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Ausgabe:

1916 Nr. 24

Spalte:

524-525

Autor/Hrsg.:

Herold, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Unsere Kirchenkonzerte und die gottesdienstlichen Aufgaben der Kirchenchöre 1916

Rezensent:

Smend, Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 24.

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vielmehr ift, wie Hegel richtig gefehen hat, jede Idee in
ihrem Auftreten notwendig; nur muß das nicht nach feiner
Weife deduktiv, fondern induktiv-pfychologifch gezeigt
werden (741 f.).

Indes ift doch B.s Gegenfatz zu Rankes Gefchichtsfor-
fchung und zu Rickerts logifcher Herausarbeitung der
Gefchichtsprinzipien nicht fo groß als es Rheinen könnte.
Denn es find die großen Willenskomplexe der Gefell-
fchaft, die ihm den erften Gegenftand der Gefchichte ausmachen
(516); die Lehre ,vom Wefen und von der Entwicklung
des fozialen Willens' ift demgemäß das Thema
der Soziologie (133): der Wille aber wird nicht durch
Verhältniffe, fondern durch Ideen bewegt und, da der
Vorrat an folchen im Laufe der Gefchichte wächft, fo
wird der Menfch im Laufe der Entwicklung dem Naturgegebenen
gegenüber immer felbftändiger (703.706.710 f.).
Durch diefe Erkenntnis ift der Naturalismus in der Soziologie
in der Tat prinzipiell überwunden (vgl. 112.). Im
Unterfchiede von der Tiergefellfchaft ift die menfchliche
durch Wachstum der Vorftellungen und des Selbftbe-
wußtfeins (128 f.) als geiftiger Willensorganismus charak-
terifiert (107—110). Damit wird dann freilich die Kau-
falität eine andere als in der Natur (106 f.); desgleichen
die Begriffsbildung (65), fofern naturwiffenfchaftliche Begriffe
nur analogifche Geltung gewinnen können (292 ff.).
Aber auch die Gefetze, die entdeckt werden follen, find
nur empirifch aufweisbare Gleichförmigkeiten (78), eine
gleiche Abfolge gleicher oder wenigftens gleichbedeutender
Zuftände bei verfchiedenen Völkern (91). Es fragt fich nur,
was diefe ,Gefetze', deren Feftftellbarkeit ich nicht beftreite,
wert find. Wenn es wahr ift, daß nicht Technik, Kultur-
fortfchritt, Zuwachs an Gütern die ,Seele des fozialen
Lebens' bilden (578. 580. 626 f.), wenn der Wille, ,neben
anderem vor allem der Idee' gehorcht (435), fo wird doch
,die ftete Beziehung der Ideen auf den Willen' zur ent-
l'cheidenden Bedingung für den Aufbau der Gefchichts-
philofophie (vgl. 751). Dann aber verlegt fich das Schwergewicht
notwendig aus den Einförmigkeiten der Natur-
beftimmtheit in die unerfchöpflich reiche Fülle der Willens-
beftimmungen der großen Männer, deren qualitative Hö-
herleiftung auch B. anerkennt (510 ff.), zumal an der fort-
fchreitenden Steigerung und Verbreitung der perfönlichen
Autonomie kein Zweifel befteht (786 ff.). Mir ift nicht
zweifelhaft, daß die Loslöfung des Einzelnen aus dem
gefchichtlich-fozialen Lebenszufammenhang, in dem er
wurzelt, ein fchwerer methodifcher Fehler wäre, aber
nicht minder verfehlt wäre es, im Streben nach dem
Aufweis abftrakter Gleichförmigkeiten den Reichtum der
gefchichtlichen Wirklichkeit zu verkürzen. Die ftarke
Spannung zwifchen dem herkömmlichen Betrieb der Soziologie
und der Gefchichtsforfchung fcheint mir daher
von B. noch nicht voll ausgeglichen zu fein. — Auf die
zerftreuten Äußerungen zur Religionsgefchichte einzugehen
vermeide ich, da fie auf felbftändige Forfchung offen-
ftchtlich keinen Anfpruch machen können. Doch folien
diefe und andre Ausftellungen den aufrichtigen Dank für
das Dargebotene nicht fchmälern.

Göttingen. Titius.

Mandel, Prof. D. Hermann: Chriftliche Verlöhnungslehre.

