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Ausgabe:

1916 Nr. 12

Spalte:

270-273

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf von

Titel/Untertitel:

Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten. 3., neu durchgearb. u. verm. Aufl 1916

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 12.

270

arbeitung des Markusevangeliums ausging: fie entwanden
mit ihr ihren Gegnern den Ruhm, die Zeugen der Auf-
erftehung unter fich zu haben (fo fiel die Gefchichte der
erften'Erfcheinungen); fie nahmen ihnen auch den andern
Ruhmestitel, auf dem Arbeitsfelde des Meifters zu fitzen
(fo verfetzte man Jefus an den See Gennezareth).

Dem Ausbau diefer Hypothefen dient der Hauptteil
des Buches, der einen Kommentar zu den in Betracht
kommenden literarifchen Dokumenten liefert. Diefe Dokumente
find: der von den Zutaten der Bearbeitung gereinigte
Markus; die Ergänzung der Markus-Legenden
durch die Jakobuspartei, erhalten im Lukasevangelium;
die Ur-Apoftelgefchichte des Markus (vgl. Erbts Schrift
,Von Jerufalem' nach Rom'), welche die Jakobuspartei bearbeitet
und Lukas redigiert hat; die Urfchrift der Jo-
hannesapokalypfe, die aus den Kreifen der Täuferjünger
flammt, endlich die Spruchfammlung, deren Grundftock
nach Jefu Weifung zufammengeftellt ift.

In diefem Kommentar wie in dem abfchließenden
letzten Kapitel fleht Neues neben Altem, Thefe neben
Einfall, Unbeweisbares neben Diskutablem. Z. B. trägt
E. unter Berufung auf Hugo Winckler und einen von
diefem erzählten Fall aus der neueften türkifchen Gefchichte
eine Erklärung von II. Kor. 11,32 vor, die mir
fehr wahrfcheinlich ift, die übrigens in ähnlicher Form
von Ed. Schwartz und Joh. Weiß (vgl. de (Ten ,Urchriften-
tum' S. 145 A. 1) vertreten worden ift. Aber daneben
fleht die Behauptung von Jakobus als Mitglied der Täufer-
fekte, die mindeftens nicht zu beweifen ift. Petrus wird
zum Haupt der ,freier denkenden'Jünger gemacht; Gal. 2
bezeugt das Gegenteil. Die ,beicheidenen Verhältniffe',
unter denen Jefus gelebt haben foll, find eine Erfindung
der Legende, aber was Markus über die ,Reifen Jefu' berichtet
, ,muß gute Überlieferung fein'. Im Kommentar
bemüht fich der Verf. auf Grund feiner genugfam bekannten
Überzeugungen Schritt für Schritt aftralmytho-
logilche Motive aufzuzeigen; ich vermag über diefes Bemühen
heute nicht anders zu urteilen als wie ich es in
der Anzeige von Erbts .Markusevangeliunv (Jahrgang 1912,
Sp. 359 f.) getan habe. Die Bemerkungen, die der Verf.
im Vorwort feines neuen Buches wahrfcheinlich gegen
jene Anzeige richtet, laffe ich unberückfichtigt, da E.
weder diefe Zeitfchrift noch meinen Namen genannt hat;
verdeckte Angriffe verdienen keine Antwort.

Zum Schluß hebe ich diejenige grundfätzliche Meinung
des Verf. hervor, von der m. E. alles übrige abhängt
. Es handelt fich um die foziale Schicht, der das
Evange'ium entflammt, und die literarifche Höhenlage,
die diefer Herkunft entfpricht. Für E. ift der ,illiterate
Prophet', als den man fich Jefus vorftellt, eine Legendenfigur
ebenfo wie der .ungebildete' Prediger in der Wüfte.
Jefus wie Johannes der Täufer (landen in Fühlung mit
der Bildung ihrer Zeit; beide fachten ihre, übrigens von
einander fehr verfchiedenen Pläne mit den Mitteln ihrer
Zeit zu verwirklichen; zu diefen Mitteln gehört planmäßige
Organifation und literarifche Wirkung. Die literarifchen
Dokumente aber, die direkt oder indirekt auf
Jefus zurückgehen, find keineswegs .gewachfen', fondern
abfichtsvoll gefchaffen. Das gilt vor allem auch von den
Jefus-.Legenden'. .Der zu Hilfe gerufene „Mund der Leute"
ift unproduktiv. Eine Volksdichtung exiftiert nur in der
Phantafie des Schreibtifchmenfchen. Wenn einer aus dem
Volke dichtet, fo fucht er in jedem Fall ängftlich Anlehnung
an das Mufter der Gebildeten: die Bildung fchafft
die Ausdrucksmöglichkeiten, die Unbildung ift fteril.'

