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Ausgabe:

1916 Nr. 14

Spalte:

316-317

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Michelis, Heinrich

Titel/Untertitel:

Monistische Charakterköpfe 1916

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 14.

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aufgeftellten Regeln für die günftige Entwicklung wiffen-
fchaftlicher Genies für die biographifche Darfteilung verwendet
. Unterfcheidet man Klaffiker ,mit geringer Re-
aktionsgefchwindigkeit, die in äußerfter Gewiffenhaftigkeit
einige wenige fundamentale Gedanken nach allen Seiten
durcharbeiten und ftützen' und .Romantiker mit großer
Reaktionsgefchwindigkeit, welche eine Fülle von mannigfaltigen
und zuweilen überaus weit abliegenden Ideen
produzieren', fo ift Darwin zum klaffifchen, Häckel
zum romantifchen Typus zu rechnen. Er ift vielleicht
Romantiker, fo paradox es klingen mag und fo wenig
es bei O. hervortritt, auch im üblichen Sinne des Wortes.
Die geiftige Eigenart H.s wird in der feltenenVerbindung
vifueller Begabung (die in ,anfchaulichen Ideen' denkt)
mit .methodifch-orgamfatorifchem Erbgut' gefunden. Die
Kehrfeite, die eine Würdigung Hs. beachten muß, nämlich
wie verwüftend Häckels Arbeit in weiten Kreifen gewirkt
hat und wirken muß, zeigt der bekannte Jefuit Wasmann 4
in einer Analyfe der .Ewigkeitsgedanken' Häckels und
in reichlichen Mitteilungen aus der zweibändigen Feft-
fchrift /Was wir Ernft H. verdanken' (1914). Diefe Mitteilungen
fowie die Polemik find durchaus lefenswert;
Verftändnis des Gegners oder auch nur ein Bemühen
darum darf man freilich bei W. nicht fuchen.

In zwei Propaganda-Heften 5 begibt fich Wilh. O ft w a 1 d
auf das Gebiet der religiöfen Frage. In dem erften wird
ausgeführt, daß wir einer ehrlichen Moral bedürfen, die
nur durch das offene Fallenlaffen jeder religiöfen Motivierung
mit ihrer Überspannung der Forderungen und
entfchloffene Anwendung wiffenfchaftlichen Denkens auf
die Moralprobleme gefchaffen werden könne. Sofern in
Mt. 7,12 der erfte Anfatzpunkt zu einer fozialen Betrachtungsweife
gegeben fei, liege hier im Gegenfatz zum
Grundton der Bergpredigt die Brücke zur höheren
moniftifch-ethifchen Denkweife vor. Aufs ganze gefehen
fei aber die Moral, auch in der Geftaltung der wiffenfchaftlichen
Ethik, noch auf derfelben Stufe ,wie etwa die
Alchemie vor drei oder vier Jahrhunderten'! Das zweite
Heft verfucht aus der Konfeffionsftatiftik den Beweis zu
führen, ,daß unfere Volksgenoffen durch die Abwendung
von der Staatskirche ganz unzweifelhaft gebeffert werden',
fo daß ,das fchleunige Verlaffen der Staatskirche zur fitt-
lichen Pflicht' werde. Notwendig fei eine durchgreifende
Neuorientierung des menfchlichen Denkens. Im Anfcbluß
an Comtes foziologifche Konftruktion wird der Zuftand,
dem diefe in Wellenbewegung zuftrebt, als Phafe der
Organifation unter Führung der Wiffenfchaft bezeichnet.
Während das .religiöfe Erlebnis', auf das fich der liberale
Proteftantismus beruft, notwendig unfozial ift und trennend
wirkt, ift die Wiffenfchaft international, verbindet die
Menfchen und bindet fie durch Erkenntnis an Gefetz und
Ordnung; fie ift daher der rechte Heiland, der den Frieden
auf Erden herbeiführen wird. Auch beeinträchtigt der
Monismus, der eben in nichts anderem als der energi-
fchen und allfeitigen Anwendung der Wiffenfchaft be-
fteht, keineswegs ein gefundes und naturgemäßes Gefühlsleben
, führt vielmehr unter Befreiung von den mancherlei
glückswidrigen religiöfen Gefühlen zu einem .durchgängig
viel mehr ins Heitere und Kraftvolle geftimmten Gefamt-
gefühl und vermag den hohen Stunden des Lebens wie
dem Sterben eine wirkliche Weihe zu geben'. Ich muß
im Rahmen diefer kurzen Überficht auf jede Kritik der
zwar nicht neuen, aber klar, energifch und beredt aus-
gefprochenen Gedanken O.s verzichten und begnüge mich
zu konftatieren: 1. Ein ausfchließender Gegenfatz zwifchen

4) Wasmann, Erich, S. J.: Ernft Haeckels Kulturarbeit. (Er-
gänzgshefte zu den Stimmen der Zeit. I. Reihe: Kulturfragen, i. Heft.)
(III, 54 S.) gr. 8». Freiburg i. B., Herder 1916. M. 1.20

5) Oftwald, Wilh.: Das Chriftentum als Vorftufe zum Monismus.
(Arbeiten zum Monismus. Hrsg. v. W. Oftwald. Nr. I.) (54 S.) kl. 8°.
Leipzig, Unesma 1914. M. — 50

