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Ausgabe:

1916 Nr. 23

Spalte:

495-497

Autor/Hrsg.:

Dunkmann, Karl

Titel/Untertitel:

Die Nachwirkungen der theologischen Prinzipienlehre Schleiermachers 1916

Rezensent:

Scholz, Heinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 23.

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.modernen gefchichtlichen Weltanfchauung' ift H.s An-
fchauung nur mit größter Vorficht zufammenzuftellen;
denn von vornherein (vgl. S. 77) fehlt es feinem Biblizis-
mus an kritifcher Befonnenheit, ohne die fie undenkbar
ift; auch erkennt W. felbft, daß H.s Staatsauffaffung
(und gleiches gilt notwendig von allen immanenten
Kulturwerten) von Anfang an an einer innern Spannung
zwifchen ,reformatorifchen' und ,apokalyptifchen' Ein-
flüffen leidet (S. 361). Entfcheidend ift alfo doch für
H. der biblifche .Realismus', moderne Anfchauungen
aber kommen nur infoweit in Betracht, als fie diefem
fich einfügen laffen.

Unter diefer Grundvorausfetzung fteht Hofmanns
methodifche Reform der Theologie, deren leitende Gedanken
von Wapler fchärfer als bisher erfaßt find. Nicht
Subjektivift will er fein, fondern die ,auch in mir zur
Selbftgewißheit gewordene objektive gefchichtliche
Lebenswirklichkeit' als Dogmatiker ausfagen (217).
Grundprinzip ift alfo im Gegenfatz zum abftrakten
Supranaturalismus die Synthefe von Glaube und Ge-
fchichte, die Einficht, wie es W. gut ausdrückt, ,daß die
objektiven gefchichtlichen Größen ihre wahre Wirklichkeit
erft haben, wo fie im ureigenften Erleben des Subjekts
frei wirkende fchöpferifche Kräfte wirken' (21, vgl.
155, 158, 198). In dem lebendig gegenwärtigen Chriftus ift
aber für Hofmann zugleich das Grundprinzip des Luthertums
gegeben; denn dies befteht in der ,einen Grundlehre
von der Gerechtigkeit und dem neuen Leben durch
Chriftus', aufgenommen im lebendigen Glauben (126).
Von allem Luthertum, das im Bekenntnis nur ein ,luthe-
rifches Landrecht' geltend machen will (116), rückt er
fehr energifch ab und beurteilt es als .pharifäifche Lehr-
gefetzlichkeit', ,lutherifcb.es Judentum' (198). Die Kon-
kordienformel, der ,Buchftabe des heiligen Chemnitz'
(114) gilt ihm nur als deuterokanonifch (123), und er findet
darin die verhängnisvolle Ausgeftaltung des Bekennt-
nifies zum Lehrfatz, ftatt zu neuem kirchlichen Leben
(129 f.). Auch wird er im Streit um die Verföhnungslehre
dazu fortgetrieben, das ,Bekenntnis' nicht nur von der
Theologie der fpäteren Dogmatiker, fondern auch von
der in ihm felbft enthaltenen Theologie und von der der
Reformatoren zu unterfcheiden (254!.). Auch an den
alten Symbolen tadelt er gelegentlich, daß ihre Faffung
,zu vorhergehend logifch und zu wenig hiftorifch' fei (169).
Dagegen fordert er, daß unfere .begrifflich abgetötete
Theologie' in der heiligen Gefchichte lebendig werde (197).
Heilige Gefchichte ift aber nach feiner von Sendling übernommenen
Trinitätslehre (die ihm fogar den Vorwurf des
Pantheismus eintrug) im Grunde alle Gefchichte, fofern
es in ihr zu einer ,dynamifch innerlichen Gegenwart'
Gottes im Weltenlauf kommt (68; vgl. 70 f.). Das find
wichtige Sätze, die in der Tat eine fachgemäße Fortentwicklung
der von Schleiermacher intendierten metho-
difchen Umgefialtung der Theologie bedeuteten und die
daher weit über den Kreis der H.fchen Schule hinaus,
namentlich zu Ritfehl und den von ihm ausgegangenen
Theologen hin fortgewirkt haben.

Göttingen. Titius.

