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Ausgabe:

1916 Nr. 15

Spalte:

353

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Autor/Hrsg.:

Radermacher, Heinr. Jos.

Titel/Untertitel:

Die Organisation der Militärseelsorge in einer Heimatgarnison 1916

Rezensent:

Schian, Martin

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353

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 15.

354

genannt. Mancher Seelforger wird für die Ausführung
über die .Befuche' befonders dankbar fein; hier liegt ja
die eigentlichfte, fehr große Schwierigkeit der Arbeit. —
Von ganz anderer Art ift Radermachers13 Schrift. Sie
befchreibt genau nicht fowohl die paftorale Handhabung
(obwohl Einiges auch dazu gefagt wird) als vielmehr die
gefamte Organifation der katholifchen Militärfeelforge in
der großen Garnifon Köln von den erften Anfängen an
bis zu ihrer vollen Durchbildung. Man muß vor dem
Organifationstalent und der Organifationsenergie, die dort
gewaltet haben, allen Refpekt bekommen. Zugleich zeigt
die Darfte'lung, was bei verftändnisvollem Zufammenwirken
von Kirchenbehörde und Seelforgern einerfeits, Militär-
inftanzen andererfeits zu erreichen ift. Zwei Notizen feien
erwähnt: In Köln wird jetzt jeder kathol. Soldat Sonntag
um Sonntag zum Gottesdienft geführt, während fonft jede
Kompagnie nur einmal im Monat Kirchgang hatte (S. 13).
In Köln ift ferner durch Verfügung des Gouvernements
aller Lefeftoff in den Lazaretten der Kontrolle der Pfarrer
(beider Bekenntniffe) unterftellt (S. 41). Über die Art, wie
diefe Kontrolle ausgeführt wird, läfe man gern noch
Genaueres. Das Buch ift fehr inftruktiv.

5. Kirchliche Aufgaben. Von Seelforge handelt
auch Blau14; aber er faßt das Wort in viel weiterem
Sinn als die eben befprochenen Schriften. Das zeigen
fchon feine Kapitelüberfchriften: Das Amt und fein Dienft;
Die Gemeinde und ihr Leben; Die Kirche und ihre Einrichtungen
; Die Innere Miffion und ihre Arbeiten. Es ift
die gefamte Arbeit der Kirche in der umfaffenden Bedeutung
des Worts, die er von Gefichtspunkten des Kriegs
aus behandelt. Für die Predigt fordert er z. B., daß fie
mehr prophetifchen Charakter trage, mehr Heilspredigt,
mehr biblifch fei. Die Gemeinde betrachtet er als Glau-
bensgemeinfchaft, als Liebesgemeinfchaft, als organifierte
Arbeitsgemeinfchaft, im letzteren Stück mit Zuftimmung
zum Programm ,des evangelifchen Gemeindetages' (genauer
: der Konferenz für evangelifche Gemeindearbeit).
Die kritifche Lage der Kirche wird kurz gefchildert; zur
Bekenntnisfrage betont B. die ,Grenzen, über die hinaus
keine Reiigionsgemeinfchaft gehen kann', fpricht aber auch
klar aus: ,die Erfahrung diefer Zeit hat gezeigt, daß man
auch bei fonft gründlich verfchiedenen Anfchauungen und
Parteiftellungen fich doch in gemeinfamer Liebe zum
Ganzen finden und fich gegenfeitig tragen kann' (S. 67).
Zur Kirche als Kultus- und Verfaffungsgemeinfchaft äußert
er allerhand Reformforderungen, z. B.: Mehr Volkstümlichkeit
, mehr Vielfeitigkeit in den Gottesdienften; auch
mehr außergottesdienftliche Wortverkündigung. Gelegentlich
kommt hier der Gedanke der ,Laienordination' vor
(S. 74); die Sache, die gemeint ift, kann gut fein, der
Ausdruck ift jedenfalls vom evangelifchen Standpunkt
aus unhaltbar. Sätze über die Innere Miffion als Volks-
feelforge und über ihren Miffionscharakter machen den
Schluß. Man lieft die weitreichende Überfchau über die
ernfteften kirchlichen Fragen der Kriegsgegenwart und
der Zukunft, ob man auch hier und da anderer Anficht
ift, mit Gewinn. — Ähnlichen Fragen ift Schettlers15
aus einem Synodalreferat erwachfene Brofchüre gewidmet.
Er redet neuen F'ormen der Verkündigung das Wort;
Gottesdienften zu allerhand verfchiedenen Stunden für
Kellner, Straßenbahner ufw., Gottesdienften im Freien,
Jugendgottesdienften, liturgifchen Andachten; ftärkerer Betonung
des Kultifchen im Gottesdienft. Aber auch fonft
entwickelt er nüchtern und klar eine ganze Reihe von

13) Radermacher, Obcrlehr., z. Z. Garnifonpfr. Heinr. ToCi Die
Organifation der Militärfeelforge in einer Heimatgarnifon. Ein Beitrag zur
Gefchichte des religiöfen Lebens unferes Heeres im Kriegsj. I9I4/T5*
(04 S.) 8°. M. Gladbach, Volksvereins-Verlag 1915. M. 1.20

14) Blau, Gen.-Superint. D. Paul: Kriegsaufgaben der beelforge, m.
befoud. Berückficht. der Zukunft der Kirche. (91 S.) 8°. Hamburg,
Agentur des Rauhen Haufes 1915. M. I —

15) Schettler, Pfr. Liz. A.: Die Kirche in der Schickfalsftunde
der Gegenwart. Ein Referat. (40 S.) 8». Berlin-Lichtcrfelde, E. Runge
1915. M. — 70

Reformforderungen, die zwar keineswegs alle organifch
mit dem Krieg zufammenhängen, die aber jedenfalls für
die Zeit nach dem Krieg fehr beachtenswert find. Hervorgehoben
fei ferner das Verlangen, die Kirche folle mehr
als bisher das chriftliche Gewiffen in der Öffentlichkeit
I vertreten, und zwar in voller Unabhängigkeit vom Staate.

