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Ausgabe:

1916 Nr. 1

Spalte:

13-15

Titel/Untertitel:

Wilhelm Dilthey‘s gesammelte Schriften. II. Bd 1916

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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»3

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 1.

14

Urteil des Verfaffers drängt fich nirgends ftörend vor.
Ein ,Gläubiger' aus den Gemeinfchaftskreifen hat freilich
von Fleifch's Arbeiten unter liebevoller Verwertung der
.Sprache Canaans' gemeint: .Was vom »Fleifch« ift, das
ift Fleifch' (II, iS.VIII). Aber jeder verftändige Kritiker wird, |
gleichwie der Herr Verf. felbft, durch folche .fromme'
Stilblüte nur beluftigt werden. Denn wenn man auch in
Fl's Büchern den den Stoff beherrfchenden Geift gern
gelegentlich rückfichtslofer fchalten fähe (z. B. tuen S. 31—51
des vorliegenden Bändchens und namentlich S. 51—65 ]
im Referieren des Guten zuviel), fo ift doch zweifellos, 1
daß die Gemeinfchaftsbewegung an Fl. einen fo unterrichteten
, fo gerechten und wohlmeinenden Gegner gefunden
hat, wie es feiten derartigen Erfcheinungen bei Lebzeiten
vergönnt gewefen ift. Ja gelegentlich faßt Fl. die
.Größen' der Bewegung, die doch z. T. fehr kleine Leute
find, m. E. zu fehr mit Glacehandfchuhen an. Mein eben
ausgefprochenes derberes Urteil werden die .Kleinen', an
die ich denke, d. h. die engen und befchränkten, theolo-
gifch-ungebildeten .Größen', falls fie von ihm Notiz nehmen |
tollten, auf den .Stolz eines unwiedergeborenen Profeffors'
zurückführen. Habeant sibi! Ich kann, fo gerne ich mit
Fleifch das, was gut (ehrlich, ernft und chriftlich) ift
an der Gemeinfchaftsbewegung, anerkenne(vgl. meine Grundlinien
der Kirchengefchichte § 371), als Kirchenhiftoriker
nicht anders urteilen. Und vielleicht ift bei manchen diefer j
Kleinen, die erft durch ihre Tätigkeit in diefem Kreife,
durch ihre vielen Reifen und ihre immer auf denfelben
Ton geftimmren, im Grunde geiftlofen Reden groß ge- j
worden find, der Stolz größer als bei uns .Ungläubigen'.
Ja ich muß noch fchärfer reden. Mir ift die Befchäftigung
mit den Fleifchfchen Büchern, zumal die Lektüre diefes
erften Teils des zweiten Bandes, fo dankbar ich dem Ver-
faffer für feine mühfeligen und wahrlich oft unerquicklichen
Studien bin, überaus deprimierend gewefen. Auf Ferner-
ftehende kann das, was hier berichtet werden mußte, nur
abfchreckend wirken (vgl. Rö. 2,24). Die Heilsarmee
felbft ift hundert mal gefünder als dies Chriftentum des
neuen Pfingften (vgl. 1. Kor. 12,31 u. 14,6).

Halle (Saale). Loofs.

Dilthey's, Wilhelm, gefammelte Schriften. 2. Bd. Welt-
anfchauung u. Analyfe des Menfchen feit Renaiffance
u. Reformation. Abhandlungen zur Gefchichte der
Philofophie u. Religion. (XI, 528 S.) gr. 8°. Leipzig,
B. G. Teubner 1914. M. 12—; geb. M. 14 — ;

in Halbfrz. M. 16 —

Was Dilthey für die deutfche Wiffenfchaft bedeutete,
das wird die nun erfcheinende Gefamtausgabe feiner
weithin zerftreuten Arbeiten zeigen. Je mehr das heutige
deutfche Denken wieder auf die umfaffende, fubftanzielle
Lehre Hegels vom .objektiven Geifte' zurückdrängt und
den mit den Kantifchen Mitteln wieder erworbenen Idealismus
mit lebendigem Inhalt füllt, um fo klarer wird werden,
daß gerade Diltheys Arbeit in diefer Richtung Hegt, die
bei folcher Gedankenrichtung fich ergebenden Probleme
erleuchtet und die reichen hier möglichen Ergebniffe zu
einem großen Teile bereits erfolgreich geerntet hat. Die
logifch-erkenntnistheoretifche Richtung des neueren deut-
fchen Idealismus hat ihn dabei völlig zurückgehalten von
der metaphyfifchen, abftrakt-dialektifchen Begründung des
hiftorifchen und kulturphilofophifchen Denkens, wie fie
Hegels Spekulation unternommen hatte. Ja, er erkennt in
jeder Metaphyfik überhaupt ein Hindernis gerade für die
Löfung der von Hegel geftellten Aufgabe. Vielmehr fucht
er fie von logifch-erkenntnistheoretifchen Methoden aus
zu löfen und nähert fich damit der Art, wie Schleiermacher
in feiner Ethik und Kulturphilofophie das Problem
angegriffen hatte. Schleiermacher und Hegel bildeten
daher auch die beiden großen Hauptgegenftände feines
darfteilenden und kritifchen Denkens. Aber auch von

