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Ausgabe:

1916 Nr. 23

Spalte:

485-487

Autor/Hrsg.:

Buber, Martin (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Der Jude. Eine Monatsschrift. 1. Jahrg 1916

Rezensent:

Strack, Hermann L.

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4«5

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 23.

486

(N. 5—11a find fekundär). 2,1—20. 3,33—38 (die Baulifte
gehörte nicht zum urfprünglichen chroniftifchen
Esra-Nehemia). 4, 2b.; 4. 10.12b—17. c. 5. c. 6. 7, 1. 3.
12, 30 f. 37—40. 7, 4 f. (die Lifte 7, 6—72 ift dem Esra-
buch entnommen, denn der Interpolator hat auch die
Verfe Esra 2, 68—70 aufgenommen, die urfprünglich 1,11
fortfetzten). 13,10—14. 4?. 7b—9. 15—31. Darnach fucht
er in fehr breiter Darftellung die literäre Art der Denk-
fchrift zu beftimmen. Er verwirft die üblichen Benennungen
Memoiren oder Autobiographie, kritifiert die
Meinung H. Schmidts, daß die Memoirenliteratur der
Juden fich aus den Ich-ftücken der Prophetenfchriften
entwickelt habe, und findet fchließlich das Vorbild
der Aufzeichnungen in den alten orientalifchen Königs-
infchriften mit ihren Aufzeichnungen der großen Taten
des Herrfchers. Ich vermag diefer Zufammenftellung
nicht die Bedeutung beizulegen, die fie für den Verfaffer
hat, denn die Ähnlichkeiten, die er m. E. etwas übertreibt,
erklären fich einfach durch den verwandten Inhalt, während
der erzählende Stil der Denkfchrift in Wirklichkeit von
dem Stile jener Infchriften recht verfchieden ift. Auch
ift es mir pfychologifch wenig wahrfcheinlieh, daß ein
Mann von der Art Nehemias jene felbftvergötternden Infchriften
hätte nachahmen wollen. Und jedenfalls ift die
von M. als Möglichkeit berührte Vermutung abzuweifen,
daß die Denkfchrift urfprünglich auf eine fteinerne oder
kupferne Tafel aufgezeichnet gewefen fei, um im Tempel
aufgeftellt zu werden. Nach den Eindrücken, die ich von
der Schrift empfange, würde das Wort ,Apologie' einen
wefentiiehen Teil ihrer Tendenz am beften bezeichnen.

Im letzten Kapitel gibt der Verf. erft eine Überficht
über die Erlebniffe der jüdifchen Gemeinde nach dem
Exil und dann die Gefchichte des Nehemia auf Grundlage
diefer Rekonftruktion des Textes. Aus der Überficht
hebe ich hervor, daß er, wie fchon H. Winckler,
nach Jofephus den Briefwechfel Esra 4, 6—23 in die Zeit
des Kambyfes verlegt, als Schefchbaffar noch Fürft von
Judäa war; Zerubabel fei dagegen erft unter Darius nach
Jerufalem zurückgekehrt. Neh. c. 8 hat mit der Einführung
des (fchon um 500 abgefchloffenen) Gefetzes nichts
zu tun, fondern bezieht fich auf eine fchon damals aufgekommene
Sitte, an den Fefttagen Stücke aus dem
Pentateuch vorzulefen — nach meiner Meinung eine unhaltbare
Auffaffung des betreffenden Stückes. Bei der
Darfteilung der Gefchichte Nehemias macht natürlich
die radikale Umwertung der vorliegenden Quellen den
bisherigen zahlreichen Ümftellungs- und Kombinations-
verfuchen ein jähes Ende. Das von Mehreren angenommene
Zufammenwirken von Esra und Nehemia ift unrichtig
(Esra fei in Wirklichkeit erft nach Nehemia aufgetreten);
aber M. verwirft auch auf Grundlage feiner Textrekon-
ftruktion die Rückkehr Nehemias nach Perfien und feine
zweite Reife nach Jerufalem. Seine Denkfchrift hat er
verfaßt, als er zwölf Jahre hindurch ohne Unterbrechung
Statthalter in Judäa gewefen war, nach den richtigeren
chronologifchen Angaben des Jofephus: von 440 bis 428.
Auch diefe Ausführungen find fehr beachtenswert und
haben vielfach etwas beftechendes, wenn auch natürlich
Streichungen wie die von Neh. 13, 6. 7 a Bedenken erregen
müffen. In einem Anhang behandelt M. die Stiftung
der Gemeinde in Samaria und unterfcheidet in der
Alexander-Jadduaepifode des Jofephus eine fpätere Alexanderlegende
und eine Erzählung von der Gründung des
famantanifchen Tempels, die urfprünglich unter Darius II
fpielte.

Kopenhagen. pr Buhl.