Dunkmann, Prof. D. Karl: Die Nachwirkungen der theolo-
gifchen Prinzipienlehre Schleiermachers. (Beiträge zur
Förderung chriftl. Theol. 19. Jahrg., 1915, 2. Heft.)
(200 S.) 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann. M. 4 —

Unter den theologifchen Prinzipien Schleiermachers,
deren Nachwirkung Dunkmann hier unterfucht, find
Schleiermachers Ideen über die konftruktive und induktive
Aufgabe einer erfchöpfenden Interpretation des
Chriftentums zu verftehen. Die induktiven Prinzipien
find in den bekannten Definitionen der Methode und
Aufgabe der Dogmatik zufammengefaßt; die konftruk-
tiven Prinzipien find in den neuerdings viel diskutierten

Anforderungen an die religions- und geifteswiffenfehaft-
liche Ableitung des Chriftentums zu erblicken. Über
das Verhältnis diefer beiden Gefichtspunkte zueinander
ift in den letzten Jahren viel Falfches gefagt worden;
Dunkmann fcheint mir das Richtige zu treffen, wenn er
in der Kombination diefer beiden Motive die eigentümliche
Größe der Schleiermacherfchen Leiftung erblickt
und den angeblichen Widerfpruch zwifchen einer im
Chriftentum verankerten Dogmatik und einer auf die
Phänomene der geiftigen Welt und die Mannigfaltigkeit
des religiöfen Bewußtfeins bezogenen Religionsphilofophie
durch die einfache, aber durchfchlagende Unterfcheidung
zwifchen einer efoterifchen und einer exoterifchen Betrachtung
des Chriftentums löft. Die Dogmatik hat es
mit dem efoterifchen Aufbau, die Religionsphilofophie
mit der exoterifchen Grundlegung des Chriftentums zu
tun; jene hat durch Induktion den Gehalt des lebendigen
Chriftentums zu erfaffen, diefe hat durch Konftruktion
die eigentümliche Stelle des Chriftentums im Gefüge der
geiftigen Welt und religiöfen Ideenbildung zu beftimmen.
Die dogmatifche Methode ift ifolierend, die religions-
philofophifche Methode ift kombinierend; die Dogmatik
hat zu zeigen, was das Chriftentum für fich ift, die Religionsphilofophie
hat darzulegen, was das Chriftentum
im Zufammenhang der fyftematifchen Kultur und religiöfen
Lebensformen bedeutet.

Die Nachwirkungen diefer tieffinnigen Prinzipienlehre
find überrafchend gering gewefen. Schon die Tatfache,
daß die hier im Anfchluß an Dunkmann vorgetragene
Deutung von der heute überwiegenden merklich abweicht
und auf ftärkften Widerfpruch gefaßt fein muß, gibt zu
denken. Der gefchichtliche Befund beftätigt die Erkenntnis
, daß die Theologie des 19. Jahrhunderts im ganzen
und großen der Schleiermacherfchen Prinzipienlehre entweder
ratlos oder ablehnend oder befangen gegenüber
geftanden hat. Die Ratlofigkeit tritt am auffälligften in
der Kritik der Zeitgenoffen hervor, die wohl heute noch
als der ftärkfte indirekte Beweis für die völlige Originalität
des Schleiermacherfchen Anfatzes bezeichnet werden
darf. Scharf ablehnend hat fich von Anfang an die
Hegelfche Gruppe gegen die Heranziehung des induktiven
Prinzips verhalten, wenn auch die feinen Analyfen
von Strauß und Baur noch heute mit Nutzen zu lefen
find. Dunkmann hat der zeitgenöffifchen Kritik faft die
Hälfte feiner ganzen Unterfuchung eingeräumt. Es darf
fraglich erfcheinen, ob eine fo umftändliche Behandlung
nach Mulerts Bemühungen noch nötig war.

Befangenheit gegenüber den Schleiermacherfchen
Prinzipien beherrfcht die Theologen der folgenden Generation
, fo weit fie durch Schleiermacher pofitiv beeinflußt
find. Dunkmann würdigt in diefem Zufammenhangc
Tweften, Nitzfeh, Rothe, Schweizer und Hofmann. Die
Befangenheit diefer Männer erklärt fich zumeift aus ihrer
engen Fühlung mit den kirchlichen Mächten; hierdurch
ift ihr Sinn für die übrigen Güter des geiftigen Lebens
fo eingefchränkt worden, daß die aus der lebendigen
Empfindung des Allgeiftes entfpringenden konftruk-
tiven Probleme Schleiermachers kaum in ihren Gefichts-
kreis eintreten. Die Folge davon ift jene Verkirch-
lichung der Schleiermacherfchen Methode gewefen, die
heute wohl ziemlich allgemein als eine grundftürzende
Beeinträchtigung feines Erbes empfunden wird. Wenn
man fich auf den ganzen Schleiermacher berief, fo meinte
man den halben; und bezog man fich auf den halben, fo
meinte man ihn gar nicht.

Klar ablehnend fteht Ritfehl mit feiner Schule der
Schleiermacherfchen Prinzipienlehre gegenüber, fo weit
es fich um die Konftruktion des Chriftentums handelt.
Die Wiederanknüpfung an Schleiermacher, die auch nach
Dunkmanns Urteil in diefem Kreife ftattgefunden hat,
befchränkt fich auf die Diskuffion des Begriffs der Religion
, während die in Schleiermachers konftruktivem
! Programm enthaltenen philofophifchen Gefichtspunkte