die Heilsarmee
die Marienverehrung nicht ablehnt' (S. 34), redet viel von
dem .fynkretiftifchen' Charakter der Heilsarmee-Religion.
Er operiert dabei mit dem gelegentlich auch von Leffing
betonten urfprünglichen Sinn des Begriffs ,Synkretismus',
und was er behaupten will, ift richtig beobachtet: die Heilsarmee
will keine Kirche fein, hat weder Sektengeift noch
eine Sekten-Lehre und ftellt die Dogmatik überhaupt
weit zurück. A lein der Terminus .Synkretismus' für diefe
religiöfe Eigenart der Heilsarmee ift unglücklich; und die
doch auch von Clafen nicht verkannte religiöfe Grundlage
aller Heilsarmee-Tätigkeit kommt nicht zu ihrem
Rechte, wenn man nicht ftark betont, daß die Heilsarmee
eine evangeIifch-chriftliche Organifation ift, der das dem
undogmatifchen Humanitäts-Chriftentum recht fern gerückte
Evangelium von der Erlöfung durch Chriftus die
Grundvoraussetzung ihrer Rettungsarbeit ift. Ich rede da
nicht als .zünftiger Theologe', der .Dogmatik' retten will.
Ich ftimme vielmehr Clafen völlig zu, wenn er fagt: ,Was
der Welt fehlt, find nicht Theologen, fondern Chriften,
welche' ufw. (S. 193). Ja, ich wollte, recht viele Theologen
lernten an und von der Heilsarmee den Grundirrtum
aller Orthodoxie überwinden, daß das Chriftwerden mit dem
.Glauben' an die chriftliche Lehre anfangen foll. Das
,Gläubigwerden ift ein viel einfacheres Ding, als unfere Kirchentradition
annimmt, und das Reifen der Glaubensgedanken
hat fehr viel mehr Stufen und erträgt viel größere Un-
vollkommenheit, als alle noch fo befcheiden gewordenen
Lobredner der ,reinen Lehre' meinen. Aber trotzdem
fchätze ich nicht nur felbft die aus wirklichem Glauben
erwachfenen Glaubensgedanken, (ja ich kann fagen: ,Glau-
benswahrheiten1) viel höher ein als Clafen, fondern glaube
auch, daß die innerlich reifften Salutiften in der Hinficht
anders denken als ihr von modernem .Humanitätschriften-
tum' zu ftark infizierter Lobredner.

Die Schreibweife Clafens ift gewandt und anziehend,
oft wirklich geiftreich. Doch ift auch er dem .Fallen in
Verfuchungen und Stricke', das dem Geiftreich-werden-
wollen droht, nicht immer entgangen. Überftiegenheiten
wie die, daß einem Handfchriftkundigen ,ein einziger Brief
von W. Booth genügen würde, nach einem Jahrtaufend
noch feinen ganzen Charakter zu rekonftruieren' (S. 183),
finden fich auch bei ernfteren Dingen. Die geiftreichelnde
Bemerkung, daß .unfere Nation dem alten Byzanz viel näher
wohne als die englifche' (S. 212), gehört zu den nicht feltenen
Äußerungen einer über das berechtigte Maß hinausgehenden
Bewunderung englifcher Zuftände, für die der Krieg

uns empfindlicher gemacht hat, als wir in dem Erfchei-
nungsjaiir des Clafenfchen Buches es gewefen wären.
— Doch trotz alledem bleibt das Buch ein wirklich gutes
Buch. Es verträgt den Maßftab, den Clafen felbft geltend
macht, wenn er fagt: ,Ein Buch ohne Grundanfchauung
wäre wie ein Menfch ohne Rückgrat. Ich halte es mit
denen, die lieber den Widerfpruch herausfordern als den
Überdruß' (S. 319). Aber ich hoffe, fein Verfaffer wird's
freundlich aufnehmen, wenn ein dankbarer Lefer, der nie
Überdruß und relativ wenig Verlockung zum Widerfpruch
empfunden hat, doch einem .tertium' fich nicht hat entziehen
können, das übrig bleibt: dem Eindruck, daß des
Verfaffers Urteile durch größeres Wiffen über die .zünftige
Theologie', durch größere Schulung in zarterem Differenzieren
und durch größere Abneigung vor Superlativen
und gelegentlich auch angreifbaren .großen Konftruktionen'
noch unanfechtbarer geworden wären.

