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Ausgabe:

1916 Nr. 22

Spalte:

469-471

Autor/Hrsg.:

Rickert, Heinrich

Titel/Untertitel:

Wilhelm Windelband 1916

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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469 Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 22. 470

W. einerfeits von der Hegelfchen Idee des Werdens,
also der hiftorifchen Begriffsbildung, ausgeht, aber als
Schüler Lotzes zugleich deffen Richtung auf das Blei-

fetzung der einzelnen Miffionsftationen, die Tätigkeit der
ledigen und der verheirateten Brüder fowie der Miffionars-

frauen, die Arbeit der Eingeborenen, Miffionshandel und , ^------- —............^u,.s

Miffionshandvverk, Sprachkenntniffe, Literatur und Dol- j bende und Subftanzielle teilt, die fchon bei Lotze wefent-
metfcher, Raffenfragen und Nationalität, Verkehr mit den lieh auf naturwiffenfehaftlich bedingte Begriffsbildungen

hinausging. Beide Tendenzen lernte W. vereinigen auf
dem Boden des zur .Wertphilofophie' umgebildeten Kritizismus
. Darnach befteht die letzte Gegenftändlichkeit

Europäern und den Eingeborenen, fprachliche und finanzielle
Schwierigkeiten, lluchführung und Beiträge, Vielweiberei
und Unterricht, Beratung durch die Miffions-
leitung und infpizierende Brüder, Eintracht und Reibungen für die Philofophie in geltenden Werten, die nicht find,
unter «den Miffionaren, Prinzipientreue und Zweckmäßig- aber univerfal gelten, in Begriffen, die aus der Erfahrung
keitshandeln, Waffentragen und Eidesleiftung, Erfolge heraus zu bilden find und die diefe in die Region einer
und Hinderniffe, Stelluno- zur weltlichen Behörde und zur ] wiffenfehaftlichen Gegenftändlichkeit erheben, die aber
Kolonialregierung, perfönliche und amtliche Einwirkung, j nun nicht das endlich enthüllte metaphyfifche Reale,
Sammlung von öGemeinden und Ausbildung und Ver- fondern die geltenden Normen der Ordnung und Bewer-
wendung eingeborener Helfer. Faft alle diefe Probleme ! tung der Erfahrung bedeuten: Geltung vom Subjekt her,
treten in der urfprünglichften und unmittelbarften Form | aber univerfale und logifche Notwendigkeiten, die fich in
auf. Im Mittelpunkt des Intereffes fleht der tüchtige, j den Kulturwerten des Wahren, Guten, Schönen und Heigelehrte
, tapfere und befonnene Theophil Schumann, ligen zufammenfchliefJen. R. hebt hervor, daß das bei
bei dem man die Zinzendorffche Dogmatik in verkürzter W. freilich alles im Stadium des Programms und der
und den Eingeborenen verftändlicher Form findet und ! Andeutung flecken geblieben fei. R. ift fich bewußt,

durch die füßliche und gekünftelte Ausdrucksweife der
Herrnhuter Sichtungszeit hindurch einen vortrefflichen
Menfchen und gottbegnadeten Miffionar kennen lernt.
Mit Spannung und Freude folgt man Schritt für Schritt
den yielverfprechenden Erfolgen feiner Wirkfamkeit und
der Überwindung der von den Behörden bereiteten Hinderniffe
und wird dann um fo tiefer ergriffen von dem
fo rafchen Niedergang feines Werkes, wobei neben feiner
längeren Abwefenheit und feinem frühen Tode mancherlei
Unerwartetes mitgewirkt hat: eine verheerende Seuche,
Mißwachs, Hungersnot, Überfchwemmungen, Überfall und
Zerftörung_ und zuletzt 1763 der große Negeraufftand

feinerfeits eine gefchloffenere, einheitlichere und durchgebildetere
Syftematik zu haben, und deutet die i hn
unterfcheidenden Punkte an, die jeder Lefer von W.s letztem
Werke, der ,Einleitung', ja kennt oder wenigftens
fühlt: die Bedenken Windelbands, das theoretifche oder
feinswiffenfehaftliche ,Gelten' ganz in einen Wert zu verwandeln
, und damit die Neigung zu einem nicht bloß
Geltung, fondern Sein ausdrückenden Naturbegriff und
die damit ganz naturgemäß verbundene Neigung, die Verbindung
von Naturbegriffen und Wertbegriffen in einer
Metaphyfik zu fuchen, die keine eigentliche Wiffenfchaft
ift, fondern, wie die .Einleitung' an ihrem Schluffe fagt,