Diefe grundfätzliche Auffaffung gilt es zu beweifen,
wenn die aus ihr gezogenen Folgerungen glaublich er-
fcheinen follen. Zum minderten follte der Verf. verfuchen,
mögliche Einwendungen zu entkräften. Gegen feine Meinung
, fpricht der literarifche Charakter der fynoptifchen
Evangelien, gegen ihn fpricht die Entwicklung, die von
erften chriftlichen Niederfchriften bis zu wirklichen Büchern,
bis zu den Apologeten, Irenaus und Clemens führt. Von

folchen Bedenken fcheint der Verfaffer nichts wiffen zu
wollen; aber es hätte der Lesbarkeit feines Buches und
der Klarheit feiner Beweisführung ficherlich nur genützt,
wenn er fich dazu entfchloffen hätte, die Pofition des
Gegners methodifch anzugreifen.

Nach des Verlegers Meinung, wie fie auf der Reklamebinde
zum Ausdruck kommt, bedeutet das Buch
,eine Umwälzung unferer Anfchauungen von Jefus und
der Entftehung des Chriftentums, einen entfeheidenden
Vorftoß in ein bisher dunkles Gebiet der Menfchheits-
gefchichte'.

Heidelberg. Martin Dibelius.

Harnack, Adolf v.: Die Million und Ausbreitung des Chriftentums
in den erften drei Jahrhunderten. 3. neu durch-
gearb. u. verm. Aufl. m. 11 Karten. 2 Bde. gr. 8°.
Leipzig, J. C. Hinrichs 1915. M. 15—;

geb. in Leinen M. 18—; in 1 Halbfaffianbd. M. 20—

1. Bd Die Mitten in Wort und Tat (XVI, 483 S.) — 2. Bd.
Die Verbreitung. (3S7 S.)

Ad. von Harnacks Buch über die altchriftliche
Miffionsgefchichte hat längft feinen feften Platz unter den
bedeutfamften Werken der theologifchen Literatur unferer
Zeit. Es ift allen Lefern diefer Zeitfchrift bekannt und
bedarf keiner neuen Empfehlung. Die jetzt vorliegende
dritte Auflage (die zweite wurde von H. Holtzmann,
Jahrg. 1906 Sp. 379 f. befprochen) ift, wie der Verfaffer
im Vorwort bemerkt, kurz vor Ausbruch des Krieges in
Bearbeitung genommen worden. Niemand wird in folcher
Zeit von dem vielbefchäftigten Gelehrten ein völlig
neues Buch erwarten können. Und doch ftellt auch
diefe neue Auflage eine erftaunliche wiffenfehaftliche
Leiftung dar. Das Werk ift um neun Bogen ftärker geworden
, fodaß zwei ftattliche Bände vorliegen, von denen
jeder fo ftark ift, wie die erfte Auflage des Werks. Die
Anlage des Buchs ift diefelbe geblieben. Es ift aber
nicht mehr in Antiqua fondern mit deutfehen Typen
gedruckt. Umfangreiche Ergänzungen bedeuten überwiegend
die Einarbeitung eigener Arbeiten des Verfaffers
in diefen Zufammenhang oder zufammenfaffende Betrachtungen
und Urteile. Dazu kommt aber eine Fülle von
Einzelmaterial, das teils im Text, teils in den Anmerkungen
eingefügt ift. Alle wichtigeren literarifchen Neu-
erfcheinungen, auch einzelne Auflatze, find notiert; die
Belegftellen find faft überall vermehrt; insbefondere find
aus den Schriften des Tertullian, des Origenes und des
Arnobius, um nur einige zu nennen, neue, oft umfangreiche
Auszüge in den Anmerkungen mitgeteilt. Der
Text ift faft vollftändig von fremdfprachigen Zitaten entladet
. War das Zitat unentbehrlich, fo ift es jetzt deutfeh
wiedergegeben, die Anmerkungen geben die lateinifchen
und griechifchen Belegftellen. Kein Kapitel ift ganz ohne
Ergänzung oder Verbefferung geblieben. Oft erfährt
man in kurzen Zufätzen eine Andernng der H.'fchen Beurteilung
auch in intereffanten Fragen. Es ift unmöglich,
eine vollftändige Überficht über diefe Veränderungen
hier zu geben. Immerhin glaube ich den Lefern diefer
Zeitfchrift einen Dienft zu erweifen, wenn ich die wichtigeren
Zufätze und Änderungen hier notiere:

Gleich die beiden erften Seiten find neu: Fünf Antworten
werden auf die Frage gegeben, um was es fich
in dem Prozeß gehandelt hat, der aus der heidnifchen
Welt eine chriftliche machte: i. Die Fünbürgerung des
Monotheismus, 2. die an ewigen Gütern orientierte
Ethik (Verfittlichung), 3. das ewig-lebendige Fortleben
des erlebten Gottmenfchen Jefus Chriftus für alle Menfchen
(Chriftusverehrung). Diefe Gefichtspunkte geben die erften
drei, religiös-orientierten Antworten. Daneben gibt es
zwei nur hiftorifche: 4. die Entwicklung der jüdifcheti
Volksreligion zur fiegreichen Weltreligion: und 5. die Vollendung
und Objektivierung des orientalifch-griechifchen