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Ausgabe:

1916 Nr. 24

Spalte:

522-523

Autor/Hrsg.:

Barth, Paul

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. I. Teil: Grundlegung und kritische Übersicht. 2., durchges. u. sehr erweit. Aufl 1916

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 24.

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tete, der modus latinitatis des Klofter-Neuburgifchen KanoDikus Ulrich
Eberhard, ein fpäter vielgedrucktes Buch? Die dunkleu Worte befagen:
der Schulmeifter foll das Buch den Kindern folauge vorlefen, als es
währen möchte, d. h. brauchbar fei. Denn das Papier war vergänglich.
Das eine dat ift wohl Dittographie. Es wäre fehr zu wünfchen, daß wir
mehr Blicke ins mittelalterliche kirchliche Leben tun könnten.

Stuttgart. G. Boffert.

Schultheß-Rechberg, Prof. D. Guftav v.: Die ziircheri-
fche Theologenfchule im 19. Jahrhundert. (Feftgabe der
Theologifchen Fakultät der Univ. Zürich zur Einweihungsfeier
1914.) (149 S.) gr. 8°. Zürich Schultheß &
Co. 1914. M. 2 —

Das Buch ift ein Beftandteil] der Feftfchrift der Uni-
verfität Zürich zur Einweihung ihres neuen Gebäudes 1914.
Es gibt ein Bild der Gefamtentwicklung der theologifchen
Fakultät mit wenig Strichen und sodann eine Reihe von
Skizzen über ihre fämtlichen einzelnen Lehrer, 35 Gelehrte.
Das erfte zeigt die Fakultät unter ganz überwiegend deut-
fchem Einfluß, während bis dahin der der Niederlande vor-
geherrfcht habe und feit Ende des Jahrhunderts eine Ab-
fchwenkung zu politifch- fozialethifch gefärbter Theologie
eingetreten fei. Der Einfluß der deutfchen Theologie
habe auf der mächtigen Entfaltung diefer unter dem Antrieb
des deutfchen Idealismus beruht. Das bedeutet zugleich
, daß die Züricher Fakultät eine Hochburg der kri-
fifch-1ortfchrittlichen Theologie gewefen ift und nur vereinzelt
das Gegengewicht eines altgläubigen Biblizismus
aufwies. Das Befte, was die Schleiermacherfche und He-
gelfche Schule in der Theologie geleiftet hat, ift neben
Tübingen in Zürich gefchaffen und vertreten worden.
Alexander Schweizer, Biedermann und der Deutfche Volck-
mar waren hier weithin leuchtende und wirkfame Wahrzeichen
. Das hing natürlich mit der großftädtifch- demokra-
tifchen Entwicklung Zürichs zufammen, die fleh in der
Berufung einer höchft fortfchrittlichen theologifchen Fakultät
geiftes- und kirchenpolitifch fpiegelte, während das
konfervativeBafelauch einekonfervativere theologifcheFakul-
tät hatte. Zürich hat ja bekanntlich auch D. F. Strauß berufen,
und die Auseinanderfetzung mit Strauß ift dauernd das gei-
ftige Richtziel der Züricher gewefen. Damit ftand die
Fakultät an der Spitze der theologifchen Reformer in
der Schweiz, auch hierin von Bafel fehr unterfchieden,
und von den Pofitiven heftig bekämpft. Die Kleinheit der
Züricher Fakultät, die ftets etwa nur die Hälfte von Bafel
betrug, führt fleh auf die Zahl der von hier aus zu
verforgenden Pfarreien zurück und auf den geringeren Zuzug
zur Theologie aus der demokratifchen Großftadt, die
dafür medizinifche und naturwiffenfehaftliche Anlagen
viel ftärker entwickelt hat als Bafel. Heute fucht die fo-
zialiftifch-enthufiaftifche Theologie eines neuen Wieder-
täufertums mit ftarker Annäherung an die franzöfifche
Theologie die Kluft zwifchen Reformern und Pofitiven zu
befeitigen und auf einer neuen Platform die Theologen
zu einigen, was übrigens doch nur von der etwas aufgeregten
Züricher Syftematik gefchieht. Diefes Gefamt-
bild ift nicht unintereflant, und überdies gewährt dann
an zweiter Stelle das Vorüberziehen der zahlreichen theologifchen
Gedankengebilde, wie fie der nunmehr ent-
fchlafene Verfaffer fein, geiftreich und liebevoll zeichnet,
einen tiefen Eindruck von dem Kampfe des Jahrhunderts
um die Gewinnung eines neuen Verhältniffes zur chriftlichen
Ideen- und Lebenswelt, was ja auch von allen hier ge-
fchilderten Pofitiven gilt. Auf weiteres kann hier nicht
eingegangen werden; ich kann nur hervorheben, daß die
Skizzen uberall die Hand des reifen und feinen •Syftema-
tikers erkennen laffen, der mit wenig Worten viele Gedankenhintergründe
andeutet und Ergebniffe verwickelten
Nachdenkens darbietet. Er war der Beften und Innerlich-
ften einer, der freilich in diefen Kämpfen und Gegenfätzen
nicht die Kraft und Sicherheit zur Produktion fand.