Auch von den Aufgaben der Kirchengemeinden in der
' Vermehrung der geiftlichen Kräfte ift die Rede; neben-
I bei wird vom chriftlichen Pazifismus in fcharf ablehnendem
( Sinn gefprochen. Über viele diefer Wünfche wird leider
freilich jetzt fo wenig Einmütigkeit beftehen wie früher.

— Gleich Rades16 Schrift zeigt eine vielfach verfchie-
dene Auffaffung. Er unterbaut feine Ausführungen durch
längere Darlegungen über unfichtbare Kirche, fichtbare
Kirche, Landeskirche, katholifchen und proteftantifchen
Weg, fchildert die Lage vor dem Krieg und im Krieg,
ftellt feft, daß die Kirche in letzterem ihre Schuldigkeit
getan hat, und folgert für die Zeit nach dem Kriege:
1. Keine Rede mehr von Trennung des Staates und der
Kirche. 2. Neubefeftigung der Landeskirche als Volks-,
d. i. als Staatskirche. 3. Damit und darum: Ethifierung
der Kirche. Die Knappheit der Darlegungen zu diefen
drei Punkten vermag fie nicht nach allen Seiten hin klar-
zuftellen und gegen Mißverftändniffe zu fchützen; es find
namentlich bei Punkt 3 Forderungen, denen jeder ernfte
Chrift zuftimmt, mit folchen verbunden, die recht um-
ftritten find (Friedensbewegung); und über manche Fragen
(Verhältnis der Richtungen) geht R. rafcher hinweg, als
die harte Wirklichkeit eigentlich zuläßt. Seine Schrift
bedeutet nicht ein Aktions- fondern ein Gefinnungspro-
gramm mit fehr bemerkenswerten Formulierungen, die
übrigens auch dort, wo es anders zu fein fcheint (Kirche
und Staat), kaum eine eigentliche Neuorientierung bedeuten.

— Weniger in das kirchliche als in das religiöfe Gedankengebiet
gehört Mahlings17 warmherzige kleine Schrift.
Sie ftellt den Gedanken der Wiedergeburt in die Mitte,
zeigt, wie die chriftliche Religion von ihm aus verftanden
wird, wie er aber auch in der neueren Philofbphie (Kant,
Fichte, Eucken) zur Geltung kommt. Zur Wiedergeburt
muß unferem Volk geholfen werden; dazu ift die Ausprägung
chriftlichen Glaubens zur charaktervollen deutfchen
Frömmigkeit nötig, ebenfo wie umgekehrt die Tieferführung
nationaler Frömmigkeitsimpulfe zu dem quellhaft fprudeln-
den Gottesleben in der Perfon Jefu. Zum Schluß kommt
M. auf die Darfteilung der Gemeinfchaft der chriftlichen
Gemeinde als einer Liebesgemeinfchaft; diefen Gedanken
führt er dann in einem Anhang ,Die Kirche der Liebe
Chrifti' weiter aus. Hier findet er von fchönem Optimismus
getragene, herzbewegliche Worte über eine Johanneskirche
der Zukunft', eine Kirche ohne Zank und Partei-
ftreit. Mag der Lefer nicht den gleichen Optimismus

j befitzen: er wird fich der inneren Schönheit diefer Zu-
I kunftsausficht nicht entziehen, und mancher wird im
Innerften für die Mitarbeit auf diefe Ziele hin gewonnen
werden. — Döhrings18 lebhafter, dringlicher Appell ift
rein religiös: Wir müffen uns mit Chriftus zufammen
fchließen; in ihm vermögen wir alles.

6. Religiöfe Erwägungen und Betrachtungen.
Die von ihm feit Ende Juli 1914 bis Oftern 1915 in der
,Chriftlichen Welt' gefchriebenen .Andachten' hat Rade1'1
in ein Heft zufammengefaßt. Er gab ihnen nach eigener
Ausfage einen fyftematifcheren Charakter, als diefe Stücke

16) Rade, Prof. D. Mart.: Die Kirche nach dem Kriege. (Vortrag,
am 16. Septbr. 1915 in Stuttgart geh.) (Sammlung gemeinverft. Vorträge
u. Schriften aus dem Gebiet der Theol. u. Religionsgefch. 79.) (IV, 53 S )
gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1915. M. 1.20

17) Mahling, Prof. D. Fr.: Religiöfe u. nationale Wiedergeburt.
Nebft e. Anh.: Die Kirche der Liebe Chrifti. (39 S.) 8». 1915. M. — 75

18) Doehring, Hof- u. Dompred. Lic. Bruno: Chriftus oder wir?
Eine Frage an das deutfche Volk — Chriftus u. wir! Ein Programm f.
das deutfche Volk zu Neujahr 1916. (29 S.) 8°. Berlin, F. Zilleffen 1916.
M. — 30

19) Rade, Prof. D. Mart.: Chriftenglaube in Krieg u. Frieden. 1. Im
Krieg. (VIII, 110 S.) 8°. Marburg, Verlag der Chrifti. Welt 1915. M. 1.30