Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1916 Nr. 1

Spalte:

382-386

Autor/Hrsg.:

Mehlis, Georg

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Geschichtsphilosophie 1916

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

381

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 16/17.

382

in der unveränderlichen Fortdauer eines und desfelben
Prozeffes befteht, ,mag diefer nun in Elektronenbewegungen
oder etwas anderem beftehen' (S. 105) — fo daß
bei diefer rein dynamifchen Auffaffung der Materie die
Unterfcheidung von Stoff und Kraft (Materie und Energie)
aufgehoben erfcheint. Erkenntnistheoretifch wichtig wird
die daraus gezogene verallgemeinernde Konfequenz, daß
•die Stabilität eines Dinges ,nicht in der Abwefenheit jeglichen
Gefchehens zu beftehen braucht fondern auch in
der Konftanz des Vorganges liegen kann; und lo wird
auch die Unterfcheidung von Sein und Gefchehen aufgrund
diefer phyfikalifchen Auffaffungen zu befeitigen
fein (S. 107).

Das zweite Hauptftück (,Weltall und Erde' S. 118— 154)
behandelt allgemeine Ausfagen über den Weltprozeß
(Maffe-, Energie-, Entropiegefetz), einzelne Erkenntnis über
Fixftern- und Planetenfyfteme und einige Fragen der Kos-
mogonie.

Die Antinomie der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt wird
mit Recht als unlöslich bezeichnet, da auch das Entropiegefetz in keiner
Weife als ficheres Fundament eines Beweifes für die zeitliche Begrenztheit
der Welt gewertet werden kann. — Mit ziemlicher Beftimmtheit wird
der Satz verfochten, daß innerhalb unferes Sonnenfyftems gegenwärtig
nur die Erde als Wohnftätte von Leben nach Art der uns bekannten
Lebensformen in Betracht kommt; der Mars könnte höchftens vor langen
Zeiträumen organifches Leben beherbergt haben. Mit dem Gedanken
jedoch, daß in allen anderen Sonnenfyftemen kein menfehentragender
Weltkörper vorhanden fei, mag fich Verf. nicht befreunden ■— aus teleo-
logifchen Gründen. Da müßte er fich allerdings den Einwand gefallen
laffen: wenn er der Überzeugung ift, daß die Summe der für die Ent-
wickeluug unferes Erd-Sonnenfyftems aufgewandten Mittel nicht zu ver-
fchwenderifch war, um ,in allzu fchreiendem Mißverhältnis zu dem Zwecke
zu ftehen' (S. 142), was tut dann die ganze übrige Fülle des Alls, um
das Mißverhältnis hervortreten zu laffen! Da befteht doch in der Tat
nur der Uuterfchied gradueller Erweiterung, die dem, der fich in der Idee
mit der Überfülle von Kraft und Stoff in einem der Fixfternfyfteme vertraut
gemacht hat, ohne Belang ift. Schließlich ift indeß wohl jenes fo-
wie diefes — wie der Verf. auch fagt — ,reines Gefchmacksurteil'.

Das dritte Hauptftück (.Materie und Leben' S. 155—
236)behandeltdasLebensproblem in folgenden Abfchnitten:
die phyfikalifch-chemifchen Grundbedingungen des Lebens,
die einfache lebende Zelle, das Problem der Lebens-
erfcheinungen, das Problem der Lebensentftehung, das
Kaufalitätsprinzip in der Biologie, das pfycbophyfifche
Problem, metaphyfifche Konfequenzen des Vitalismus oder
Mechanismus, die vielzelligen Organismen, Beziehungen
der Teile des Organismus zu einander und zum Ganzen,
allgemeine Ergebniffe und Probleme. Es kommt dem
Verf. darauf an zu zeigen, was Chemie und Phyfik bisher
für die Aufhellung des Lebensproblems geleiftet haben
und was fie vielleicht in Zukunft noch werden leiften
können. Er möchte fich bei dem Urteil befcheiden, daß
fich die Tragweite der phyfiko-chemifchen Gefetze inbezug
auf das Organifche vorläufig noch nicht ficher abfehätzen
läßt. Weitere Erwägungen werden wefentlich nur in dem
Sinne angeknüpft, daß gefragt werden foll, ob wir unfere
Weltanfchauung nicht einftweilen von der Entfcheidung
diefer zentralen biologifchen Frage unabhängig geftalten
können. Ob der Verf. diefes Problem nicht doch etwas
zu zaghaft anpackt? Eine genauere und umfaffendere
Heranziehung der neueren Unterfuchungen hätte vielleicht
Gelegenheit gegeben, etwas beftimmter die Richtung zu
beftimmen, in welche die Behandlung des Problems
tendiert B. ftellt richtig feft a) daß fich die mechaniftifche
Richtung in vieler Beziehung der vitaliftifchen überlegen
weiß, b) daß aber umgekehrt gerade die mechaniftifche
Theorie geringe Ausficht hat, die Entftehung des Lebens
zu erklären. Gerade die Förderung unferes Einblicks in
die Feinheit und Vielgliedrigkeit der Zellftrukturen hat,
wie Verf. felbft feftftellt, dem Mechanismus ein Stück
Boden nach dem anderen abgewonnen. Im übrigen ift
aber die Behandlung diefer ganzen Streitfrage feitens des
Verf.s in methodischer Hinficht bedeutfam: hier wird
einmal — ohne die geringfte Parteinahme geschweige
Ereiferung für Vitalismus oder Mechanismus — die Durchführung
des Satzes verfucht, daß die Gefamtweltanfchauung

im letzten Grunde von der mechaniftifch-vitaliftifchen
Streitfrage ganz unabhängig ift.