Berlin. Troeltfch,

Barth, Prof. Dr. Paul: Die Philofophie der Gefchichte als
Soziologie. I. TL: Grundlegung u. krit. Überficht
2. durchgefeh. u. fehr erweit. Aufl. (XII, 821.) gr. 8°.
Leipzig O. R. Reisland 1915. M. 14—; geb. M. 15.30

Der weitaus größte Teil der umfaffenden Unter-
fuchung (S. 146—809) ift dem kritifchen Referat über
die foziologifchen Syfteme (intellektualiftifche, biologifche,
voluntariftifche) und über die Gefchichtsauffaffungen (indi-
vidualiftifche und kollektiviftifche, anthropogeographifche
ethnologifche, kulturgefchichtliche, politifche, ökonomifche,
ideologifche) gewidmet. Das Lob, das diefer Überficht
fchon bei Befprechung der erften Auflage (ThlZ 1898.
Sp. 398—401) gezollt wurde, verdient die zweite, an Umfang
etwa verdoppelte, in noch höherem Maße. Es gibt
kein Werk, aus dem man fleh über die Leiftungen der
foziologifchen Literatur, aber auch der gefchichtsphilofo-
phifchen gleich umfaffend orientieren könnte. Vermißt
habe ich allerdings, daß B. die moralftatiftifche Literatur, die
wertvollere Beiträge als manche der befprochenen Schriften
für die Gefellfchaftskunde beibringt, nirgends würdigt.
Eine noch empfindlichere Lücke liegt darin, daß Schleiermachers
.Ethik', die als ,Wiffenfchaft der Gefchichtsprinzi-
pien', was fie fein will, eine Aufweifung aller integrierenden
Beftandteile der Kulturgefellfchaft darbietet, alfo recht
eigentlich auf dem Wege zu dem liegt, was B. anftrebt,
und ebenfo die durch dies Werk hervorgerufene Literatur
mit Stillfchweigen übergangen ift. Vermutlich ift daran
nichts anderes Schuld als der Titel. Denn mit der ,Ethik'
fleh auseinanderzufetzen hat B. faft ängftlich vermieden,
obwohl die volle Klärung des Verhältniffes der Soziologie
zu ihr, fobald prinzipielle Klarheit gefchaffen werden foll,
ein dringendes Bedürfnis ift. Recht unzuverläffig und
lückenhaft ift leider das Sachregifter, und das ift um fo
bedauerlicher, als man dringend wünfchen muß, die immer
wieder auftauchenden Ausführungen über Ehe, Familie,
Eigentum, Sitte, Recht, Staat ufw. bequem mit einander
vergleichen zu können.

Die Skizze feiner eigenen Auffaffung vom Gefchichts-
verlauf die fehr mißverftändlich war und auch ,vielfach
falfch gedeutet wurde', hat B. mit Recht fortgelaffen, zumal
er jetzt feinen eigenen Aufriß ,in etwa 3 Jahren' hofft
liefern zu können. Dagegen ift die .Einleitung' der erften
Auflage zu einer .Grundlegung', einer erkenntnistheoreti-
fchen Rechtfertigung feiner Auffaffung von Gegenftand,
Methodeund Aufgabe der.Gefchichtsphilofophie oder Soziologie
' umgearbeitet. Nehmen wir die wichtigen Ergänzungen
hinzu, die feine ausführliche Kritik der Literatur
darbietet, fo kann über die Grundzüge feiner Gefamtan-
fchauung ein Zweifel nicht wohl beftehn. Eine Gleichfet-
zung von Soziologie und Philofophie der Gefchichte ift
möglich nur unter zwei Vorausfetzungen; zunächft mühen
beide inhaltlich zufammenfallen, haftet der Soziologie
von ihren Urfprüngen her meift die Befchränkung auf
die Naturformen der Gefellfchaft an, ift die Gefchichts-
forfchung auf das Werden der Kultur befchränkt, fo
ift die Aufgabe eine Soziologie der Naturepochen wie
der Kulturepochen der Gefellfchaft (319). Die indi-
vidualiftifche Anficht von der Gefchichte ift unhaltbar;
der Einzelne als folcher ift überhaupt .nicht Gegenftand
der Gefchichte, fondern der Naturgefchichte' (507).
Die Gefchichte ift, wie Fustel de Coulanges erklärt
hat, ,die Wiffenfchaft der menfehlichen Gefellfchaften'.
Zufammenfallen miiffen Soziologie undGefchichtphilofophie
aber auch in der Form. Es gibt nur eine Methode, die
naturwiffenfehaftliche! (38. 58). Auch die Gefchichsfor-
fchung darf nicht nur, wie üblich, als künftlerifche Aufgabe
(37, 59), fondern fie muß zugleich als Gefetzeswif-
fenfehaft (V, 485 f.) betrieben werden. Mit der von Kant
inaugurierten Zwiefpältigkeit kaufaler und teleologifcher
(d. i. Freiheits-) Betrachtung muß aufgeräumt werden.
Das Hineinwirken ideeller Momente in die gefchichtliche
Entwicklung kann nicht dagegen geltend gemacht werden,