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Ausgabe:

1916

Spalte:

545-548

Autor/Hrsg.:

Frischeisen-Köhler, Max

Titel/Untertitel:

Wissenschaft und Wirklichkeit 1916

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologilche Literaturzeitung 1916 Nr. 25/26.

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der natürlichen Religion gewefen (für welche Scholz eine
fehr naheliegende Parallele in der Utopia des Morus nachweift
), fondern könnte neben feinem Ehrentitel eines Vaters
des Deismus auch den eines Vaters des Idealismus
tragen. Denn man könnte die Wurzeln der Leibniz-Kan-
tifchen Philofophie bis zu Herberts notitiae communes
zurückverfolgen. Auch bei Herbert find diefe nicht ftets
klar bewußt, fondern werden wach im Zufammentreffen
mit den Objekten. (Zu Scholz' Bemerkung, daß fie fich
dadurch von den ideae innotae des Descartes unterfchie-
den, vgl. aber Descartes Meditationen, Dritte Einwände
No. 10.) So fcheint auch Herberts philofophifcher Unterbau
zum Studium des Deismus von Wichtigkeit.

2. Locke ift kein Deift, feine Reafonableneß ift vielmehr
eine antideiftifche Schrift. Die Vernunftgemäßheit
bedeutet hier eben nicht eine Rationalifierung chriftlicher
Lehren, auch nicht eine gemeinverftändliche Vereinfachung
durch Zurückführung auf gewiffe Grunddogmen.
Sondern in der Hauptfache bringt die Schrift einen bib-
lifch-pofitiven Gedankenaufriß der Lehre Jefu, und die
Vernunftgemäßheit befteht in erfter Linie in der „necef-
fity" beftimmter Glaubensftücke innerhalb des als gültig
vorausgefetzten Glaubensgebäudes. Locke bleibt pofiti-
ver Chrift.

Allerdings fchieben fich rationaliftifche Hilfskonftruk-
tionen an diefen pofitiven Gedankenkern heran (lex na-
turae in der Moral; Problem der außerchriftlichen Menfch-
heit). Aber trotz folcher Erweichungen bleibt der grund-
fätzliche Standpunkt dem Chriftentum gegenüber etwa
in der Linie Berkeleys und des deutfchen Supranatura-
lismus. Wenn man Locke dennoch den Vater des Deismus
nennen kann (Troeltfch, RE IV, 540), fo hat das
zwei Gründe: 1. liegen in der Reafonableneß wie vor
allem im ,Effay' Elemente rein kritifch-auflöfender Art
vor; 2. hat Lockes Schriftftellerei in diefer Richtung gewirkt,
die er nicht wollte.

Diefen Komplizierungen, die einen völligen Mifchcha-
rakter der Religionsphilofophie Lockes ergeben, ift Zfchar-
nack in feiner 'fein abwägenden, klaren Unterfuchung
nachgegangen. Im Verein mit Crous' Arbeit über Locke
bildet diefe Abhandlung eine treffliche Anleitung, Lockes
Stellung fchärfer zu faffen. Gefchichtlich wirkfam ift freilich
der Locke der Efiays geworden, aber die erfte Aufgabe
wird es fein, die Perfönlichkeit felbft zu erfaffen.
Dann läßt fich auch der eigentliche Deismus fchärfer be-
ftimmen als das, was er war: eine natürliche Religion in
Oppofition gegen alles Pofitive des Chriftentums. Locke
dagegen wird von Z. fehr richtig mit den Arminianern
und Latitudinariern in Verbindung gebracht.

Kiel. E. Kohlmeyer.

Frifcheifen-Köhler, Max: Wilfenrchaft und Wirklichkeit

(Wiffenfchaft u. Hypothefe. XV.) (VIII, 478 S.) 8«.
Leipzig, B. G. Teubner 1912. Geb. M. 8 —

Das fehr forgfältig durchgedachte und auf umfangreichen
Kenntniffen beruhende Buch behandelt in Wahrheit
die Grundprobleme des ,kritifchen Idealismus'. Es will
Berechtigung und Grenzen des kritifchen Idealismus, der
den Gegenftand der Erkenntnis in eine Aufgabe verwandelt
*, feftftellen, S. 468. Damit ift es eine Unterfuchung
des Einfatzpunktes und der Hauptprobleme der Philofophie
, gehört alfo in die literarifche Gattung der heute
fo häufigen .Einleitungen in die Philofophie'. Darin liegt
feine allgemeine, über die Fachphilofophie weit hinausgehende
Bedeutung, die ihm auch für den Nicht-Philo-
lophen eine Bedeutung gibt, fofern diefer feine Sonderarbeit
dem allgemeinen Ganzen der Erkenntnis eingliedern
und von ihm aus begrifflich und methodifch fichern will.
Das Buch ift gut gefchrieben, aber bei feinen mannigfachen
Voraussetzungen und Anfpielungen naturgemäß
nicht eben leicht.

