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Ausgabe:

1916 Nr. 13

Spalte:

299-301

Autor/Hrsg.:

Rickert, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 2., neu bearb. Aufl 1916

Rezensent:

Titius, Arthur

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299

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 13.

300

Die Neubearbeitung erftreckt fich auf eine Fülle von
Einzelheiten, ohne daß naturgemäß an den Grundfätzen
irgendwie geändert worden wäre. Diefe Grundlätze fließen
bekanntlich aus der ariftoteliich-fcholaftifchen Lehrmeinung
des Verfaffers und des Herausgebers; fie find im wefent-
lichen identifch mit den Grundüberzeugungen wiffenfchaft-
lich forfchender Katholiken. Der Verfuch, die ariftotelifch-
fcholaftifche Logik bis zur Gegenwart fortzubilden, ohne
Änderung der von der Kirche approbierten Grundthefen,
ift für die fyftematifche Forfchung nur dort von Intereffe,
wo auf Grund einer Auseinandersetzung mit den Unter-
fuchungen moderner Logiker eine Vertiefung oder eine
Umgeftaltung alter Formulierungen verflicht wird. Fremdartig
berührt das ftarke Hineinragen des theologifchen, be-
fonders des theozentrifchen Moments z. B. in der Frage
nach dem Verhältnis zwifchen Philofophie und Theologie,
oder in der Formulierung des Wahrheitsbegriffs. Erfreulich
ist die klare, prägnante Terminologie, die freilich
an manchen Stellen das Inhaltliche ftark beherrlcht.

Vom Standpunkt des Katholizismus aus wird man
es gern begrüßen, daß ein frifcher, lebendiger Zug in die
fcholaftifche Logik eindringt, und daß auch die außer-
katholifche Forfchung in Einzelheiten berückfichtigt wird.
Aber vom Standpunkt der Forfchung aus wird man diefe
formale theologifche Logik und Erkenntnislehre energifch
ablehnen. Von den tiefen, gewaltigen Problemen der Logik
und Erkenntnistheorie unterer Tage nimmt fie keine Notiz,
es fei denn, daß fie einige extreme Behauptungen von
ihrem feften Standorte aus zu widerlegen unternimmt.

Beinahe amüfant lefen fich die gewundenen Erklärungen
über das Verhältnis von Theologie und Philofophie.
Anfangs foll die Rangftreitigkeit zwifchen beiden außer
acht bleiben. Am Schluß aber wird behauptet, ,daß der
Glaube eine lebendigere und vollere Auffaffung der ihnen
beiden gemeinfamcn Gegenftände gibt als die Philofophie'.
Mehr als einmal wird getagt, die Philofophie fei der Theologie
gegenüber durchaus felbftändig. Ja, eine Erfahrung
durch Offenbarung, die die Theologie als ein befonderes
Gebiet vorausfetzen muß, anzunehmen, muffe erft wiffen-
fchaftlich begründet und als möglich erwiefen werden,
eben durch die Philofophie. Andererfeits aber foll fich
der Philofoph(l) an einem lebensvollen Glauben orientieren
. Es wird darauf hingewiefen, daß der Philofoph
fich darin geübt (!) hat, die Fehlerquellen des Denkens
aufzufuchen und fcheinbare Widerfprüche zu löfen, und
fich darüber klar ift, wieviel vom Wirklichen fich der
methodifchen Erkenntnis entzieht, während die Glaubenswahrheiten
ihn völlig ,befriedigen'. Herzlich lachen aber
muß in der Tat jeder hiftorifch und philofophifch gebildete
Lefer, wenn er folgendes lieft: ,Durch Läuterung des
Herzens und Willens der ihm ganz hingegebenen Forfcher
mußte das (katholifche!) Chriftentum mittelbar auch das
Denken zu größerer innerer Freiheit befähigen. Und indem
es abfchließende Ziele aller Forfchung zeigte, erleichterte
es dem Philofophen wefentlich die Erreichung feines
Zwecks'. Ift das Ernft oder Hohn? Von diefer Denkweife
trennt den Philofophen eine unüberbrückbare Kluft.

Bremen. Bruno Jordan.

Rickert, Heinr.: Die Grenzen der naturwiffenfchaftlichen
Begriffsbildung. Eine log. Einleitg. in die hiftor. Wiffen-
fchaften. 2. neu bearb. Aufl. (XII, 644 S.) Lex. 8°.
Tübingen, J. C. B. Mohr 1913. M. 18—; geb. M. 20—

Maier, Heinr.: Das gelchichtliche Erkennen. Rede zur
Feier des Geburtstages Sr. Maj. des Kaifers u. Königs,
am27.Januar 1914 gehalten. (37 S.) Lex. 8°. Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht 1914. M. —80

Rickert ift es in der neuen Bearbeitung1 gelungen, den

beherrfchenden methodologifchen Gefichtspunkt feiner

1) Vgl. die Besprechung der I. Auflage von O. Ritfehl in ThLZ 1902
Sp. 430—34.

