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Ausgabe:

1916 Nr. 4

Spalte:

83-85

Autor/Hrsg.:

Franz, Albert

Titel/Untertitel:

Der soziale Katholizismus in Deutschland bis zum Tode Kettelers 1916

Rezensent:

Vigener, Fritz

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 4.

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ment gegebene Wirklichkeit des Chriftfeins repräfentiere. 1
K. vertritt einen Voluntarismus, der der Vernunft den
Krieg erklärt. Er bleibt im Paradoxen ftecken, weil er
im Grunde dualiftifch denkt. Gott und das endliche Sub- 1
jekt follen geeint werden, obgleich die Einigung paradox
und Gott transzendent ift, wie die Einigung des Ewigen
mit feiner göttlichen Erfcheinung in der gefchichtlichen
Wirklichkeit paradox, aber doch zu glauben ift. Es ift
doch wohl zu viel gefagt, wenn Reuter meint, ,Ks. per-
fönliche Leiftung fei, daß er die großen Schäden nach- |
weift, die die Hegelfche Philofophie in der Schwächung
und Entftellung des Religiöfen angerichtet hat, daß er
ihr gegenüber, der Religion die abfolute Eigenart und
Souveränität innerhalb der eigenen Sphäre rettet', oder
wenn er eine der Schriften Ks. als ,eines der bedeu-
tendften Werke der Weltliteratur' bezeichnet. Reuter
fagt felbft an anderer Stelle, daß bei K. ,das Objekt ver-
fchwand, weil dem Subjekt in feiner unendlichen Inter-
effiertheit für fein eigenes Selbft alles Objektive gleichgültig
wurde'. Diefe Religion trägt einen durchaus indi-
vidualiftifch endämoniftifchen Charakter, der in einer
geradezu eigenfinnigen Enge zu verkommen droht, in dem
Bemühen um die individuelle Seligkeit. Es dürfte fich
doch fchließlich herausftellen, daß Martenfen nicht
unrecht hat, wenn er den von ihm ,auf die äußerfte Spitze
getriebenen religiös ethifchen Individualismus' in feiner in
,ethifcher Beziehung unheimlichen Individualität' findet,
vermöge deren er zwar viel vom Chriftentum redete, felbft
aber darauf ironifch verzichtete ein Chrift zu fein, da er
den Forderungen des Chriftentums nicht entfprechen
könne, was übrigens, wie er fordert, auch Andere von fich
anerkennen follen. ,Den chriftlichen Afketismus auf eine
fchwindelnde und nebelhafte Höhe hinauffchraubend, auf
donatiftifche Weife das Verfchwundenfein des wahren
Chriftentums betrauernd'. Es ift doch kein Zeichen von
gefundem Empfinden, einen folchen ausländifchen Sonderling
einem Hegel ebenbürtig gegenüberzuftellen, mag er
noch fo viel Richtiges kritifch über Hegel gefagt haben.

Königsberg i. P. Dorner.1

Franz, Dr. Albert: Der foziale Katholizismus in Deutfchland
bis zum Tode Kettelers. (Apologetifche Tagesfragen 15.)
(259 S.) 8°. M. Gladbach, Volksvereins-Verlag 1914.

M. 3 —

Das Buch erhebt, obwohl es in einer volkstümlichen
Sammlung erfchienen ift, wiffenfchaftliche Anfprüche, und
von einer Darftellung, die 250 enggedruckte, mit Anmerkungen
ausgeftattete Seiten umfaßt und durch ein .Quellen-
und Literaturverzeichnis' eingeleitet wird, darf man füglich
die Erfüllung folcher Anfprüche fordern. Leider ift diefe
Erwartung unbegründet. Man fühlt fich um fo mehr
enttäufcht, als der Verf. nicht nur Fleiß, praktifche Einficht
und ein eifervolles, freilich eng begrenztes fachliches
Intereffe zeigt, fondern es auch an Anfätzen zu wiffen-
fchaftlicher Forfchung und Darfteilung nicht ganz fehlen
läßt Aber es bleibt eben bei befcheidenen Anfätzen.
Man merkt der Schrift allzu fehr an, daß fie nicht aus
tiefer greifenden und umfaffenden Studien herausgewachfen
ift. Das zeigt fich fogleich in dem viel zu breiten
(100 Seiten!), unfelbftändigen und nicht einmal immer
gefchickt kompilierten 1. Kapitel ,Vorgefchichte der fo-
zialen Bewegung'. Hier ift zunächft die ,Neubelebung des
deutfchen Katholizismus im 19. Jahrhundert' mit unangebrachter
Umftändlichkeit und mit unerfreulichen Fehlgriffen
im Urteil und felbft groben Verfehen im Bericht
des Tatfächlichen (vgl. S. 21) behandelt. Auch der Verbuch
, die Frage nach dem franzöfifchen Einfluß auf die
Anfänge der katholifch-fozialen Bewegung Deutfchlands

1) Ich muß übrigens bemerken, daß der Überfetzer von K.s .Leben
und Walten der Liebe' nicht ich bin, wie fchon mauchmal angenommen
wurde, fondern mein Vetter A. Dorner in Tuttlingen.