Schon der oben zitierte Satz zeigt, daß es fich um

eine Parallele, man möchte faft fagen eine Kritik zu
Rickerts .Gegenftand der Erkenntnis' handelt. Die Vor-
ausfetzung ift die gleiche, der Standpunkt der Immanenz
der Erfahrung im Bewußtfein; auch die Tendenz ift
wefentlich die gleiche, von diefem Standpunkt aus durch
Unterfcheidung des logifch-univerfalen und des pfycho-
logifch-zufälligen Subjektes den gefpenftifchen Schein des
fog. Solipfismus gründlich zu befeitigen und in der uni-
verfalen Geltung des Erzeugniffes der Begriffsbildung die
univerfale Objektivität oder Gegenftändlichkeit der Erkenntnis
aufzuzeigen. Es ift nun aber die Abficht des
Verf., diefen Gedanken der .Gegenftändlichkeit' noch
weiter von dem eines bloß logifch bedingten Erzeugniffes
einer Umformung des unmittelbaren Erfahrungsgehaltes
abzulöfen, als das bei Rickert der Fall ift. Hatte diefer
den Marburgern gegenüber bereits den unendlichen Prozeß
der Erzeugung der beftimmten Erfahrung aus den Denkformen
abgelehnt und feinerfeits die Unmittelbarkeit des
Gegebenen als des Subftrates aller logifch en Umformungen
zum wiffenfchaftlich erfaßbaren Gegenftand betont, fo ift
der Verf. mit diefer Zurückdrängung des logifchen Formalismus
, der aus bloßen P"ormen Inhalte hervorzaubert,
nicht zufrieden, fondern will die ,Gegenftändlichkeit' überhaupt
nicht erft aus der logifchen Formung, fondern
bereits aus dem Erfahrungsgehalt felbft und der diefem
gedanklich zu unterlegenden, nicht bloß geltenden, fondern
auch feienden und nur darum geltenden Realität
gewinnen. Rickerts Lehre hat immerhin eine gewiffe
Ähnlichkeit mit dem Pragmatismus, indem er die logifchen
Konftruktionen als aus beftimmten Zwecken felektiv hervorgehende
Umformungen des unmittelbaren Erfahrungsinhaltes
betrachtet, die mit fchrofffter Einfeitigkeit aus
dem ungefchiedenen und einheitlichen Erfahrungsftoff be-
ftimmte Momente für die Bildung beftimmter Zufammen-
hänge jeweils feligieren; es find nur feine Zwecke nicht
zufällig durch Lebensbedürfnis gefetzt und durch biolo-
gifche Selektion entwickelt, fondern innerlich notwendig in
der Topik der logifch zu fetzenden Zwecke begründet und
ift die Einheit diefer Zwecke nicht das vage Lebensbedürfnis,
fondern der abfolute Vernunftwert der Kultur. Der unmittelbare
Erfahrungsinhalt bleibt derart bei Rickert doch
immer noch mit einem Reft Berkley'fcher Phänomenalität
und die vergegenftändlichende logifche Umformung mit
einem Reft Hume'fcher Zufälligkeit und bloßer Inftru-
mentalität behaftet. Die wirkliche abfolute Vernunftnotwendigkeit
ruht bei Rickert fchließlich doch nur in der
Beziehung von Erfahrung und Erkenntnis auf den ,abfo-
luten Kulturwert', der dem Fichte'fchen Sollen entfpricht,
aber mit dem Erfahrungsinhalt wie mit den diefen zur Gegenftändlichkeit
formenden Kategorien irgend einen inneren
Notwendigkeitszufammenhang nicht befitzt; er gewinnt
den letzteren nur fcheinbar, infofern als auch die Her-
ftellung wiffenfchaftlich geformter Gegenftändlichkeit als
gefüllter .Wert' erfcheint und damit in den Zufammen-
hang einer Philofophie der abfoluten Werte einzugehen
fcheint. Daher nennt der Verf. Rickerts Kritizismus
geradezu .Wertphilofophie', auch in ihren rein theore-
tifchen Bezügen.

Das find in der Tat die Punkte, bei denen jede
Kritik Rickerts ftutzig wird. Die bloße Geltung der
felektiv gebildeten Konftruktionen erfetzt die Objektivität
des Realen nicht. Der Verf. zeigt auch völlig zutreffend
den Punkt auf, wo diefes Bedenken einfetzt: die Objektivität
des Realen bedeutet nicht die bloße Notwendigkeit
der Geltung für das logifche Subjekt, fondern die
gemeinfame und gleichzeitige Gegebenheit für eine Mehrzahl
empirifch-pfychologifcher Subjekte, die überdies eine
ihnen gemeinfame Erfahrungswelt übereinftimmend nach
allgemeinen Begriffen ordnen und ergänzen zu einem
nicht bloß geltenden, fondern feienden Gefammtzu-
fammenhang. Rickert hat das Problem natürlich auch
gefehen, es aber ähnlich wie Avenarius durch Beftreitung
der.Introjektion' zu befeitigen geglaubt, womit bei Rickert