Wie viele Kräfte und Menfchenleben find in jenen Jahr- an die .Abgründe des religiöfen Denkens' führt. Außer

zehnten eingefetzt und geopfert worden, zuerft unter den
größten Ausfichten, fchließlich ohne jeden dauernden Er-
folgl Nur dürftige Refte und geringe neue Anfänge find
1765 übrig, aber fchon taucht die Miffion unter der Negerbevölkerung
als die Aufgabe der Zukunft auf. Sehr
dankenswert find auch die beigegebenen Pläne, Bilder,
chronologifchen Überfichten, Biographien, ftatiftifchen
Tabellen und fonftigen Beilagen: Berichte von Miffionaren

dem rügt Rickert - - und hier jedenfalls mit Recht —
eine gewiffe Unbeftimmtheit des Kaufalitätsbegriffes,
deffen naturaliftifche Haltung die Windelbandfche Ge-
fchichtsauffaffung erfchwere. W. hat, wie ich auf Grund
langer Gefpräche mit ihm hinzufügen kann, diefe Schwierigkeiten
wohl gekannt, aber durch Antaftung des Kantifchen
Kaufalitätsbegriffes die ganzen rationalen Vorausfetzungen
des Syftems ins Wanken zu bringen gefürchtet. Er fah

und eingeborenen Helfern, Briefe von getauften Indianern, j an diefem Punkte die Hauptprobleme der Zukunft, und
eine Unterredung Schumanns mit einem Indianerhäupt- ( man fühlt in feiner Einleitung die Zurückhaltung an die-

ling, ein Empfehlungsfchreiben an den Erbftatthalter der
Niederlande und die Darfteilung des Negeraufftandes in
Berbice 1763.

Frankfurt a. M. W. Bornemann.

fem fchwierigften Punkte. R. erklärt fich diefe Unausgeglichenheiten
dadurch, daß W. von feinem hiftorifchen
Studium her zu fehr an überlieferten Denkformen unter
dem Eindruck ihrer fäcularen Bedeutung haften geblieben
fei und bei feiner Anfchauung von der Unab-

Rickert, Prof. Heinrich: Wilhelm Windelband. (IV, 44 s) £? h^eßb^rkeit hiftorifcher Wandelungen zu der dem reinen
gr.80. Tübingen, J.C. B.Mohr 19.5- kl-1 1 nie habe entfchließen

Heinrich Rickert ift heute der alleinige Führer der
füdweftdeutfehen Schule, jener Schule die neben der
Marburger Schule Cohens und der phänomenologifchen
Schule Hufferls, dem naturwiffenfchaftlichen Realismus

Riehls und dem gefchichtstheoretifchen Realismus Dil-
theys den Kritizismus zu feinen heutigen Formen geführt
hat, die allerdings fämtlich von der alten Lehre des hiftorifchen
Kant weit genug abliegen, aber alle deffen ko-
pernikanifche Wendung, die ihm eigene Verbindung von
Rationalismus und Empirismus, irgendwie fortfetzen.
Rickert hat, wie es fich von felbft verfleht, dem Begründer
der Schule, deffen Name immer mit dem feinigen
zufammen genannt zu werden pflegt, nach feinem
Heimgang das erfte Denkmal gefetzt, und das in dem
Stile geiltvoller Präzifion und fyftematifcher Umficht getan
, die man an ihm kennt und bewundert. Perfönliche
Freunde des Heimgegangenen mögen freilich finden, daß
es mehr die Achtung als die Liebe ift, die diefes Denkmal
errichtet hat. Für die wiffenfchaftliche Würdigung
Windelbands ift aber in der Tat das erftere wichtiger
als das zweite. Diefe Würdigung befteht zunächft in
einer Konftruktion feines Entwicklungsganges, wonach

können. Damit find die Unterfchiede allerdings fehr
treffend bezeichnet, die bei der üblichen Zufammenftellung
der beiden Namen meift unterfchätzt werden. W. gleicht
mehr der hiftorifchen Rechtsfchule, R. mehr dem Naturrecht
. Der erfte empfindet mehr das Rationale, der zweite
mehr das Hiftorifche als problematifch, wobei jeder der
beiden gerade an dem ihm fchwierig erfcheinenden
Punkte energifch arbeitet.

Ich darf diefem Denkmal von der Hand eines bedeutenden
Philofophen vielleicht noch ein paar Sätze
darüber einfehreiben, was W. den Theologen gewefen ift.
Er hat vor ihrem Gegenftande immer tiefften Refpekt,
aber zu ihm kein eigentlich inneres Verhältnis gehabt.
Er fürchtete die Vulkane, die hier verborgen liegen,
und wußte, daß die Maffe der Theologie Afche und erkaltete
, künftlich bearbeitete Lava ift. Trotzdem aber
hat feine Theorie der Gegenftändlichkeit doch auch eine
ernfthafte Bedeutung für den Relig msphilofophen, und
diefe Bedeutung hat er in feiner fchönen, für den Ver-
faffer höchft charakteriftifchen Studie über ,das Heilige'
felbft formuliert. Die Gegenftändlichkeit oder Objektivität
des Gottesbegriffes kann für die Wiffenfchaft darnach
nur vom Subjekt her in Geftalt eines geltenden und im