Haale (Saale). Loofs.

Broeke, Prof. James ten, Ph.D.: A constructive Basis for

Theology. (IX, 400 S.) 8°. London, Macmillan & Co.
1914. Geb. s. 10 —

Die Anlage diefes reichhaltigen, anregenden und anziehenden
Buches des Kanadifchen Profeffors ift folgende.
In einem erften Teile wird der Urfprung und die Entwicklung
der chriftlichen Theologie gefchildert und gezeigt,
daß fie ihre Wurzel hat einerfeits in der antiken griechi-
fchen Philofophie, andrerfeits in dem originalen religiöfen
Erleben des Urchriftentums, woraus fich der zwiefpältige
Charakter diefer Theologie erklärt. Der Hauptfehler der
griechifchen Philofophie war ihr abftrakter Gottesbegriff
und ihre Verkennung der Perfönlichkeit, die Hauptkraft
des Chriftentums der Gottvaterglaube Jefu. Teil 2 legt
dar, wie in der Neuzeit auf dem Grunde einer neuen
Philofophie eine neue Theologie entftand. Beiden ift ge-
meinfam der fubjektive Ausgangspunkt, die Ablehnung
der Autorität, der Rückgang auf die individuelle Perfönlichkeit
und ihr Erleben fowie das Problem: Wie gelangt
man von hier aus zu einer objektiven Welt- und Gotteserkenntnis
f Kant, Hegel, Schleiermacher, Ritfehl und
manche andere ältere und neuere Philofophen und Theologen
werden vom Verf. herangezogen und mit Verftänd-
nis gewürdigt. Deutfche Philofophie und Theologie
nehmen in diefem englifchen Buche den breiteften Raum
ein. Im dritten Teile wird unterfucht, welche Gedanken
gegenwärtiger Denker als ,konftruktive Bafis' der Theologie
dienen können. Der Standpunkt des Verf.. der
feinem Glauben an einen perfönlichen Gott, an ein Reich
freier Geifter, die jedoch vom göttlichen Alleben jeder
auf feine Weife durchdrungen werden, fowie feiner Jefus-
verehrung fchönen und kräftigen Ausdruck gibt, ift im
Allgemeinen ein vermittelnder. Seine Stärke ift weniger
die kritifche Schärfe als der umfaffende Blick. Wie er
fowohl den Pantheismus als auch den .Pluralismus' zu
feinem Rechte kommen läßt, wie er fowohl den individuellen
als auch den fozialen Faktor im religiöfen Erleben
mit gleichem Verftändnis würdigt, wie er die Religion
weder mit Kant bloß als guten Willen, noch mit Hegel
bloß als Erkenntnis, noch mit Schleiermacher bloß als
Gefühl anfleht, fondern nach Anleitung der modernen
Pfychologie einer unlöslichen, einheitlich organifchenDurch-
dringung diefer drei Lebensgebiete im religiöfen Gemüte
das Wort redet, wie er Theologie und Philofophie einander
möglichft annähert, fo fucht er auch den Idealismus
— etwa eines Hegel — mit dem Pragmatismus — etwa
James' — und obendrein dem Symbolismus eines Höff-
ding zu kombinieren. Die letztgenannte Kombination ift
die wichtigfte, denn da handelt fich's um die grundlegenden
Fragen. Als Amerikaner fühlt fich Ten Broeke be-
fonders ftark zum Pragmatismus hingezogen. Ausfprüche
wie die: ,The truth is always for use', S. 6, .thought has