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Ausgabe:

1916 Nr. 2

Spalte:

443-445

Autor/Hrsg.:

Regener, Fr.

Titel/Untertitel:

Friedrichs des Großen philosophische Ansichten 1916

Rezensent:

Scholz, Heinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 20/21.

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radikal: kein Kruzifix, keine Privatbeichte, kein Altar,
keine Meffe, kurz ,Einfachheit'. Der Gedanke legt fich
nahe, daß diefe vom landläufigen Luthertum abweichenden
Eigentümlichkeiten reformierte Entlehnungen find. Eben
das beftreitet P. Die Verfaffung foll ,ein reiner Lutherfcher
Gedanke fein, zugefchnitten auf eine Kirche, die in einer
Stadt lebte, wo keine Lutherfche Obrigkeit ift' (die eben
die Älteften vertreten); die Idee des praecipuum (S. 14
heißt es verfehentlich: principium) membrum ecclesiae
wirkt fich hier aus. Im Kultus aber foll die ,württember-
gifch-füddeutfche Strömung, die mutatis mutandis auch
die Straßburger ift' lebendig, und zwar über die Eifel nach
den Niederlanden gedrungen fein; diefe Strömung aber fei
auch wieder lutherifch, fo daß alfo die Raffereinheit des
niederländifchen Luthertums gekichert erfcheint.

Aber das ift eine Täufchung Ponts. Ich nehme an,
daß die Wegleitung von Süddeutfchland über die Eifel nach
den Niederlanden richtig ift, mir fehlen hier die Mittel
der Nachprüfung Aber ift diefe Strömung lutherifch?
Die Frage wird verneint werden müffen. K. Müller hat
in einem feinen, kleinen Auffatze: zur Gefchichte der würt-
tembergifchen Gottesdienftordnung (Feftbuch für den
deutfchen Pfarrertag in Stuttgart 1912) nachgewiefen, ,daß
Württemberg in liturgifcher Beziehung zur Züricher
Gruppe der Reformation gehört und fich von der
Wittenberger vollftändig abhebt'. So find alfo die hollän-
difchen ,lutherifchen' liturgifchen Eigentümlichkeiten letzten
Grundes Zwinglifches Gut. Und ebenfo dürfte es mit
der Kirchen verfaffung flehen; ich weife hin auf den fehr
-. ntereffanten Brief Zwingiis an Ambrofius Blarer, der für
untere Frage noch um deswillen aktuell ift, weil er fich
gegen Lutherfche Anfchauungen wendet (4. Mai 1528 bei
Schieß: Briefwechfel der Brüder Ambr. und Th. Blaurer
I, 147ff): ,Satis enim conftat eos, qui hoc loci (Act. 15,6, für
Zwingli natürlich normativ) sunt presbyteri adpellati, non
fuisse verbi ministros, sed viros aetate, prudentia et fide
venerabiles, qui digerendis et agendis rebus id erant ecclesiae
, quod senatus est urbi' etc. Es ift alfo mit der
liturgifchen und kirchenrechtlichen Raffereinheit des niederländifchen
Luthertums nichts; echte Lutheraner find jene
Holländer auf dogmatifchem Gebiete gewefen, fo gut
wie die Württemberger, und K. Müllers Wort gilt auch
für fie: ,die Hauptfache wird gewefen fein, daß man diefe
(dogmatifche) ftreng lutherifche Haltung kannte und darum
das andere überfah.'

Zürich. Walther Köhler.

Regener, Fr.: Friedrichs des Großen phiiofophifche Anlichten.

Vortrag. (Mann's pädagog. Magazin. 569. Heft.) (41 S.)
gr. 8°. Langenfalza, H. Beyer & Söhne 1914. M. — 55

Bern dt, Sem.-Dir. Jon.: Die Stellung des Matthias Claudius
zu den religiölen Strömungen leiner Zeit. (Mann's pädagog
. Magazin. 556. Heft.) (29 S.) gr. 8°. Langenfalza,
H. Beyer & Söhne 1914. M. —40

Cordier, Lic. Dr. Leop.: Jean Jacques Roulfeau und der
Calvinismus. Eine Unterfuchg. über das Verhältnis
Rouffeaus zur Religion u. religiöfen Kultur feiner Vater-
ftadt. (Mann's pädagog. Magazin. 608. Heft.) (VII,
227 S.) Langenfalza, H. Beyer & Söhne 1915. M. 3 —

Regener gibt in feinem Vortrag einen hübfchen und
wohlgegliederten Überblick über die Stellung des großen
Königs zur Philofophie und zum Chriftentum, deffen Gehalt
fich bekanntlich nach Friedrichs Urteil in der Einfalt
und Größe der Ethik Jefu und feiner perfönlichen
Lebensführung erfchöpft. Ein durch die Unvernunft in
der Welt und die Unerkennbarkeit des Überfinnlichen zunehmend
gedämpfter Gottesglaube, der in einer merkwürdig
objektiven, faft unperfönlichen Ehrfurcht vor dem
Unerforfchlichen verankert ift, bildet den Nerv feiner
religiöfen Lebensverfaffung, als deren weithin fichtbarer

Ausdruck ein über allen Eudämonismus hinausgreifendes
grandiofes Pflichtbewußtfein frühzeitig in die Erfcheinung
tritt. Diefe Momente find gut herausgehoben und in
ihrem inneren Zufammenhange verdeutlicht; das einzige,
was zu wünfchen läßt, ift die allzu kurz geratene Aus-
einanderfetzung mit dem Macchiavellismus.