Der Jude. Eine Monatsfchrift. Hrsg.: Dr. Martin Buber.
Verantwortlich: Dr. Max Mayer, f. Öfterreich-Ungarn:
Dr. M. Präger. 1. Jahrg. April 1916—März 1917-
12 Hefte, gr. 8°. Wien, R. Löwit. Viertelj. M. 2.50;

Einzelheft M. 1 —

Die Juden der Gegenwart find ein Volk. Diefer Satz
ift namentlich von deutfehen Juden oft und nachdrücklich
beftritten worden, fo von Moritz Lazarus (,Die Juden
haben keine eigene Nationalität mehr'), Ludwig Geiger.
Der Große Krieg aber hat fchon jetzt feine Richtigkeit
beftätigt, und er beftätigt fie für den aufmerkfamen Beobachter
täglich mehr. Die meiften Juden find einerfeits
treue Bürger des Staates, in dem fie wohnen: Juden
Englands, Frankreichs, Italiens., flehen im Kampf
gegen Juden Deutfchlands und Öfterreich-Ungarns; ja
fogar im ruffifchen Heere befinden fich Taufende von
Juden, die nicht bloß gezwungen für Rußland im Felde
find. Und dennoch eignet wohl faft allen Juden, auch
folchen, die im äußeren Leben vollftändig den ,Wirts-
völkern' fich angeglichen haben, gerade in der Gegenwart
das Gefühl der Zufammengehörigkeit und wird be-
ftändig ftärker. Das Verlangen als Volk fich auszuleben
zeigt fich häufiger und lebhafter.

Dies Verlangen zu klären und zu kräftigen ift eine
neue Zeitfchrift ,Der Jude' beftimmt, von der die erften
fieben Hefte vorliegen: fie ift vornehm ausgeftattet und
bringt zahlreiche beachtenswerte Beiträge, von denen
nicht wenige fich über den Durchfchnitt andrer Monats-
fchriften erheben. Geplant war fie fchon im Jahre 1903;
jetzt erfcheint fie mitten im Gewühl des Großen Krieges
und macht den Eindruck wirklicher Lebensfähigkeit.

In fünf Auffätzen behandelt Arno Nadel die jüdifchen
Volkslieder religiöfen Charakters. Faft das ganze
6. Heft ift Afcher Ginzberg gewidmet, der im September
1916 fein 60. Lebensjahr vollendet hat. Unter dem
Schriftftellernamen ,Achad ha-am' (Einer aus dem Volke)
hat er eine weit und tief reichende Wirkfamkeit ausgeübt
und übt fie noch aus. Er gilt als einer der erften
hebräifchen Stiliften der Gegenwart, und er ift der Hauptvertreter
oder fogar Schöpfer des ,geiftigen Zionismus'.
Wie kann, fo fragt G., bei der Verfchiedenartigkeit der
Einflüffe, die auf das Judentum in den verfchiedenen
Ländern feines Wohnens einwirken, die Zerfplitterung,
die fortfehreitende Auflöfung der jüdifchen Volkseinheit
in zufammenhangslofe Sondergruppen überwunden werden
? Er will die geftörte Einheit retten, um dadurch
den Fortbeftand und eine normale Entwicklung des jüdifchen
Volkes für die fernere Zukunft zu ermöglichen.
Dazu ift Konzentration erforderlich. Sammlung aller oder
doch der meiften Juden in Paläftina gehört zum Inhalt
des Endideals, der meffianifchen Hoffnung für ,das Ende
der Tage'. Wohl aber muß Paläftina wieder in den Mittelpunkt
des jüdifchen Lebens und Erlebens gerückt werden
, zur Haupt- und Zentral-ftätte der jüdifchen Eigenkultur
ausgebaut werden, um fo den auch weiterhin getrennten
Teilen des jüdifchen Volkes als Nachahmungszentrum
und geiftiges Zentrum fich erweifen zu können.
Erforderlich ift der Glaube, daß einzig in der hifto-
rifchen Heimat des jüdifchen Volkes deffen Wiedergeburt
zu erhoffen fleht.

Paläftina und die örtlichen Juden find die beiden
Fragen und Sorgen, die in den meiften Auffätzen be-
fprochen werden oder zugrunde liegen. — Faft ganz mit
den Anflehten, die ich feit der Befetzung Kongreßpolens
durch die Deutfehen und die Öfterreicher vertreten habe,
übereinftimmend, äußert fich der in Warfchau lebende
Schriftfteller Hillel Zeitlin (Mitarbeiter an der jüdifchen
Zeitung ,Der Moment') S. 89 ff: Auf alle Fälle würden
,noch fehr viele Juden in Polen bleiben. Für diefe ift es
fehr wichtig, daß ihre Minderheitsrechte in diesem Lande,
in dem fie, befonders in den Städten, immerhin eine
große Maffe ausmachen, verteidigt werden . . . Der Anti-
femitismus in Polen ift viel ftärker, organifierter, tiefer
und mächtiger als irgendwo anders. Zu der allgemeinen
Verteidigung der jüdifchen Minderheit gehört auch die
der jüdifchen Sprache. Man muß anerkennen, daß die
Unterrichtsfprache in den meiften jüdifchen Schulen
Polens (außer denen, die wirklich das Verlangen und die