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Ausgabe:

1916 Nr. 14

Spalte:

321-323

Autor/Hrsg.:

Cremer, Ernst

Titel/Untertitel:

Das vollkommene gegenwärtige Heil in Christo 1916

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 14.

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aus, vielmehr hat man vielfach den Eindruck abfichtlicher
Veränderungen, was ja der Natur der Sache nach durchaus
verftändlich ift. Endlich erhebt fich noch die Frage
der literarifchen Einheitlichkeit, auf die Richter nicht
Bezug nimmt; die Schrift, in der fie zum erften Male
unterfucht worden ift (J. Herrmann, Ezechielftudien, 1908),
fcheint ihm entgangen zu fein. Schade ift es, daß er Roth-
fteins fehr wertvolle.Bearbeitung des Ezechiel in der dritten
Auflage der hl. Schrift des A. T., herausg. v. E. Kautzfeh,
nicht verwendet hat, fondern noch mit der Auflage von
1894 arbeitet; es ift doch eigentlich nicht angängig, eine
fo wichtige und allgemein zugängliche Publikation zu
übergehen. Auch von Orellis Kommentar hätte er die
1894 erfchienene zweite Auflage benützen follen. Soweit
ich fehe, nimmt er nicht einmal auf Rothfteins kritifche
Bearbeitung des Textes in Kittels Biblia Hebraica Bezug,
wie er auch die Septuaginta von Swete nicht benutzt hat.
Doch foll damit nichts gegen den Wert deffen, was er
felbft zur Sache zu fagen hat, gefagt fein. Da Ref. fo-
wohl in der Textkritik wie in der Erklärung fich dem
Verfaffer nicht allzu häufig anfchließen kann, fo ift es ihm
fraglich, ob das Buch uns pofitiv erheblich fördert. Was
das erftere anbelangt, fo kann Ref. z. B. fchon den Grund-
fatz des Verfaffers, daß die Lesart der LXX a priori der
des M. T. gleichwertig fei und darum, wo fie einen befferen
Sinn ergibt, unbedenklich angenommen werden könne,
in diefer Formulierung nicht für richtig halten, und auch
fein Zutrauen zu Konjekturen vermag er nicht zu teilen.
Aber eine fo forgfältige und felbftändige Unterfuchung,
wie fie der Verf. liefert, verdient als folche jedenfalls ernfte
Beachtung, auch wo man ihr nicht zu folgen vermag.

Roftock. J. Herr mann.

Crem er, Pfr. D. E.: Das vollkommene gegenwärtige Heil in
Chrifto. Eine Unterfuchg. zum Dogma der Gemein-
fchaftsbewegg. (Beiträge zur Förderg. chriftl. Theologie
. 19, 4. u. 5.) (124 S.) 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann
1915. M. 2 —

Ihmels, Prof. D. Ludwig: Zur Lehre von der Heiligung bei
Th. Jellinghaus. (Neue kirchl. Zeitfchr. 1916, S. 89—128.)

— Die tägliche Vergebung der Sünden. Vortrag, geh. auf der
10. allg. luther. Konferenz zu Lund. 2. verb. u. erweit.
Aufl. (51 S.) 8°. Leipzig, Dörffling & Franke 1916.

Kart. 1.50

Das Gemeinfame der drei genannten Arbeiten befteht
darin, daß fie die Heiligungslehre, die Jellinghaus früher
in feinem umfangreichen Buch ,Das völlige gegenwärtige
Heil durch Chriftum', 1880, 5. A. 1903, vertrat (inzwifchenvon
ihm felbft widerrufen) vom Standpunkt der lutherifchen
Rechtfertigungslehre aus kritifieren, den rechten Begriff
der Heiligung und die rechte Stellung des lutherifchen
Chriften zu feiner Sünde entwickeln und— die vollftändige
Übereinftimmung zwifchen Luthers Lehre und den An-
fchauungen des Neuen Teftaments, befonders denen des
Paulus zu beweifen verfuchen.

Der Hauptanftoß, den Teil, den Lutheranern bietet,
ift darin gegeben, daß er die Heiligung von der Rechtfertigung
trennt, in ihr eine zweite felbftändige Gnadengabe
fieht, die unentbehrlich ift, wenn man das ,völlige
Heil' erlangen will, weil fie erft die Sünde im Chriften
ein für alle mal zu nichte macht. Demgegenüber weift vor
allem Crem er nach, daß nach der Lehre der Reformatoren
die Heiligung die unmittelbare Wirkung der
Rechtfertigung ift, daß fie organifch aus dem Erlebnis der
Vergebung herauswächft, daß fomit fchon die Rechtfertigung
das volle Heil fchenkt. Die einzelnen Kapitel
feiner Schrift handeln dementfprechend von der modernen
Heiligungslehre, der fittlichen Kraft der Rechtfertigung,
der Erneuerung als Wirkung des Geiftes, dem vollkommenen
Heil, der Sünde des Gläubigen und der chrift-

lichen Vollkommenheit. Ähnlich legt Ihmels in dem
Artikel in Kürze dar, wie der Heiligungsprozeß immer
nur auf Grund des Glaubens, auf Grund der einmal geschehenen
Hinwendung zu Chriftus verläuft, indem der
einmal gefetzte neue Anfang immer wieder aufs neue
gefetzt wird und der Glaube fo in fteigendem Maße den
ganzen Umkreis des inneren und äußeren Lebens in den
Heiligungsprozeß hineinzieht.

