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Ausgabe:

1916 Nr. 2

Spalte:

450-451

Autor/Hrsg.:

Thümmel, W.

Titel/Untertitel:

Volksreligion oder Weltreligion? Landeskirche oder Bekenntniskirche? 1916

Rezensent:

Schian, Martin

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449

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 20/21.

450

ihrer Gefchichte. Heft 24.) (VIII, 109 S.) 8°. Leipzig,
Quelle & Meyer 1914. M. 3.65

Die Arbeit ift eine philofophifche Doktordiffertation.
Sie gibt in der Hauptmaffe eine Darfteilung meiner
Theorie in der von mir felbft gegebenen Gliederung.
Diefe Darfteilung ift überaus forgfältig, verftändnisvoll
und fyftematifch fehr gut durchgedacht. Die Syftematik
des behandelten Autors ift hier wirklich nachempfunden
und nachgedacht. Auch die Fortbildung meiner Theorie
von wefentlich hiftorifch-pfychologifcher Analyfe mit
rafchem Übergang in metaphyfifche Interpretation zu einer
viel komplizierteren Anlage ift wohl beobachtet. Ich habe
in der Tat den Übergang von der pfychologifchen Analyfe
zur Anerkennung eines Realitätsgehaltes bald fchwieriger
empfunden als zu Anfang und auch die gefchichtsphilo-
fophifche Deutung der Entwickelung im Laufe der Zeit
für ein komplizierteres Problem halten gelernt. Die derart
auffteigenden Schwierigkeiten habe ich unter Fefthaltung
meines wefentlich hiftorifch-pfychologifchen Ausgangspunktes
durch Hereinnahme der Begriffe des modernen
Kritizismus (nicht der eigentlichen Kantifchen Lehre) zu
überwinden gefucht, da ja auch diefer vom Subjekt ausgehend
aus Erlebniswirklichkeiten heraus zu giltigen Er-
kenntniffen ftrebt. Dabei habe ich ftets betont, daß
diefer Kritizismus gewiffe metaphyfifche Annahmen in
fich fchließt, die aus feiner Anwendung fchließlich herausgeholt
werden müffen und erft den Ablchluß geben.
Infofern ift meine .Entwickelung' ganz konfequent, wie
auch der Verfaffer anerkennt, und nicht fertig, was ich
meinerfeits hervorheben möchte. An diefe Darftellung
fchließt fich die Kritik an. Der Verf. bezeichnet fie als
lediglich immanent d. h. als keine eigene Pofition zugrunde
legend und nur meine Aufftellungen an jedem Punkte
auf ihre Möglichkeit und Widerfpruchslofigkeit prüfend.
Soweit fein eigener Standpunkt erkennbar ift, dürfte
diefer eine idealiftifche Metaphyfik fein, die als wiffen-
fchaftlich begründet zum Maßftab für alle religiöfen
Bildungen dienen kann und von diefem Maßftab aus nur
fehr bedingt ein Verhältnis zum Chriftentum gewinnen
kann. Doch ift das nur angedeutet. In Wahrheit handelt
es fich zumeift um Einzelkritik von Fall zu Fall, wobei
die kritifchen Gegenfchriften namentlich meiner theolo-
gifchen Gegner ihm vielfach Eindruck gemacht zu haben
fcheinen. Es ift bei diefen die gewöhnlichfte Gegenargumentation
, daß ich, vom Pfychologifch-Hiftorifch-
Seienden ausgehend zu keiner wiffenfchaftlichen Objektivität
gelangen könne, da als Vorausfetzung zu jedem
Verftändnis der „Religion" immer fchon die mitgebrachte
Religion dienen müffe, diefe alfo als Norm und zuvor gegebener
Orientierungspunkt anerkannt oder überhaupt auf
jeden wiffenfchaftlichen F>trag verzichtet werden müffe.
So wird jedesmal die etwas grob und billig konfluierte
Zwickmühle zwifchen einem zum voraus zu bejahenden
Offenbarungsglauben oder einer abfoluten Skepfis aufgemacht
. Es ift nicht nötig zu fagen, daß der Verf. feiner-
feits die zweite der Alternativen bejaht, wie das bei
wirklicher Unvermeidlichkeit einer folchen Zwickmühle
die meiften heutigen Denker tun werden. Er entgeht
ihr feinerfeits durch jene angedeutete wiffenfchaftliche
Metaphyfik, die als allgemeiner Vernunftgehalt der Religion
folchen Bedrängniffen nicht ausgefetzt zu fein
fcheint, dafür freilich auch der Fdrlebniswirklichkeit der
Religion fehr viel ferner fteht. So nimmt feine Kritik mich
meift in diefe Zange und entfcheidet, daß meine Ergeb-
niffe in pfychologilcher und erkenntnistheoretifcher Analyfe
nicht aus diefer erwachten, fondern vielmehr aus pofi-
tivem Kirchenglauben oder philofophifcher Metaphyfik
fchon mitgebracht feien. Über meine Gefchichtsphilofophie
