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Ausgabe:

1916 Nr. 12

Spalte:

275-277

Autor/Hrsg.:

Petrich, Hemann

Titel/Untertitel:

Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes 1916

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 12.

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aus dem Vollen fchöpfende Vf. anfchaulich zu fchildern fiedelung nach Berlin ins Bertholdfche Haus fallen die
und völlig objektiv zu beurteilen. Die Knappheit und jetzt nachgewiefenen verwandtfchaftlichen Beziehungen
Gedrängtheit, deren L. fich befleißigt, artet niemals in Bertholds zu Wittenberger Familien ins Gewicht, und
Trockenheit aus; fle paart fleh aufs glücklichfte mit der Feflftellung der Altersverhältniffe ergibt die Gewißheit,
Lebendigkeit der Erzählung und der Schärfe der Cha- daß es nur die Familie des jüngeren Andr. Berthold ge-
rakteriftik, die in gründlicher Quellenkenntnis und ge- wefen fein kann, bei der er Informator der Kinder wurde,
fchichtlicher Geftaltungskraft ihren Grund haben. Der Für die Lübbener Jahre konnten Affelmanns Forfchungen
Laie wird durch den zuverläffigen Führer wohl unter- j (Reichsbote 1912) manche Vervollftändigung des Bildes
richtet und ftets gefeffelt; ebenfo kommt der Kundige auf i bieten. Doch die wichtigfte Vervollftändigung gegenüber
feine Rechnung. Das Gefamturteil über Zwingli (57—64), j der Arbeit von 1907 liegt in den Abfchnitten: Der
die Schilderung des religiöfen und theologifchen Charak- | Dichter und feine Quellen, 191—230, feine Theologie und
ters Calvins (105—112) und der Wirkungen, die von ihm Frömmigkeit, 230—266, der Dichter und feine Kunft,
ausgingen (137—144), find Kabinetftücke hiftorifcher Dar- 1 267—304. Was 1907 auf 18 Seiten behandelt war, das
ftellung. Die Bewunderung, die der Vf. feinen Helden ift jetzt ein Hauptteil des Buches geworden, außerordent-
zollt, hat ihn nicht dazu verleitet, Heiligenbilder auf Gold- 1 lieh reich an Einzelunterfuchungen. Die Imitation und
grund zu zeichnen; Schatten, Schranken und Mängel j Variation als Kunftform, die Bedeutung der Erbauungswerden
niemals verhehlt oder vertufcht (Vgl. über Zwingli literatur für die geiftliche Dichtung, die Nachdichtung bib-
12. 23. 45—46. 47. 63—64; über Calvin 101. HO. III. 121. j licher Texte, die Umdichtung älterer deutfeher Lieder
126. 127. 132. 135. 142); anderfeits erfährt das traditio- und lateinifcher Vorlagen. Dann die meift unbewußte
nelle, durch mancherlei Vorurteile entftellte Bild des J Verwertung von Wendungen und Gedanken und Vers-

Genfer Reformators wertvolle Korrekturen (92—93. 104.
136. 137). Befonderes hervorzuheben und zur Diskuffion
zu ftellen, hat keinen Zweck. Daß eine fo reichhaltige, ein
gewaltiges Material bearbeitende und zufammenfaffende
Schrift zu Ausftellungen im Einzelnen Veranlaffung gibt,
verlieht fich von felbft; dadurch wird aber der Wert der
Arbeit felbft in keiner Weife beeinträchtigt. Die Schrift
ift der Univerfität Genf als Dank für die dem Vf. am
10. Juli 1909 verliehene Doktorwürde gewidmet.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

P et rieh, D. Hermann: Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur
Gefchichte des deutfehen Geiftes. Auf Grund neuer
Forfchgn. u. Funde. (XIV, 360 S. m. 1 Bildnis.) gr. 8°.
Gütersloh, C. Bertelsmann 1914. M. 6—; geb. M. 7—

Aeilen, Eugen: Quellen und Stil der Lieder Paul Gerhardts.

Ein Beitrag zur Gefchichte der religiöfen Lyrik des
17. Jahrh. (VIII, 105 S.) gr. 8° Bern, A. Francke 1912.

M. 2,40

Schon als Petrich 1907 zum Jubiläum P. Gerhardts
feine Biographie zum erften Mal in befcheidenerem Umfang
(240 S. in viel kleinerem Format) ausgehen ließ,
überragte fie alle anderen Lebensbilder des Dichters
durch ihre ausgedehnte Erforfchung der Umwelt, in der
er lebte, und brachte durch umfaffende Mufterung der
zeitgenöffifchen Schriften auch noch bisher unbeachtet
gebliebene Gedichte — Gelegenheitsdichtungen — glücklich
ans Licht. Er hat feitdem feine Gerhardt-Forfchungen
raftlos fortgefetzt und die Aufgabe, des Dichters Leben
und Schaffen in die äußere und in die Geifteswelt des
17. Jahrh. hineinzuzeichnen, immer umfaffender in Angriff
genommen. Und unzweifelhaft mit fchönem Erfolg.