Wird man vom Boden der reformatorifchen Lehre
aus hiergegen kaum etwas einwenden können, fo ift die
eigentliche Frage, ob diefe lutherifche Lehrauffaffung ohne
weiteres mit der neuteftamentlichen, insbefondere mit der
paulinifchen identifiziert werden darf. Während für
Crem er dies Zufammenftimmen beinahe Vorausfetzung
ift, bemüht fich Ihmels ernftlich um den Nachweis und
kommt— in der felbftändigen, in neuer Auflage nur wenig
erweiterten Schrift— zu dem Ergebnis, daß Paulus ebenfo
wie Luther mit der Unfertigkeit des Chriften gerechnet
hat, daß eigentlich nur eine rein formale Differenz befteht,
infofern der Begriff der täglichen Vergebung bei Paulus
nicht direkt nachweisbar ift, daß aber auch diefe bedeutungslos
ift, da auch die Reformatoren immer wieder auf
das gefchichtliche Werk Chrifti zurückgreifen, während
Paulus, wie Phil. 3 zeigt, feinerfeits nicht unterläßt, das
beftändige Neuergreifen der Gerechtigkeit Chrifti zu lehren,
worin die Gewißheit der täglichen Vergebung doch be-
fchloffen ift.

So ift in allen drei Arbeiten, auch bei Cremer,
fchließlich die entfeheidende Frage: wie ftellt fich die
Lehre des N. T., befonders die des Paulus zur Heiligung
und zur Sünde des Chriften. Für Crem er find hier
folgende Behauptungen charakteriftifch. Heiligung ift Aufnahme
des Sünders in die Gemeinfchaft mit Gott, nicht
die fittliche Erneuerung (S. 34ff.); wie die Rechtfertigung
ift auch die Taufe ein Rechtsakt: fie tilgt den Rechts-
anfpruch der Sünde an uns (S. 45 f.). Das fchlechte Ge-
wiffen und die Tatfache der fittlichen Ohnmacht zeugen
immer wieder von neuem den Glauben (S. 92). Chrift-
liche Vollkommenheit ift gerade nicht fittliche Vollkommenheit
, fondern Vollkommenheit des fittlich Unvollkommenen,
des von der Sünde Verfuchten (S. 112). Cremer wie
Ihmels fehen natürlich in Rom. 7 Bekenntniffe des Chriften
Paulus, die nur eben von dem in Chrifto immer wieder
Gefchenkten abftrahieren. Ihmels unterfucht befonders
das Selbftbewußtfein des Paulus und hat den Eindruck,
daß überall da, wo wir es überhaupt erwarten können,
aus dem tiefen Innern des Apoftels auch noch das Bewußtfein
der eigenen Unvollkommenheit, ja Sünde durchbricht
(Vergebung S. 20).

In einem hat die Kirchentheologie jedenfalls recht:
Paulus hat immer wieder mit Sünde bei Chriften zu tun
und rechnet mit ihr. Zweierlei aber überfieht fie oder
bringt fie nicht recht zur Geltung: 1) daß Paulus da, wo
er das grundlegende Erlebnis befchreibt, regelmäßig Ausdrücke
gebraucht, die die wirkliche Entfündigung ein-
fchließen und 2) daß er da, wo er Sünde bei Chriften
findet oder vorausfetzt, gleichfalls die Entfündigung,
die er nun fordert, als einen Akt bezeichnet, der jetzt',
,fofort' und zwar abfchließend fich verwirklichen muß.
Wenn Jell. darum beitritt, daß die Heiligung als ein allmählicher
Prozeß gedacht fei, fo muß die Exegefe hier
dem Sektierer Recht geben. Gegen Crem er folgt hier-
[ aus, daß Heiligung bei Paulus Entfündigung felbftverftänd-
lich einfchließt, und daß die Taufe nicht bloß Rechtsakt,
fondern auch Erneuerungsakt ift im Sinn der Entfündigung.
Ihmels feinerfeits hat ficher recht, wenn er zeigt, wie der
heutige Chrift aus den Grundprinzipien der paulinifchen
Theologie die Gewißheit der täglichen Vergebung der
Sünden ableiten kann; aber der Tatfache, daß Paulus
felbft diefe Ableitung nirgends ausdrücklich vornimmt, hat
er doch nicht genügend Rechnung getragen, und da ich
Rom 7 anders auslege als er und Cremer, finde ich auch
bei dem Chriften Paulus nirgends Bewußtfein von Sünde