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Ausgabe:

1916 Nr. 1

Spalte:

15-17

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Theodor

Titel/Untertitel:

Unterricht im Christentum 1916

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Seite 1, Seite 2

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15 Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 1. 16

tet, und fo geht ihre Betrachtung unter in der des modernen
Geiftes überhaupt, wird aber allerdings auch diefer wieder
einfeitig von der Seite feines pfychologifchen und gefchichts

gewißheit wurzelt in einer gefchichtlichen Erfcheinung,
die fich denen, die perfönlich ihre Wirkungen erleben,
als gottgefchenkte Realität erweift; diefe gefchichtliche

philofophifchen Selbftverftändniffes aus angefaßt. Der er- i Tatfache heißt Jefus Chriftus, deffen göttliche Wahrheit
leuchtende Hauptwert der Abhandlungen liegt daher in der ! zwar nicht theoretifch beweisbar, wohl aber praktifch er-
Darftellung des Werdens des modernen Geiftes. Renaiffance ' lebbar ift. Die in Chriftus dem Glauben üch erfchließende
und Reformation bilden die Ausgangspunkte, das große j Weltanfchauung ,darf in Anfpruch nehmen, völliger als
mathematifch-mechanifch-philofophifche Jahrhundert des | irgend eine andere, die Gefamterfahrung der Menfchen in

Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibniz die Fortfetzung,
wobei freilich die beiden letzteren nicht mehr behandelt
werden, die Aufklärung oder das natürliche Syftem den
Kernpunkt, die Entftehung des modernen entwickelungs-
gefchichtlichen Pantheismus von Giordano Bruno bis
Herder, Goethe, Schleiermacher, Hegel den Zielpunkt,
wobei wiederum in diefem Bande lediglich Bruno und
Goethe näher beleuchtet find. Einige Fragmente über
die Bedeutung des Chriftentums als Vorausfetzung und
Gegenftück diefer modernen Entwickelung bilden den
Schluß. Gewiß ift eine folche Kontraftierung das eigentlich
entfcheidende Mittel für das Verftändnis des modernen
Geiftes. Allein, obwohl D. felbft in feinen Anfängen
Theologe war, fo ift doch das Kontraftbild der chriftlichen
Periode nicht nur fehr fkizzenhaft, fondern auch fachlich

Natur und Gefchichte zu verarbeiten und die einzige zu
fein, die auch mit den dunkeln Rätfein des Dafeins, mit
Sünde und Tod, wirklich fertig wird. Die chriftliche
Weltanfchauung aber ift nicht nur die, die fich am völligften
mit der Gefamtwirklichkeit deckt und auch der Unvernunft
mächtig wird; fie ift auch die, welche das Tieffte
im Menfchen befriedigt und das Belle im Menfchen zur
Reife bringt' (90).

Das ift der Pulsschlag im Chriftentum, daß es Religion
ift, und zwar die abfolute Religion. Was wir an
Wahrheitserkenntniffen in andern Religionen finden, verliehen
wir als zerftreute Momente deffen, das befchloffen
ift in dem, der die Wahrheit ift. Die Selbftenthüllung
Gottes, die fich auch in der Offenbarungsgefchichte vollzog
, hat fich zu einer Selbftdarftellung Gottes in dem

vielfach bedenklich und undeutlich. Die betreffenden j geftaltet, das aus jener Offenbarungsgefchichte als Frucht
Stücke find daher auch von ihm felbft nicht veröffentlicht erwuchs, in Wort und Sakrament. Von diefen handelt
worden. i der Verf. zunächft(9Ö—105), um dann zu den zwei Grund-

Trotz den bezeichneten Schwankungen der Thema- faktoren der Religion, den fich bedingenden Größen, Offen-
ftellung und trotz der Unvollendetheit fall jeder Abhand- barung und Glauben (105—112), überzugehen. Diefe
lung bieten diefe Arbeiten einen Reichtum an hiftorifchen j Offenbarung muß zu einer Gottesoffenbarung für die
Erkenntniffen der Geiftesgefchichte, an neu erfchloffenen j einzelne Menfchenfeele werden, diefe wieder muß fich die

Tatfachen und geiftvollen Beurteilungen, daß diefer Band
zum Wertvollften gehört, was die neuere Geiftes- und
Kulturgefchichte hervorgebracht hat. Es entlieht nicht
bloß ein vielfach neues und bei der Rückficht auf die
verfchiedenartigen Bedingtheiten — der übliche rein ideo-
logifche Charakter ift gründlich verlaffen — äußerft lebendiges
Bild von dem Werden der modernen Philofophie,