Zwar ift in diefer Erörterung die Definition von Theismus und Pantheismus
nicht in zureichender Faffung gegeben. Das hindert jedoch
nicht, daß, was B. des weiteren bemerkt, durchaus beachtenswert ift. Es
heißt u. a.: ,Der Theismus beruht nicht darin, daß etwa Gott das Leben
wirkte, während ohne ihn die Welt der toten Materie von felbft weiter
liefe. Wer fo denkt, .... poftuliert einen Dualismus zwifchen Gott
und Materie, der zum chriftlichen Schöpfungs- und Erhaltungsdogma
jedenfalls nicht ftimmt' ufw. (S. 209). Alfo: ,Der biologifche Mechanismus
ift mit jeder beliebigen Weltanfchauung verträglich'. Eine für die
prinzipielle Anfchauung diefes und ähnlicher Probleme gar nicht hoch
genug zu veranfchlagende Betrachtungsweife. Hat fich doch die Apologetik
nur zu oft ihre Argumente durch die fchiefen autireligiöfen Thefen
vorzeichnen laffen. Wenn Haeckel erklärte, die Urzeugung leugnen heiße
das Wunder verkündigen, fo hat man in weiteften Kreifen diefen Standpunkt
unbefehen anerkannt und das apologetifche Verfahren darauf eingerichtet
. Tatfächlich verhält es fich jedoch fo, daß es für den chriftlichen
Gottesglauben gleichgültig ift, wann und durch welchen Prozeß
das Leben erftmalig entftanden ift. Hat man fich klar gemacht, daß
alle Naturprozeffe in Gott ihren zureichenden Grund haben, fo würde das
Auftreten des Lebens, auch wenn es phyfiko-chemifch voll begreiflich
wäre, gleichwohl eine direkte Gotteswirkung bedeuten. Der Theismus
handelt kaum in feinem Iutereffe, wenn er den grundfätzlichen Unter-
fchied zwifchen leblofem und lebendigem Sein zur Formulierung des
Dilemmas benutzt, ob das Leben durch beftimmte chemifche und phyfi-
kalifche Prozeffe zuftande gekommen oder von Gott gefetzt fei. Daß
diefes Entweder-Oder gar nicht befteht, mit allem Nachdruck betont zu
haben, ift ein großes Verdient! von B. Im übrigen wäre es der Beleuchtung
des Problems felbft ficherlich von Vorteil gewefen, wenn B. die
Schriften von Wilh. Roux, vor allem die ,über kaufale und konditionale
Weltanfchauung und deren Stellung zur Entwicklungsmechanik' (1913)
fowie deren Vorgängerinnen herangezogen hätte.

Im letzten Hauptftück (,Das Problem der Artenbildung
' S. 237—290) wendet fich B. zur Anthropologie.
Er erörtert kurz die Indizien für die Artendefzendenz
fowie die treibenden Kräfte der Artenbildung, wobei als
befonders gut herausgearbeitet die Befprechung der
Mimicry-Erfcheinungen genannt werden muß. Verf. bejaht
nicht nur unumwunden die Defzendenz im allgemeinen,
fondern verhält fich auch gegen den Darwinismus im
engeren Sinne, die Selektionstheorie, außerordentlich entgegenkommend
und fucht den Beweis zu führen, daß
auch diefe letztere famt ihrer ZufallsprämifTe dem Theismus
durchaus einzugliedern fei. Schließlich kommt noch
Urfprung und Stellung des Menfchen zur Sprache, wo,
unter felbftverftändlicher Behauptung der tierifchen Defzendenz
des Menfchen, die ganze Betrachtung darauf
hinausgeführt wird, daß die religiöfe Anfchauung kein In-
tereffe an einem ,möglichft realiftifch gedachten neuen
Schöpfungsakt' hat, fondern nur daran, daß ,überhaupt die
Welt als Ganzes genommen als Tat eines perfönlichen
felbftbewußten Geiftes angefehen werden darf.

Wien. Beth.

Mehlis, Prof. Dr. Georg: Lehrbuch der Gefchichtsphilofophie.

(XV, 722 S.) Lex. 8°. Berlin, J. Springer 1915.

M. 20 —; geb. 23 —

Ein Lehrbuch im eigentlichften Sinne des Wortes.
Denn es vertritt eine Schullehre, die Philofophie Heinrich
Richerts, unter dem ftärkften Eindruck des Meifters und
unter faft ausfchließlicher Heranziehung von Schulgenoffen.
Außerdem verfolgt es aber auch geradezu den Zweck,
diefe Lehre in breitefter und umftändlichfter Form dem
Verftändnis des noch unkundigen Anfängers klar zu machen
. Es ift wie ein gedrucktes Kollegheft, reich an rhe-
torifchen Stellen und neben den trockenen begrifflichen
Darlegungen einer fehr abftrakten Schulfprache durch
poetifche Profa den Lefer erhebend. Neues im Verhältnis
zu Rickert bietet das Buch, abgefehen von der Schluß-
Dichtung, nicht, aber eine fehr intereffante Verfchiebung
des Akzentes. Rickerts bekanntes und bedeutendes
Buch handelt in der Hauptfache von der logifchen Methode
der empirifch-hiftorifchen Forfchung und Darftellung, verbindet
aber mit diefer Gefchichtslogik zugleich eine Gefchichtsphilofophie
, eine Meffung des Tatfächlich-Gefche-
henden an einem feften vernunftnotwendigen Syftem der