! Unterfuchung noch fchärfer heraus- und gegen Angriffe
ficherzuflellen: Eine Univerfalmethode zu erkenntnismä-
! ßiger Bewältigung der Wirklichkeit gibt es nicht; insbefon-
j dere ift die Meinung, die Wirklichkeit abbilden zu können,
j wie fie ift, eine Illufion; jede Erkenntnis der Wirklichkeit
I ift vielmehr Verarbeitung derfelben unter beftimmten
Gefichtspunkten. Entweder generalifiert man unter Ab-
ftraktion von allem Individuellen und fucht zu allgemeinen
Beziehungsweifen, Gefetzen der Wirklichkeit zu
kommen, und das ift das (Farakteriftifche der naturwiffenfchaftlichen
Methode, oder man individualifiert unter
Abftraktion von dem überall Identifchen und erhält die
fpezififch hiftorifche Methode. Nicht der Stoff, fondern
das Ziel entfeheidet über eine Methode, und deshalb
fchließen fich die beiden genannten aus; aber beide gelten
für den Gefamtbereich der Wirklichkeit; die wirklichen
Wiffenfchaften enthalten daher in verfchiedenem Maße ein
Gemifch von Sätzen verfchiedener logifcher Struktur.

Rs. Tendenz war urfprünglich, wie fchon der Titel
feines Werkes zeigt, eine polemifche, gegen den Einbruch
naturwiffenfchaftlicher Methoden in den Bereich des hiftori-
j fchen Denkens gerichtete. Das läßt fich von obigen Sätzen
nicht mehr fagen; doch ift eine gewiffe Einfeitigkeit in der
Auffaffung der Naturforfchung, als ob fie ausfchließlich
in die Richtung einer Laplacefchen Weltformel drängte,
zurückgeblieben. Gewiß wird in der heutigen Naturwiffen-
fchaft die gefamte empirifche Wirklichkeit einfchließlich
der pfychifchen mit Rückficht auf das Allgemeine (und
wertindifferent) gedacht, aber eine Überfpannung des rein
logifchen Intereffes auf Kotten des fachlichen ift es, wenn
R. meint, die Naturforfcher begnügten fich mit Gefetzen
und einer ,Gefetzmäßigkeit der Gefetze', ftatt der konkreten
Wirklichkeit (vergl. S. 62. 257). Im Gegenteil denkt
die heutige Forfchung felbft hinfichtlich der Idee von
Gefetzen ganz überwiegend empiriftifch2.

Eine Überwucherung der bloß logifchen Betrachtung
weift Heinrich Maier auch in Rs. Würdigung der hiftori-
fchen Methode nach:Rs. ,fubjektiviftifche' Methode der Erkenntnistheorie
mache dieGeltung derBegriffe ausfchließlich
vonder Artder Tätigkeit des erkennenden Subjekts abhängig
und drohe fo, die leitenden Gefichtspunkte zu bloß äußerlich
an den Stoff herangetragenen zu machen. Auf alle
Fälle wird man urteilen müffen, daß Sloff und logifche
Form (Methode) in fehr viel fetterer Beziehung flehen müffen,
| als R. annimmt. Dagegen vermag ich Ms. Polemik gegen
Rs. Verwendung des Wertbegriffs zur Kennzeichnung der
! logifchen Struktur des ,Hiftorifchen' nicht für durch-
i fchlagend zu erachten. Gewiß hat der Hiftoriker die
I objektiven Wirkungszufammenhänge zu fchildern, das
! Einzelne gemäß feiner ,dynamifchen Bedeutung für die
Struktur des Ganzen'. Aber jedes hiftorifche Ganze ift
eben nicht bloßer Kaufal-, fondern teleologifcher Zufam-
menhang, d. h. ein Ganzes von konkreten Werten.

Es lag R. gemäß der Entftehung feiner Unterfuchung
mehr an der Herausarbeitung der Unterfchiede als der
einigenden Merkmale beider Methoden, doch erhält man,
wenn man feine zerftreuten Bemerkungen darüber zufam-
menftellt, ein Bild, in dem nichts Wefentliches fehlen
dürfte: Jeder Stoff muß möglichft von beiden Seiten
bearbeitet werden. Begriffe des andern Methodenkreifes
müffen, wo fie Verwendung finden, nicht naiv, fondern
in wiffenfehaftlicher Scharfe aufgenommen werden. Ge-
meinfam ift beiden Methoden Kaufalität, anfehauliche
Dinglichkeit, Anfpruch auf allgemeine Geltung, nur daß bei
der einen Gefetzmäßigkeit, mathematifche Anfchauung
eines Kontinuums, unbedingt allgemeine Urteile, bei der
andern hiftorifche d. h. einmalige Kaufalität, empirifche
Anfchauung eines qualitativ Manniglaltigen, unbedingt

1) Vgl. z. B. des Königsberger Phyfikers Paul Volkmann fehr beachtenswerte
.Erkenntnistheoretifche Grundzüge der Naturwiffenfchaften'
(2. Aufl. 1910) S. 83 ,Gefetze und Hypothefen find unfere naturwiffenfchaftlichen
, induktiv gereiften Ideen'.