— Religion und Monismus. (Arbeiten zum Monismus. Nr. 2.) (II,
105 S.) kl. 8°. Leipzig, Verlag Unesma 1914. M. —50

Glauben und Wiffen fowie zwifchen religiöfer Offenbarung
und (natürlicher fowie) gefchicht'icher Entwicklung
kann nicht anerkannt werden. Ohne Zweifel gibt
es keinen denkbaren Inhalt, der der wiffenfchaftlichen
Erkenntnis und Kritik entzogen werden dürfte; aber
ebenfo ficher ift, daß das Erkennen die Inhalte nicht
fchaffen, fondern nur reproduzieren kann, auch die gei-
ftigen. 2. Von der Religion, wie fchon Schleiermacher
fah, ftrahlen gleichzeitig individualifierende und gemeindebildende
Kräfte aus; die mit diefem eigentümlichen Antagonismus
gegebenen Probleme find allerdings, wie ich
zugeben muß, noch nicht ausreichend durchgearbeitet.
3. Einem Leben ohne Gott fehlt m. E. das Befte und
Notwendige; aber freilich: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr wer-
det's nicht erjagen ....

Benno Erdmanns erweiterte Feftrede6 gibt eine
vornehme und tiefgehende Analyfe der moniftifchen Bewegung
und ihrer beiden Hauptführer, deren Verfchie-
denheit er deutlich herausftellt. Bei aller Anerkennung
der in der moniftifchen Gemeinde zutage tretenden Be-
geifterung für die Wiffenfchaft und für hohe ethifche
Lebensziele ift doch feine Kritik eine vernichtende, indem
fie die Grundfehler: erkenntnistheoretifcheUnorientiert-
heit (,ein völlig naiver naturwiffenfchaftlicher Realismus')
und Oberflächlichkeit in der Erfaffung der geiftigen
Größen, zumal der religiöfen und ethifchen Probleme
aufweift. Demgegenüber vertritt E. einen kritifchen Phänomenalismus
, der den ganzen Beftand unterer Erfahrung
in ihrer finnlich geiftigen Doppelheit fich anzueignen bemüht
ift. Das Abfolute, in dem beide Reihen zur
Einheit zufammengehen, ift vom Erkennen aus als Grenz-
begriff zu erfaffen, während der religiöfe Glaube (der,
wie das Wiffen, fchließlich in der Selbftgewißheit wurzelt)
es auf Grund feines Erlebens deutet. Was Oftwald
dem entgegenftellt7, ift, abgefehen von Einzelheiten
in der Charakteriftik Häckels (über deffen .Materialismus
' f. o.), wenig durchfchlagend und bringt ihm in Erdmanns
Vorwort (S. VI f.) eine wohlverdiente Zurecht-
weifung ein. Was es mit feiner erkenntnistheoretifchen
Orientierung auf fich hat, zeigt feine Bemerkung von der
,vollftändigen Einflußlofigkeät' einer folchen .gegenüber
allem, worauf es ankommt' (S. 44). Wenn er gegen die
zwangsweife erfolgende religiöfe Beeinfluffung Andersdenkender
proteftiert (53), wird man ihm recht geben
müffen. Aber er follte fich klar darüber fein, daß die
antireligiöfe Propaganda, die er treibt und die vielfach
felbft in verletzender Form betrieben wird, auf der Gegenfeite
nur Intoleranz auslöfen kann.

Als /Pfadfucher und Pfadfinder auf dem Wege zu
einer von der überlebten Tradition der mittelalterlichen
kirchlichen Scholaftik freien moniftifchen Methode der
Welt- und Lebensanfchauung' fchildert Michelis8 in
knappen, fehr lesbar gefchriebenen, aber nicht eben tiefgehenden
und in Einzelheiten felbft fehlerhaften Skizzen
Kopernikus, Bruno, Spinoza, Goethe, Schopenhauer, Helm-
holtz, Darwin, Häckel und Oftwald.

Eine fehr fleißige Darftellung des Werdens und der
Weltanfchauung Karl Vogts, des bekannten Materialiften
, gibt Joh. Jung9. Vogts kosmologifche, pfycho-
logifche, ethifch-politifche und felbft äfthetifche Sätze
find wohl erfchöpfend und in guter Ordnung zufammen-
geftellt und damit eine wichtige Vorphafe des Monismus

6) Erdmann, Benno: Über den modernen Monismus. Akademifche
Feftrede. (VH, 53 S.) Berlin, Gebr. Paetel 1914. M. 1.20

7) Oftwald, Wilh.: Monismus u. Schulphilofophie. (Arbeiten zum
Monismus. Nr. 3.) (59 S.) kl. 8°. Leipzig, Unesma 1914. M. —60

8) Michelis, Dr. Heinr.: Moniftifche Charakterköpfe. Beiträge zu
e. Entwicklungsgefchichte des monift. Denkens in Einzeldarftellgn. (VII,
94 S. m. 9 Bildniflen.) kl. 8°. Leipzig, Unesma 1914. M. 1.50; geb.
M. 2 —

9) Jung, Realgymn.-Ob.-Lehr. Dr. Jons.: Karl Vogts Weltanfchauung
. Ein Beitrag zur Gefchichte des Materialismus im 19. Jahrh. (Studien
zur Philofophie u.Religion. 17. Heft.) (XV, 126 S.) 8°. Paderborn, F.
Schöningh 1915. M. 3.60