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Ausgabe:

1916

Spalte:

534-536

Autor/Hrsg.:

Schlatter, Adolf

Titel/Untertitel:

Der Märtyrer in den Anfängen der Kirche 1916

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologikhe Literaturzeitung 1916 Nr. 25/26.

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des Evg. geliefert. Zumal wenn fich zeigt, daß diefelben
ftiliftifchen Eigenarten von der Literarkritik bald als Kriterien
der Quellenfcheidung benutzt, bald ruhig in der
,Grundfchriffl oder in den dem Redaktor zufallenden Partien
gelaffen werden, fo ift die Literarkritik ad abfurdum
geführt. Aber kann man nicht einen ähnlichen Weg
gehen, indem man — gleichfalls auf literarifche Scheidung
zunächft verzichtend — die ftiliftifchen Eigenarten einfach
als einen ,Stil' auffaßt, der im Zufammenhang helle-
niftifcher religiöfer Literatur zu verliehen wäre? Der
Verf. lehnt diefen Weg ab und verlangt als erftes die
pfychologifche Interpretation, ohne gelegentliche ftili-
ftifche Einflüffe anderer Literatur leugnen zu wollen,
denen dann doch immer die pfychifche Dispofition des
Evangeliften entgegengekommen fein müffe, fo daß auch
von da aus die pfychologifche Deutung als der erfte
methodifch gewiefene Weg erfcheine.

Seine Aufgabe fchränkt der Verf. infofern ein, als
er nicht die johanneifche Reproduktion' unterfucht, d. h.
die Stücke, in denen der Evangelift einen tradierten
Stoff bearbeitet, durch den er naturgemäß relativ gebunden
ift, fondern nur die ,Produktion', d. h. die Stücke,
in denen er frei geftaltet, wo fich alfb feine Eigenart am
reinften beobachten läßt, alfo wefentlich die Reden.

Das Refultat ift dies: die vielen Wiederholungen von
Sätzen gleich hintereinander oder nach wenigen Worten,
die Wiederkehr typifcher Sätze in gleichen oder ähnlichen
Formulierungen, die Unterbrechungen des Gedankengangs
, das Verweilen bei einzelnen Gedanken, ihre Sicher-
ftellung durch Kontraftgedanken und fingierte Mißver-
ftändniffe, die Vorliebe für die Antithefe, der ganze
fchweiffällige Fluß der Plrörterung ergeben das Bild einer
Pfyche, die den Gedanken ifoliert apperzipiert, fich in
das einzelne verfenkt, fich deffen nicht in logifchen Zu-
fammenhängen, fondern durch abfolute Gegenfätze ver-
fichert, und die deshalb mit ^Stockungen' produziert. —

Trifft diefe Charakteriftik auf das 4. Evg. einigermaßen
zu, fo ift doch die Frage, ob diefe geiftige Eigenart
nur bei einer und derfelben Perfon denkbar ift, ob
fie nicht auch für eine Schule oder eine ganze geiftige
Atmofphäre bezeichnend fein kann. Das ift der Haupteinwand
gegen den Verf., daß er die Forderung der
pfychologifchen Deutung zu früh erhebt und zu einfeitig
durchführt. Es ift mit viel mehr Sorgfalt zu unterfuchen,
wo die Einflüffe einer beftimmten Atmofphäre vorliegen,
fei es einfach der Sprachgebrauch einer beftimmten fo-
zialen Schicht, fei es der Stil einer beftimmten Literatur,
und wo man von individueller Pfyche reden kann. Dann
würde fich zeigen, daß die Frage viel komplizierter liegt,
und daß der Verf. vielfach Erfcheinungen, die auf ganz
verfchiedener Stufe flehen, vermengt.

Gewiffe Eigentümlichkeiten gehen einfach auf vulgären Sprachgebrauch
zurück, wie die Wiederaufnahme des Subjekts (oder auch Objekts)
durch ein Pronomen wie ovvog und Ixelvoq; ein folcher Fall müßte mit
anderen Erfcheinungen im Gebrauch der Pronomina bei Joh. zufammen-
gcftellt werden und weiter mit anderen Symptomen vulgären Sprachgebrauchs
, wozu z. B. die Verwendung der Präpofitionen und die Umfchrei-
buDg mit 'Iva gehören. Endlich ift zu beachten, daß die vielen Wiederholungen
' ein charakteriftifches Kennzeichen vulgärer Redeweife find.
Viel Material dafür fleht in dem Auffatze von Behaget: Zur Technik
der mittelhochdeutfchen Dichtung, Beiträge zur Gefchichte der deut-
fchen Literatur und Sprache, XXX. 1905, S. 431—564. Vgl. auch
W. Vogt, Die Wortwiederholung (Germanin. Abh. hrsg. von Fr. Vogt,
Heft XX) 1902.

^Andere Eigenarten entfprechen der traditionellen Terminologie der
Kreife, aus denen das Evg. flammt, bezw. gehen auf die Formelfprache
helleniftifcher Myftik zurück. Es find Sätze wie die feierlichen Ich-Prädikationen
, wie die Formeln, die das Korrelationsverhältnis zwifchen
Gott und Chriftus oder Chriftus und den Gläubigen etc. befchrcibcn, auch
wohl Ausfagen über das Licht, über das Schauen Gottes u. dergl. Endlich
erhalten auch wohl die johanneifchen Parallelismen und Antithefen,
die Art in abfoluten Gegenfätzen zu fchauen und durch Kontraftierung
die Begriffe zu fixieren, von hier aus ihre Beleuchtung.