Gottesoffenbarung aneignen: das fo fich vollziehende Entliehen
und Werden der perfönlichen chriftlichen Religion
ift die Bekehrung (112—122). Wo die chriftliche Religion
in einer Menfchenfeele geboren ift, lebt Gott in der
Seele und die Seele in Gott (123—131)- Ift die chriftliche
Religion etwas höchft Perfönliches, fo ift fie doch
nicht etwas Ifoliertes. Wie der Chrift Chrift geworden

fondern geradezu ein Bild des modernen Geiftes über- | ift nur im Schoß der Gemeinfchaft der Chriften, der
haupt. Man kann die Abhandlungen lefen und wieder j Gemeinde, fo lebt er als Chrift auch nicht fchlechthin für
lefen, man entdeckt immer etwas Neues und Anregendes. I fich. Ein Kapitel über die Kirche Gottes (131 —138)

Wiffen und Geift ift hier ganz ungewöhnlich vereinigt.
Eine Einzelkritik ift an diefem Ort nicht möglich. Es ift
auch viel wichtiger, den Charakter des Ganzen hervorzuheben
. Wieviel ich felber diefem erlefenen Geifte verbildet
den Schluß des dem Chriftentum als Religion gewidmeten
Abfchnittes.

In dem letzten, das Chriftentum als Sittlichkeit
(139—191) darftellenden Teil, geht K. auf die wefent-

danke, werde ich demnächft darzuftellen haben. Im Augen- 1 fichften Probleme der Individual- und der Sozialethik ein.
blicke möchte ich diefe Anzeige nur dazu benützen zu j Er handelt von der fittlichen Perfönlichkeit (144—159),
fagen, daß ich meine Aufgabe hier in Berlin wefenlich als ; Von den fittlichen Gemeinfchaften (159—185), endlich von
Fortfetzung von Dilthey's Arbeit betrachte, wie das auch J der Menfchheit als fittlicher Größe (185—191). Aus der
fein eigener, mir feiner Zeit ausgefprochener Wunfeh ge- j Fülle der hier allerdings nicht erfchöpfend erörterten,
wefen ift. aber prinzipiell beleuchteten Punkte mögen angeführt

Berlin. Troeltfch.

Kaftan, Wirkl. Geh. Oberkonfift.-Rat Gen.-Superint D.
Theodor: Unterricht im Chriftentum. Intereffierten u.
gebildeten Laien aller Stände dargeboten. (III, 191 S.)
gr. 8°. Schleswig, J. Bergas 1914. M. 3 —

In diefem-Buch will Kaftan ,das Chriftentum nicht ! man eingedenk bleiben, daß Zweck und Beftimmung der

werden: die Alkoholnot, das Gefchlechtsleben, das Duell,
die Ehe, der Krieg, die politifch und wirtfehaftliche Ordnung
der Volksgemeinfchaft (S. 175: ,das Chriftentum als
folches verwirft nicht die fozialiftifche Gefellfchaftsordnung
als folche'), der Beruf, die Kultur, Wiffenfchaft, Technik
und Kunft.

Soll nach der gegebenen Inhaltsüberficht der Charakter
des K.fchen Buchs näher bezeichnet werden, fo muß

eigentlich verteidigen, fondern vertreten, und zwar in der Schrift ihre Eigentümlichkeit bedingen. Der Mangel an
Weife, daß er aufzeigt, wie das Chriftentum von feinem Ur- dogmatifcher Schärfe und die religiös-fittliche Haltung
quell her in einem Menfchen unferer Zeit in alter Kraft fich i des Ganzen erklären fich aus dem Beftreben, den gebildeten
geftaltet'. Als ,große gefegnete Lebenserfcheinung' will i Laien, eventuell auch der heranwachfenden Jugend unferer
das Chriftentum dreifaltig fein, — eine Beurteilung, die | höheren Schulen zu dienen. Eine apologetifche Tendenz
die dreiHauptteile derK'fchenSchrift bedingt: das Chriften- j ift dem Unternehmen Kaftans infofern beizulegen, als er
tum als Weltanfchauung (10—90), als Religion (91—138), ! es auf eine Selbftverantwortung des Chriftentums abge-
als Sittlichkeit (139—191). fehen hat, und zwar für folche, die in der letzten Frage

Jede Weltanfchauung ift fubjektiv bedingt'. Das des Dafeins zu innerer Klarheit und Gewißheit kommen
gilt vom Materialismus, vom Idealismus, vom Parallelis- wollen. .Apologetik ift recht eigentlich da zur Klärung

mus, vom Pantheismus, deren Unzulänglichkeit K. in licht
voller Auseinanderfetzung dartut; das gilt auch von der
chriftlichen Weltanfchauung. Diefelbe entfaltet fich von
der chriftlichen Gottesgewißheit aus. Die chriftliche Gottes-

und Vergewifferung der Chriften. Für Nichtchriften tritt
an die Stelle der Apologetik eine recht verftandene Evan-
gelifation' (48). — Es wäre eine wohlfeile Arbeit, die
K.fchen Ausführungen nach ihrer kirchlichen Recht-