zu beantworten, hätte fich nicht mit dem begnügen dürfen,
was F. unter der verheißungsvollen Überfchrift .Philofo-
phifche Quellen der fozialen Idee im deutfchen Katholizismus
' darbietet; die zwar nicht ganz neue, aber berechtigte
Warnung vor einer Überfchätzung des franzöfifchen Ein-
flußes (S. 31) würde man gern genauer begründet, die
Bedeutung des englifchen Vorbilds lieber gefchildert als
nur feftgeftellt fehen (S. 49, vgl. S. 28). Der nächfte
Paragraph offenbart die unzureichende Sachkenntnis des
Verf.s fchon in der Überfchrift; denn daß ,F. J. v. Büß
dererfte deutfche Sozialpolitiker' — nicht genannt werden
kann, hätte F. leicht feftftellen können, wenn er nur den
von Büß felbft gegebenen Hinweifen nachgegangen wäre.
So aber weiß er nicht einmal etwas von PYanz Baader
zu fagen, deffen Name bezeichnender Weife in dem ganzen
Buche nicht vorkommt außer in einem Zitat aus — Büß
(S. 48). Immerhin bleibt F. wenigftens nicht bei der gewiß
wichtigen, doch auch fattfam bekannten (übrigens ja durchaus
nicht katholifch-fozialen) Kammerrede des Freiburger
Profeffors flehen, fondern zieht auch deffen
Schriften heran; er unterläßt es nicht (S. 50), in verftändiger
Weife auf die engen Schranken des Bußfchen Wefens
hinzuweifen, überfchätzt aber dennoch erheblich die Selb-
ftändigkeit diefes aufnahmefähigen Viehchreibers. Nützlicher
als die vorhergehenden ift der 4. Paragraph: Die
private, genoffenfchaftliche und öffentliche Wohlfahrtspflegebewegung
zur Abwehr des .Pauperismus' in Deutfchland
. Aber auch hier find die Kenntniffe des Verf. mehr
zufällig gewonnen, als planmäßig erworben; von anderem
abgefehen, fo ift die zeitgenöffifche deutfche Literatur
über diefe Dinge viel reicher als der Verl. fich vorftellt.
Die das 1. Kapitel abfchließende Überficht ,Das Jabr 1848
und die foziale Frage' trägt wenig ein; die landläufige
Überfchätzung der Mainzer ,fozialen' Dompredigten Kettelers
ift hier auf die Spitze getrieben (ioSff., vgl. I90ff.),
obwohl der Verf. im Unterfchied von manchen gelehrteren
Vorgängern die Predigten wirklich gelefen hat.

Der Hauptteil des Buches bringt mehr Brauchbares
als die .Vorgefchichte', weift aber leider ähnliche Mängel
auf. Die Anfänge der katholifchen Gefellenvereine find
eingehend und, foweit das Thema im engften Sinne in
Frage fteht, nicht ganz ohne Förderung unferer Kenntnis
dargeftellt; neben einem kleinen Vermerk aus Kolpings
Lehrzeugnis (S. 117) ift die auf mündlicher Überlieferung
beruhende Erzählung (S. 120) über fozialpolitifche Erörterungen
Kettelers und Kolpings in ihrer gemeinfamen
Münchner Studienzeit beachtenswert, muß freilich viel
zurückhaltender benutzt werden als durch F. (i2of. und
befonders 142) gefchieht. Gegen die Urteile des Verf.s
wäre auch hier mancherlei einzuwenden; man follte z. B.
fo derb und fchroff konfeffionell-katholifche Äußerungen
Kolpings, wie fie S. 132 h abgedruckt find, nicht Gedankengänge
eines ausgeprägten (!) chriftlich orientierten'
Sozialreformers nennen. Ähnliches gilt von der erwünfchten
und fleißig gearbeiteten Überficht über die Gründung der
chriftlich-fozialen Bauernvereine auf katholifchem Boden
(S. 147—181). Die ftärkften Bedenken aber habe ich
gegen das 3. Kapitel: .Bifchof W. E. v. Ketteier und die
Grundlegung der chriftlichen Sozialpolitik', das mit einem
faft fchrankenlofen Enthufiasmus und einer, ich möchte
fagen, ehrerbietigen Kritiklofigkeit gefchrieben ift. Dem
Verf. ift Ketteier ein großer ,Sozialphilofoph' (S. 190), ein
.fozialer Denker' (183), als folcher ,ein zweiter Thomas
von Aquin' (182 f.) nicht nur, fondern, was viel mehr fagen
will, der (nicht etwa ein katholifcher, fondern fchlecht-
hin der) .foziale Apoftel des 19. Jahrhunderts'. Wer die
Dinge felbft kennt, wird über ein folches Urteil lächeln,
aber wer die Darlegungen des Verf.s gelefen hat, wird es
begreifen. Denn wenn des Verf.s Vorftellungen über die
Wirkfamkeit und insbefondere über die Schriften Kettelers
— angefangen mit den Dompredigten vom November
und Dezember 1848 — zutreffend wären, fo könnte man
gegen feinen Begriff von dem Sozialpolitiker Ketteier