urteilt er zurückhaltend, er kann nur mein Haltmachen
beim Chriftentum nicht billigen und meint, mein Chriftentum
fei eigentlich fehr unbeftimmt. Am meiften Zu-
ftimmung äußert er zu meiner Metaphyfik des Gottesbegriffes
, über die ich bisher am wenigften zu fagen
gewagt habe. Dazwifchen find eine Reihe fehr lehrreicher
Einzelbeobachtungen und Kritiken eingeflochten, auf die
I ich leider hier in der Kürze nicht eingehen kann. Das
1 Schlußwort findet fehr freundliche Worte über die fyn-
thetifche Kraft meiner Arbeit und meint, die Fehler
feien folche der Univerfalität. Das glaube ich nun nicht.
Das, was er vor allem als Fehler bezeichnet, liegt vielmehr
in meiner grundfätzlichen Stellung des Problems.
Schlechthin allgemeingiltige und .objektive' Refultate erreicht
man in diefen Dingen nur entweder durch die Kon-
ftruktion einer fupranaturalen Offenbarung, wodurch die
Lehre einer beftimmten Kirchengemeinfchaft natürlich aus
jeder Konkurrenz herausgehoben ift, oder durch die Kon-
ftruktion einer Vernunftreligion, die aus Vernunftgründen
für die ganze Menfchheit gilt oder gelten follte und mit
den konkreten Religionen eben darum nichts oder wenig
zu tun hat; oder es bleibt natürlich die grundfätzliche
1 Skepfis, die jede pofitive Theorie als Selbfttäufchung ab-
[ tut und keine irgendwie geartete Mitverantwortlichkeit
1 für Erhaltung und Fortentwickelung unferes religiöfen
Befitzes und Lebens im Abendlande empfindet. Warum
die beiden erften Wege ungangbar find, habe ich oft
genug getagt. Der Dritte erfcheint mir als geiftiger
Selbftmord. Dann bleibt nichts übrig als aus dem Konkret
-Vorhandenen heraus zu arbeiten, zu fragen, wie weit
fich von einer erweiterten und verbreiterten Kenntnis
der Religionswelt aus die Grundzüge der unfern behaupten
laffen oder nicht, und wie fich diefe Grundzüge
' bei uns heute im Hinblick auf eine theoretifch und praktilch
fehr verwandelte moderne Welt geftalten müffen. Es ift
nicht die Frage nach einer abfoluten logifch notwendigen
Wahrheit, fondern die Frage nach der Behauptungsmöglichkeit
des Grundftockes der abendländifchen Religion
j und nach der Möglichkeit, aus diefem Grundftock und
1 feiner FOrtwirkung Antworten auf die gegenwärtige Lage
' zu finden. Wäre unfer Grundftock nicht zu behaupten,
fo ftünden wir eben vor der geiftigen Auflöfung, der
die übrige folgen würde. Denn aus unferer Skepfis und
Kritik entfteht überhaupt keine pofitive Kraft. Es ift
mit anderen Worten die Frage nach der Fortbildungsfähigkeit
der europäifchen Religion, bei der man dann
natüriich ihre Hauptorganifationen, die Kirchen, nicht
ganz außer Acht laffen darf. Diefes Streben vom Pofitiv-
Tatfächlichen aus zu einem Anfchluß desfelben an eine
innere Vernunft der menfchlichen Entwickelung oder
beffer einen göttlichen Lebensgrund diefer und eben damit
die bloße Fortbildung überlieferter Lebensfubftanz
in der Richtung auf möglichfte Einfügung in einen allgemeinen
Zufammenhang und in unfer heutiges theoreti-
- fches und praktifches Lebensbild: das ift das Wefentliche
an meiner Grundeinftellung. Eben deshalb ift diefe fo
leicht in die Zwickmühle der Forderung fertig gläubiger
Kirchenvorausfetzung oder unbegrenzter relativi-
ftifcher Skepfis zu nehmen. Das weiß ich längft felber;
aber die Triumphe jener Zwickmühle find rein äußerlich
und dialektifch, da fie im Grunde nur zugunften der
Skepfis wirken und dann allenfalls den durch fie Geäng-
fteten wieder der pofitiven Autorität des dogmatifchen
Vorurteils zutreiben. Eine wirklich bejahende Forderung
und Fortentwickelung unferer religiöfen Lebensfubftanz
, die in fchwerfter Gefahr der Auflöfung fteht,
wird damit nicht gewonnen. Auf diefe aber ift jedenfalls
meine Abficht durchaus gerichtet, und ich würde
diefe Abficht für richtig und notwendig halten, auch
wenn ich meinen Gegnern mehr theoretifch Recht geben
müßte, als ich es notwendig zu haben glaube. Meine
Theorie mag Fehler haben; die Abficht ift richtig.

Berlin. Troeltfch.

Thiimmel, Prof. D. W.: Volksreligion oder Weltreligion?
Landeskirche oder Bekenntniskirche? Rede, gehalten