Eine fyftematifch-hiftor. Studie. (VI, 272 S.) gr. 8°.
Leipzig, A. Deichert 1916. M. 6 —

Mandel unterbricht die Ausarbeitung feines großen
Werkes ,Die Erkenntnis des Überfinnlichen', von dem bis
jetzt 3 Bände vorliegen (vgl. Th. L.-Z. 1914, Sp. 662 ff.),
um zunächft einen Hauptpunkt der fpeziellen Dogmatik
darzuftellen: die Verföhnungslehre. Diefelbe Eigenart und
Kraft fyftematifcher Darfteilung, die jenes Werk bewiefen
hat, zeigt auch das vorliegende Buch. M. verbindet mit
der fyftematifchen Ausführung feiner Lehre die hiftorifche
Darfteilung aller bisher aufgetretenen Typen der Verföhnungslehre
, die aber nicht in hiftorifcher Reihenfolge,

fondern in fachlicher Gruppierung dargeboten werden.
M. verfteht es gut, in knapper Darfteilung den fpringen-
den Punkt herauszuheben und Nebenfächliches bei Seite
zu laffen. Mich wundert nur, daß er auf die Theorien
der letzten 60 Jahre nicht eingeht. Weder Ritfchls Verföhnungslehre
, noch die von Häring, Kahler, Kirn,
Schlatter findet in der Regiftratur M.s einen Platz. Seine
Darftellung führt nur bis zu Schleiermacher, v. Hofmann,
Menken, Beck, Sendling. Ich vermute, daß M.s Meinung
ift: alle möglichen Typen der Verföhnungslehre

I feien von ihm dargeftellt; die neueren Theologen hätten
keinen wefentlich neuen Gefichtspunkt mehr beigebracht.

M. fcheidet feine eigene Anfchauung fcharf von der
Anfehnifchen Genugtuungslehre und von der altorthodoxen
Theorie des ftellvertretenden Strafleidens. Er
knüpft vielmehr an die altkirchliche Erlöfungslehre und
an Luther an (ein gründliches Studium Luthers liegt zu
Grunde), ferner an die Philofophie von Sendling. M. faßt
wie Ritfehl (anders wie Kähler) die Verhöhnung in eng-
ftem Zufammenhang mit der Erlöfung, nicht als Verhöhnung
Gottes, fondern als Heilsoffenbarung Gottes in
der Perfon Jefu auf, durch welche die Macht der Sünde
gebrochen und die wahre Gemeinfchaft des Menfchen
mit Gott hergeftellt wird. Die Vorausfetzung der Verhöhnung
ift, daß ein wirkliches Gericht Gottes über die
Sünde in der Gegenwart erfahren (nicht erft wie bei
Anfelm und in der proteft. Orthodoxie in der Zukunft
erwartet) wird. Dies Gericht befteht in dem Mangel an
Gottesgemeinfchaft, in fittlicher Ohnmacht und Knecht-
fchaft (die oft von Selbftgerechtigkeit begleitet ift), zuweilen
in Verzweiflung (in der alten Chriftenheit in dem
Glauben, daß dämonifche Kräfte über der Menfchheit
walten). Die Verhöhnung des Menfchen mit Gott befteht
in der Erlöfung aus diefem Verderben, in dem Gottes

| Zorn (oder mit Luther zu reden: das opus alienum Dei)

I zur gegenwärtigen Erfahrung kommt.

In diefem ganzen Aufbau der Verföhnungslehre

j kann ich M. völlig zuftimmen. Nur die Spitze feiner
Darftellung vermag ich mir nicht anzueignen. M. führt
nämlich aus: Das Gericht über die fündige Menfchheit
wird dadurch aufgehoben oder ,entmächtigt', daß Jefus
in die Erfcheinungsform des Gerichts über die fündige
Menfchheit einging. Durch dies Eingehen in die Lage
der gerichteten Menfchheit fei die Geltung des Gerichts
über alles, was Menfch heißt, anerkannt.

In diefen Worten kann ich nur ein inkonfequentes
Hinneigen M.s zu der fonft von ihm mit guten Gründen
abgelehnten Theorie einer ftellvertretenden Beftrafung
Jefu fehen. Denn die Notwendigkeit und Berechtigung
des Gerichts wird nach M.s treffenden Ausführungen in
den Erfahrungstatfachen des inneren Lebens nachge-
wiefen; es braucht alfo nicht erft durch das Straf leiden
Jefu begründet zu werden. Auch fagt M. felbft, daß
Jefus nicht unter dem Fluche Gottes ftand. Das, was
für andere Menfchen ein Gericht war, war für ihn ein
Mittel feiner Bewährung. Dann aber kommt M.s Theorie
doch im Grunde auf den Gedanken hinaus, daß das ftell-
vertretende ethifche Mit-Leiden Jefu mit der Sünde der
Menfchen und fein geduldiges Tragen der Folgen der
Sünde der andern für uns das ftärkfte Motiv zur Reue und
Buße ift. Durch diefe, wie mir fcheint, leife Korrektur
an M.s Verföhnungslehre wird ihre Durchfchlagskraft
ftärker.

M.s Buch ift ein Führer durch das oft verworrene
Dickicht von Verföhnungslehren, der fich durch Einfachheit
und Schlichtheit vor andern auszeichnet.

Bafel. Johannes Wendland.

Herold, Pfr. Wilh.: Unfere Kirchenkonzerte und die gottes-
dienftlichen Aufgaben der Kirchenchöre. Erweiterter
Sonderabdruck aus der „Siona". (60 S.) gr. 8°.
Gütersloh, C. Bertelsmann 1916. M. 1.20