Schleiermacher und von den mit Schleiermachers Kritizismus
nahe verwandten lediglich kategorialen Denkern der
neukantifchen Gefchichts- und Kulturphilofophie trennt
ihn wieder eine ungewöhnliche Vertrautheit mit dem wirklichen
hiftorifchen Denken und Geftalten unferer großen
Hiftoriker feit Böckh, Niebuhr, Ranke und zeigt ihn in
vieler Hinficht als verwandt mit Herder. Er dachte nicht
bloß über die Hiftorie, fondern dachte und empfand felbft
hiftorifch mit einer ungewöhnlichen Fülle des Wiffens
und Feinheit der Kombination. In diefer letzteren Richtung
beftärkte ihn ähnlich wie Herder feine perfönliche
Sonderbegabung eines divinatorifchen pfychologifchen
Scharfblickes, der die feinften Verwebungen und Wechfel-
bedingungen der menfchlichen Dinge zu bemerken und
aufzudecken im Stande war. Ohne alle metaphyfifchen
Scheuklappen, im Befitz der modernen kritifchen Kunft,
zugleich fähig, die Wechfelbeziehungen nicht bloß geiftiger
Erfcheinungen unter einander fondern auch diefer zu den
materiellen und foziologifchen Grundlagen der Gefchichte
zu bemerken und zu analyfieren, hat er die Gefchichte
des europäifchen Geiftes und innerhalb diefer die des
modernen Geiftes außerordentlich erfolgreich aufgehellt.
Damit aber glitten allerdings die logifch-erkenntnistheoreti-
fchen Bemühungen um ein Verftändnis der Gefchichte, das
ihre Hervorbringungen zugleich logifch erfaffen und von der
Idee aus ethifch normieren und begrenzen follte, auf die
Bahn einer verftehenden Pfychologie hinüber, die fich
gegen die exakt-naturwiffenfchaftliche Pfychologie abgrenzen
und die Grundlagen der .Geifteswiffenfchaften'
legen follte, wobei unter Geifteswiffenfchaft eine Ver-
bindungvonpfychologifch-hiftorifchemVerftehen, logifchen
Kategorien und kulturphilofophifchen Wertungen verftan-
den war. Dann aber war auch die naturgemäße Folge
jeder wefentlich pfychologifchen Auffaffung der Gefchichte,
der Relativismus gleich möglicher und jedesmal hiftorifch
begründeter Kulturtypen, nicht zu umgehen. Er felbft
bezeichnete als Ergebnis von alledem die .Anarchie der
Werte'. Sofern er fich diefem Ergebnis dann doch wieder
entziehen wollte, blieb ihm nur der Verfuch, aus pfychologifchen
Beobachtungen und Gefetzen trotz allem wieder eine
Metaphyfik zu deftillieren, die dann freilich nicht die Voraus-
fetzung, fondern das Ergebnis des kulturphilofophifchen oder
geifteswiffenfchaftlichen Denkens war und ebendamit felber
unter den Einfluß jenes Relativismus geriet. Aus den
in diefer Komplikation eintretenden Schwierigkeiten hat
er fich nie herausgewickelt, wie das denn auch in der
Tat bei feinen Vorausfetzungen nicht möglich ift. Vielleicht
darf man ihn felber in diefer Hinficht pfychologifch nehmen
und von einer gewiffen Schwäche der Willenskraft reden,
die die Kehrfeite feiner wunderbaren Fähigkeit zur Hingebung
und Einfühlung bildete. Daher ift auch fein großes
Lebenswerk, die .Einleitung in die Geifteswiffenfchaften',
nie fertig geworden. Auf den erften Band folgten nur
Fragmente und Vorbereitungen der weiteren Bände, aber
nie diefe felbft.

Eine Anzahl von folchen Fragmenten und Vorbereitungen
ift jetzt in dem zuerft ausgegebenen zweiten Bande
der gefammelten Werke dargeboten, darunter die berühmten
Abhandlungen über das .Natürliche Syftem'. Sie
zeigen recht deutlich die Doppelrichtung feines Intereffes:
einmal die Vorbereitung feiner Einleitung durch die Aufzeigung
der in der nachmetaphyfifchen und nachtheo-
logifchen Periode herausgearbeiteten gefchichtstheore-
tifchen und kulturphilofophifchen Begriffe, dann aber auch
die Ausweitung diefer Unterfuchung zu einer Darftellung
der Entftehung des modernen Geiftes überhaupt. Daraus
entftehen viele Ungleichmäßigkeiten in den vorliegenden
Abhandlungen. Aber indem beides in der Tat eng zusammenhängt
, gewinnt das letztere in der Hauptfache das
Übergewicht. Die neuen gefchichtstheoretifchen Begriffe
erfcheinen ihm als das Selbftverftändnis des neuen Geiftes.
Sie werden daher felbft von ihm fofort hiftorifch-pfycholo-
gilch, nicht eigentlich erkenntnistheoretifch-logifch betrach-