Mit anfpruchslofen Mitteln faßt Berndt die religiöfen
Andeutungen und Bekenntniffe des liebenswürdigen
Wandsbecker Boten zu einem freundlichen Bilde zu-
fammen, unter welchem als Sinnfpruch die Worte flehen,
die Claudius felbft in einer glücklichen Stunde geprägt
hat: ,Wir find nicht groß, und unfer Glück ift, daß wir an
etwas Größeres und Befferes glauben können'.

Eine tüchtige wiffenfchaftliche Leiftung ift Cordiers
gründliche Unterfuchung über Rouffeau und den Calvinismus
. Die beiden großen Genfer Reformatoren oder
eigentlich Revolutionäre find ein anziehendes Thema für
eine Vergleichung. Leider hat diefe ihre Schranke an
der Dürftigkeit der Ausfagen Rouffeaus über Calvins
Perfönlichkeit. Aus den beiden erhaltenen Urteilen geht
hervor, daß Rouffeau Calvin als politifches Genie bewundert
, als theologifchen Diktator glatt abgelehnt hat. ,Ein
großer Menfch; indeffen — ein Menfch, und, was fchlim-
mer ift, ein Theologe'. Damit find die Akten gefchloffen,
um fich erft wieder einer Vergleichung zu öffnen, die an
die Stelle Calvins den Calvinismus fetzt.

Auf der Bafis diefer Erkenntnis hat Cordier im er-
ften Hauptteil feiner Arbeit Rouffeaus perfönliches Verhältnis
zum Calvinismus erforfcht. Das Ergebnis ift die-
fes, daß der Konfeffionswechfel des 16-jährigen im Jahre
1728 Rouffeau auf keinen Fall fo katholifiert hat, daß
der fpätere Rücktritt zum Calvinismus (1754) als verhüllter
Bruch mit der konfeffionellen Religion überhaupt
und als eine rein politifche Handlung zum Zweck der
Wiedererwerbung des Genfer Bürgerrechtes zu deuten
wäre. Es läßt fich zeigen, daß Rouffeau im Ernft den
Calvinismus vom Augenblick feines Rücktritts an als die
fortgefchrittenfte Ausprägung des dogmatifchen Chriften-
tums empfunden und demgemäß logar fehr nachdrücklich
für feine Exiftenz in der calviniftifchen Kirche gekämpft
hat. Der Eintritt in die Parifer Akademie, den
er durch die Vermittelung der Frau von Luxembourg
leicht hätte erlangen können, ift ihm nicht eine Meffe
wert gewefen; und an feinem Grabe hat ihm ein reformierter
Freund die letzten Ehren erwiefen.

Indeffen, ein Menfch von der weltgefchichtlichen
Wirkfamkeit Rouffeaus ift fo wenig wie Calvin von feinem
Werk zu trennen; und fo erhebt fich die zweite Frage:
Wie verhält fich das Werk des citoyen de Geneve, der
feinen Weltruhm nach Frankreich getragen hat, zu dem
Werk des Franzofen, der umgekehrt das Gebäude feines
Weltruhms in Genf errichtet hat? Der Beantwortung
diefer Frage dient der zweite Hauptteil der vorliegenden
Unterfuchung. Sie zieht nacheinander die ethifchen, päda-
gogifchen, politifchen und religionsphilofophifchen Theorien
der beiden Syfteme zur Vergleichung heran. Dabei
beftätigt fich zunächft die apriorifche Vermutung, daß
zwifchen Rouffeau und dem Alt-Calvinismus irgend ein
tieferer Zufammenhang nirgends befteht, auch nicht in
Hinficht auf den berüchtigten Glaubenszwang, den
Rouffeau als Diktator feines Idealftaates konfluiert;
denn diefer ift ganz, wie fchon bei Hobbes, aus der
Omnipotenz des Staates entwickelt, während derfelbe
bei Calvin in ftreng theokratifcher Begründung auftritt.
Im übrigen wird der Schein eines Zufammenhanges, der
fich befonders an Rouffeaus Kulturkritik heftet, an allen
Punkten gründlich zerftört durch die durchlaufenden unüberwindlichen
Gegenfätze des gefühlsvertieften Rationalismus
und bibliziftifchen Supranaturalismus, fowie des
naturergebenen Optimismus und naturkritifchen Peffimis-
mus. Anders fleht es mit dem Neu-Calvinismus, das
heißt mit dem von den Mächten der Aufklärung erfaßten
Calvinismus des 18. Jahrhunderts. Hier find weite Be-