Wenn er z. B. im Bildungsgang des Fürftenfcbülers in I Individualismus. Der Abfchnitt, der der Kunft des

teilen älterer Dichter und Schriftfteller, was P. ,das
dichterifche Gedächtnis' nennt und mit vielen Beifpielen
belegt; das völlige Fehlen von Reminifzenzen an das
klaffifche Altertum, das find die Themen, die das Kapitel
von feinen Quellen behandelt. Daß P. G. keine felb-
ftändige Theologie entwickelt, fondern Konkordienformel-
Theologe ift, das ift klar. Aber Auswahl, Anordnung und
Bedeutung diefer religiöfen Gedankenwelt in feinen geift-
lichen Liedern Hellt P. dar, um den inneren Fortfehritt zu betonen
, den feine Dichtung in der Gefchichte des Liedes
bedeutet. Daß er, von feltenen Ausnahmen abgefehen,
wo auch bei ihm noch das Dogma unaufgelöft als Lehre
zutage tritt, es reftlos in Erlebnis, Empfindung und An-
fchauungumzufetzenvermochte, beweift feinendichterifchen
Beruf. Daß er daneben in feinen Profafcbriftftücken als
der Mann der dogmatifchen Formel dafteht, zeigt, wie
gefondert im 17. Jahrh. die verfchiedenen Seelenkräfte
noch ihren Weg gehen konnten. Die fpezififch der Bern-
hardfehen Devotion und der Arndtfchen Myftik ange-
hörigen Gedanken und Stimmungen find bei ihm nur
fremdes Gut, daher nur in feinen Umdichtungen — u.
auch da nur abgefchwächt —, nicht in feinen felb-
ständigen Dichtungen anzutreffen. In der Darfteilung des
Gerhardtfchen Frömmigkeitstypus vermißt P. mit Recht
die Aktivität. Die Laften des Lebens werden in Geduld
auf die Schultern genommen, Gott fchickt fie ja und hilft
fie tragen; es fehlt aber etwas von fittlicher Lebensenergie
. (Hierin zeigt fich bei ihm, wie ich ausfprechen
möchte, ein fchon beim älteren Luther in feinem häufigen
refignierten ,Mitte vadere ficut vadit' bemerkbarer Zug).
Der energifche Blick in die Weite, die Empfindung einer
aktiven Aufgabe an der Welt fehlt. Dafür kleinbürgerliche
Zufriedenheit. Das religiöfe Leben ift Privatbefitz,
nicht Gemeinbefitz. So findet die Kirche in feinen Liedern
keinen Platz; aber feine Lieder bleiben edelfte Blüte des

Grimma die Anleitung zur Imitatio in Profa und Poefie Dichters gewidmet ift, macht treffend darauf aufmerkfam,
heraushebt, fo fällt damit Licht auch auf einen Teil der | daß er außer Zufammenhang fleht mit den Dichter-
dichterifchen Verfuche P. G.s. Daß eins der Lehrbücher j fchulen und Gefellfchaften feiner Zeit; er fleht daher als
der Schule die 7 Salve enthielt, die G. fpäter in deutfehe Dichter durchaus auf eigenen Füßen. Seine Begabung
Verfe umfetzte, lehrt uns, wie früh diefe Lieder ihm be- | ift ausfchließlich die des Lyrikers, Epifches liegt ihm
kannt wurden (S. 32). Für die Wittenberger fo lang > nicht; durch fein Naturgefühl ragt er weit über die Zeitausgedehnten
Studienjahre ift die Ermittlung von Be- ' genoffen hinaus. Er gibt die finnlichen Eindrücke der
deutung, daß er dort Informator im Haufe des Archi- ' Naturvorgänge nicht als Imitator der Alten, fondern
diakonus Fleifchhauer wurde; da deffen Kinder 1627 bis ! von dem ihm eigenen Standpunkte, dem ,des land-
1635 geboren wurden, wird es um die Mitte der dreißiger ; wirtfchaftlich intereffierten Kleinftädters' wieder. Alle
Jahre gefchehen fein. Für G.s Lied: ,111 Ephraem nicht Ausdrucksmittel feiner dichterifchen Sprache werden einmeine
Krön' Hellt P. feft, daß es Predigten des Dia- gehend behandelt, hier in häufigen Berührungen mit der
konus Frimel zur Grundlage hat, die auf die Witten- Arbeit Aellens (f. unten). In einer Zeit der Maßlofigkeiten
berger Feuersbrunft vom 3. Oktober 1640 Bezug nehmen, in der Dichtung und daher der unwahren Empfindungen
Aus vielem hebe ich ferner hervor feine Bemerkungen zeichnet ihn ein fchönes Ebenmaß nach Inhalt und Form
über das Aufkommen und die Ausbreitung des deutfehen aus. Es gibt keine Stelle bei ihm, wo wir fprechen
Gelegenheitsgedichtes im 17. Jahrh. S. 77. Für die Über- i müffen: fo kann er unmöglich empfunden haben, und