Die Unterfuchung des Verf. hat gleichwohl ihren
Wert. Denn der Grundfatz des Verf. befteht zu Recht,
daß die ftiliftifchen Eigentümlichkeiten, mögen fie nun
auf eine Pfyche oder auf eine geiftige Atmofphäre zurückzuführen
fein, nicht bald als Kriterien für die Quellenfcheidung
benutzt werden dürfen, bald ignoriert werden
können. Infofern trifft die Polemik des Verf. mit Recht
eine Methode der Quellenfcheidung, wie fie befonders
von Spitta, aber auch von Wendt, Wellhaufen und Schwartz
geübt ift.

Darf man 8,42b als Zufatz anfehen, wenn man an 12,49f keinen
Anftoß nimmt? Kann man 1,8. 13; 12, 30; 17, 9 ftreichen und diefelbe
ftiliftifche Form 2,24p; 15,14p der Grundfchrift laffen, 8,12. 42 auf
,Grundfchrift' und Bearbeiter verteilen? Kann man von den ,Mißverftänd-
niffen' 2,19 fr.; 7,33 ff.; 12,33 p auf die Rechnung des Bearbeiters fetzen,
dagegen 8,32 h; 13,28 der ,Grundfchrift' laffen? Kann man die Reflexionen
noch über feine Worte in 13,19; 14,29; 16,15 als für die Art des
Bearbeiters charakteriftifch erklären und in 15,11; 16,1. 4. 6. 25. 33
der ,Grundfchrift' laffen? Darf man die Definitiou 17,3 als ftörend be-
feitigen, ohne fich an der 6,39 zu ftoßen?

Freilich dürfen aus folchen Beobachtungen nicht
Konfequenzen gezogen werden für Fälle, die nicht analog
find. Daß z. B. Joh. 7,45 auf 7,31 f. zurückfchlägt und
7,33—44 ein Einfchub fein wird, fleht auf ganz anderer
Stufe, als daß innerhalb von Reden der Gedankengang
nicht glatt läuft und in fpäteren Partien auf frühere zu-
rückverwiefen wird. Die Möglichkeit, daß 12,44—50 eine
fpäter angehängte Homilie ift, wird durch die ftiliftifche
Verwandtfchaft mit anderen, urfprünglichen Partien nicht
widerlegt, fo wenig die Störung des Prologs durch 1,6—8
der Quellenfcheidung dadurch entzogen wird, daß fich
die ftiliftifche Eigenart von 1,8 auch in 8,42 oder 17,9
findet, Auf das Problem, warum 18,1 über Kapp. 15 —17 hinweg
an 14,31 anfchließt, vermag die Methode des Verf.überhaupt
keine Auskunft zu geben. Endlich ift deutlich,
daß man fich bei der Unterfuchung der Aporien nicht
auf die ,Produktion' befchränken kann, fondern fie im
Zufammenhang mit den Schwierigkeiten der anderen Partien
betrachten muß. Die Aporien in der Lazarusge-
fchichte, noch mehr in der Pilatusverhandlung und im
Gang zum Grabe begründen das Recht der Quellenfcheidung
, ganz abgefehen von Kap. 21, das immer den
Ausgangspunkt für die Frage nach der Bearbeitung des
4. Evg. bilden wird, dem gegenüber es nichts fagen will,
das fich 21,14 e'ne ähnliche Bemerkung findet wie 2,11;
4,54-

Breslau. Bultmann.

Schlatter, Prof. D. A.: Der Märtyrer in den Anfängen der
Kirche. (Beiträge zur Förderg. chriftl. Theol. XIX. Jahrg.
1915, 3. Heft.) (86S.) 8°. Gütersloh, C.Bertelsmann 1915.

M. 2 —

Uber den Urfprung und die Entwicklung des fiÜQrvg-
Begriffes find in den letzten Jahren lebhafte Kontrover-
fen geführt worden, in deren Kette die vorliegende Studie
Schlatters weder zeitlich noch fachlich das Schlußglied
bedeutet, wenn fie auch die Frage nach mancher
Seite zu fördern geeignet ift (vgl. jetzt H. Strathmanns
vorfichtig abwägenden Bericht über den Gang der Kon-
troverfe im Theol. Literaturb 1. 1916 Nr. 18 und 19). Es
ift Kattenbufchs Verdienft, erftmals auf das in diefem
Begriffe liegende Problem aufmerkfam gemacht und eine
Löfung vorgefchlagen zu haben. (Ztfchr. f. neuteft. Wiff.
1902, in ff.) Was aber er nur zaghaft anzudeuten wagte,
hat K. Holl herzhaft aufgegriffen und in einer, wie
Strathmann mit Recht rühmt, durch Weite des Horizontes
, umfaffende Stoffbeherrfchung und Klarheit des Urteils
gleich hervorragenden, durch ihre Großzügigkeit und
Ideenfülle an eine förmliche Monographie hinanreichende
Abhandlung durchgeführt. (Die Vorftellung vom Märtyrer
und die Märtyrerakte in ihrer gefchichtl. •Entwicklung.
Neue Jahrbb. f. d. klaff. Altert. 1914 I. Abt. XXXIII. Bd. S.
521—556). ImUnterfchiedvonGeffcken, derdenfianrvq-
Begriff nur aus der helleniftifchen Philofophie herleitet (Hermes
1910,481 ff.), erblickt Holl im Märtyrer den Nachfolger
und Ausläufer der Propheten und erklärt feinen Namen
daraus, daß auch er als Zeuge der Auferftehung Chrifti